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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Das lvablproblem

sozialdemokratischen Abgeordneten Ausdruck geschafft und noch jüngst im Schoße
der llmsturzpartei selbst die leidenschaftlichsten Debatten über die Durchführbarkeit
eines zur Erzwingung der preußischen Wahlreform zu organisierenden Massen¬
streiks gezeitigt hat.

Ob nun diese Wechselwirkung mit ihren Begleiterscheinungen sowohl im
Gesamtorganismus der Parteien wie besonders an den zuständigen Regierungs¬
stellen bereits so stark gewertet wird, wie sie es als Hemmung staatserhaltender
und Förderung staatsfeindlicher Kräfte zweifellos verdient, dürfte nach den bis¬
herigen Erfahrungen für den Augenblick billig bezweifelt werden. Sicherlich
aber wird diese Wertung durch die Wucht der sie bestimmenden Tatsachen ganz
von selbst mehr und mehr an Raum und damit an Bedeutung gewinnen und
so schließlich doch zum bestimmenden Faktor der künftigen Wahlreform in Preußen
werden. Der Wichtigkeit des Gegenstandes möchte es daher durchaus entsprechen,
unter diesem Gesichtspunkte den Verlauf und das Scheitern des letzten preußischen
Reformversuchs nachzuprüfen und damit zugleich eine Erörterung des eigentlichen
"Wahlproblems" zu verbinden, wie es nicht nur für Preußen-Deutschland,
sondern am Ende für alle konstitutionell regierten Staaten in gleicher Weise
besteht und mit Recht schließliche Lösung beansprucht.

Das bis jetzt in Kraft gebliebene preußische Wahlgesetz verdankt dem
Reaktionsjahre 1849 seine Entstehung, jener Zeit, wo die Zuckungen des
Jahres 1848 überstanden, der Taumel deutschnationaler Begeisterung bereits
verflogen war. Die im Frühling des Revolutionsjahres aus allgemeinen,
gleichen Wahlen hervorgegangene preußische Nationalversammlung hatte während
dieses Jahres völlig versagt, da die Mehrzahl ihrer Abgeordneten, als über¬
zeugte Demokraten und zudem beeinflußt von dem hauptstädtischen Pöbel, auf
ein Zusammenarbeiten mit der Regierung von vornherein verzichtet hatte; auch
die Verlegung der Versammlung nach Brandenburg hatte keine Wendung herbei¬
geführt -- was Wunder, daß die Regierung, die das unter diesen Umständen
durchaus verständliche Erstarken der konservativen Elemente des Landes mit
Aufmerksamkeit verfolgte, noch im Dezember desselben Jahres 1848 kurzen
Prozeß machte und dieