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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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"Freideutsche Jugendkultur"

gegen diese Anpöbelung ihrer Lehrer, die sich anfangs bemerkbar machte, zeigen
Dr. Wyneken und die Redaktion, daß es Pflicht ist, solche vermeintlichen Ver¬
einzelungen ans Licht zu ziehen und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen,
daß es sich eben nicht um seltene Ausnahmen handelt; keine Dummheit und
Brutalität, die sich in den Klassenräumen seitens der Lehrer zuträge, dürfe vor
öffentlicher Blamage sicher sein. So wird das gesunde, edlere Empfinden der
Jugend durch den "Anfang" und seine Wortführer systematisch abgestumpft, in
die Irre geleitet und das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern
vergiftet. Und solche "Revolutionierung" innerhalb der ganz auf Glauben
und Vertrauen eingestellten Erziehungsarbeit nennt Wyneken eine "ganz und
gar positiv gerichtete Arbeit", aus der eine neue und freiere Kultur erwachsen
soll! Solche anonyme Denunziation von Vorfällen, angeblich "meist heiterer
Art", deutet er als "ein befreiendes Lachen", durch das sich der Betroffene
über Erbitterung und Empörung hinwegsetze. "Im Anfang schimpft die Jugend
nirgends, höchstens lacht sie mal" (I!). Und rechtfertigt den ihm vorgeworfenen
Radikalismus mit der Phrase, daß auf diesem Gebiet, wo es sich um die
Wahrheit, um eine qualitative Neuschöpfung und eine Durchgeistigung der
Schule handle, jeder Mangel an Radikalismus Gewissenlosigkeit, jede Mittel¬
mäßigkeit Verrat sei!,

Was aber wird in Wirklichkeit die Frucht solcher Drachensaat sein?
Nicht Selbsterziehung zu größerem Verantwortlichkeitsgefühl, nicht die Grund¬
legung einer sittlichen Wiedergeburt oder die Heranbildung einer "adeligen"
Jugend, für die Wyneken schwärmt, sondern ein brüchiger Charakter, eine Ab-
schüttelung aller Gewissenhaftigkeit, und Verantwortlichkeit, eine Erziehung zu
Feigheit, Rachsucht, Hinterhältigkeit. Überhebung und Gefühlsverrohung seitens
derer, die unter dem Schutze der Anonymität das Material zu den Schul- und
Lehrerkritiken liefern und aus dem Hinterhalt denunzieren. "Verkommenheit" hat
die Rheinisch-Westfälische Zeitung dieses von der Jugend und ihren Führern
geübte Verfahren genannt, und sie bittet alle Väter, mit mittelalterlicher Strenge
die Keime solcher Verkommenheit bei ihren Kindern auszurotten, wo sie sich
etwa eingenistet haben. Auch Geheimrat Prof. Dr. Cauer und der Privat¬
dozent Dr. Kabitz haben auf der Ersten studentisch-pädagogischen Tagung zu
Breslau ein kräftiges Wörtlein darüber gesprochen, das Wyneken zu entkräften
noch nicht gelungen ist.

Und die Reife des Urteils? Sie leidet an einer bedenklichen Unklarheit
äußerer und innerer Art. Denn sonst müßte sich doch die Einsicht erschließen,
daß die "Kluft" zwischen den Jungen und den Erwachsenen nicht eine organische
und prinzipielle, sondern eine fließende und konstruierte ist, da die jeweiligen
Jungen auch einmal alt werden und die Alten jung waren. Und ferner
müßte sich die Konsequenz aufdrängen, daß man in einer solch verrotteten
Schule, in einem so grundverkehrten "System" unmöglich länger bleiben und
deren Arbeit sich gefallen lassen könne, da man sie doch als Ganzes grünt-


„Freideutsche Jugendkultur"

gegen diese Anpöbelung ihrer Lehrer, die sich anfangs bemerkbar machte, zeigen
Dr. Wyneken und die Redaktion, daß es Pflicht ist, solche vermeintlichen Ver¬
einzelungen ans Licht zu ziehen und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen,
daß es sich eben nicht um seltene Ausnahmen handelt; keine Dummheit und
Brutalität, die sich in den Klassenräumen seitens der Lehrer zuträge, dürfe vor
öffentlicher Blamage sicher sein. So wird das gesunde, edlere Empfinden der
Jugend durch den „Anfang" und seine Wortführer systematisch abgestumpft, in
die Irre geleitet und das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern
vergiftet. Und solche „Revolutionierung" innerhalb der ganz auf Glauben
und Vertrauen eingestellten Erziehungsarbeit nennt Wyneken eine „ganz und
gar positiv gerichtete Arbeit", aus der eine neue und freiere Kultur erwachsen
soll! Solche anonyme Denunziation von Vorfällen, angeblich „meist heiterer
Art", deutet er als „ein befreiendes Lachen", durch das sich der Betroffene
über Erbitterung und Empörung hinwegsetze. „Im Anfang schimpft die Jugend
nirgends, höchstens lacht sie mal" (I!). Und rechtfertigt den ihm vorgeworfenen
Radikalismus mit der Phrase, daß auf diesem Gebiet, wo es sich um die
Wahrheit, um eine qualitative Neuschöpfung und eine Durchgeistigung der
Schule handle, jeder Mangel an Radikalismus Gewissenlosigkeit, jede Mittel¬
mäßigkeit Verrat sei!,

Was aber wird in Wirklichkeit die Frucht solcher Drachensaat sein?
Nicht Selbsterziehung zu größerem Verantwortlichkeitsgefühl, nicht die Grund¬
legung einer sittlichen Wiedergeburt oder die Heranbildung einer „adeligen"
Jugend, für die Wyneken schwärmt, sondern ein brüchiger Charakter, eine Ab-
schüttelung aller Gewissenhaftigkeit, und Verantwortlichkeit, eine Erziehung zu
Feigheit, Rachsucht, Hinterhältigkeit. Überhebung und Gefühlsverrohung seitens
derer, die unter dem Schutze der Anonymität das Material zu den Schul- und
Lehrerkritiken liefern und aus dem Hinterhalt denunzieren. „Verkommenheit" hat
die Rheinisch-Westfälische Zeitung dieses von der Jugend und ihren Führern
geübte Verfahren genannt, und sie bittet alle Väter, mit mittelalterlicher Strenge
die Keime solcher Verkommenheit bei ihren Kindern auszurotten, wo sie sich
etwa eingenistet haben. Auch Geheimrat Prof. Dr. Cauer und der Privat¬
dozent Dr. Kabitz haben auf der Ersten studentisch-pädagogischen Tagung zu
Breslau ein kräftiges Wörtlein darüber gesprochen, das Wyneken zu entkräften
noch nicht gelungen ist.

Und die Reife des Urteils? Sie leidet an einer bedenklichen Unklarheit
äußerer und innerer Art. Denn sonst müßte sich doch die Einsicht erschließen,
daß die „Kluft" zwischen den Jungen und den Erwachsenen nicht eine organische
und prinzipielle, sondern eine fließende und konstruierte ist, da die jeweiligen
Jungen auch einmal alt werden und die Alten jung waren. Und ferner
müßte sich die Konsequenz aufdrängen, daß man in einer solch verrotteten
Schule, in einem so grundverkehrten „System" unmöglich länger bleiben und
deren Arbeit sich gefallen lassen könne, da man sie doch als Ganzes grünt-


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[0414] „Freideutsche Jugendkultur" gegen diese Anpöbelung ihrer Lehrer, die sich anfangs bemerkbar machte, zeigen Dr. Wyneken und die Redaktion, daß es Pflicht ist, solche vermeintlichen Ver¬ einzelungen ans Licht zu ziehen und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß es sich eben nicht um seltene Ausnahmen handelt; keine Dummheit und Brutalität, die sich in den Klassenräumen seitens der Lehrer zuträge, dürfe vor öffentlicher Blamage sicher sein. So wird das gesunde, edlere Empfinden der Jugend durch den „Anfang" und seine Wortführer systematisch abgestumpft, in die Irre geleitet und das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern vergiftet. Und solche „Revolutionierung" innerhalb der ganz auf Glauben und Vertrauen eingestellten Erziehungsarbeit nennt Wyneken eine „ganz und gar positiv gerichtete Arbeit", aus der eine neue und freiere Kultur erwachsen soll! Solche anonyme Denunziation von Vorfällen, angeblich „meist heiterer Art", deutet er als „ein befreiendes Lachen", durch das sich der Betroffene über Erbitterung und Empörung hinwegsetze. „Im Anfang schimpft die Jugend nirgends, höchstens lacht sie mal" (I!). Und rechtfertigt den ihm vorgeworfenen Radikalismus mit der Phrase, daß auf diesem Gebiet, wo es sich um die Wahrheit, um eine qualitative Neuschöpfung und eine Durchgeistigung der Schule handle, jeder Mangel an Radikalismus Gewissenlosigkeit, jede Mittel¬ mäßigkeit Verrat sei!, Was aber wird in Wirklichkeit die Frucht solcher Drachensaat sein? Nicht Selbsterziehung zu größerem Verantwortlichkeitsgefühl, nicht die Grund¬ legung einer sittlichen Wiedergeburt oder die Heranbildung einer „adeligen" Jugend, für die Wyneken schwärmt, sondern ein brüchiger Charakter, eine Ab- schüttelung aller Gewissenhaftigkeit, und Verantwortlichkeit, eine Erziehung zu Feigheit, Rachsucht, Hinterhältigkeit. Überhebung und Gefühlsverrohung seitens derer, die unter dem Schutze der Anonymität das Material zu den Schul- und Lehrerkritiken liefern und aus dem Hinterhalt denunzieren. „Verkommenheit" hat die Rheinisch-Westfälische Zeitung dieses von der Jugend und ihren Führern geübte Verfahren genannt, und sie bittet alle Väter, mit mittelalterlicher Strenge die Keime solcher Verkommenheit bei ihren Kindern auszurotten, wo sie sich etwa eingenistet haben. Auch Geheimrat Prof. Dr. Cauer und der Privat¬ dozent Dr. Kabitz haben auf der Ersten studentisch-pädagogischen Tagung zu Breslau ein kräftiges Wörtlein darüber gesprochen, das Wyneken zu entkräften noch nicht gelungen ist. Und die Reife des Urteils? Sie leidet an einer bedenklichen Unklarheit äußerer und innerer Art. Denn sonst müßte sich doch die Einsicht erschließen, daß die „Kluft" zwischen den Jungen und den Erwachsenen nicht eine organische und prinzipielle, sondern eine fließende und konstruierte ist, da die jeweiligen Jungen auch einmal alt werden und die Alten jung waren. Und ferner müßte sich die Konsequenz aufdrängen, daß man in einer solch verrotteten Schule, in einem so grundverkehrten „System" unmöglich länger bleiben und deren Arbeit sich gefallen lassen könne, da man sie doch als Ganzes grünt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/414>, abgerufen am 25.07.2024.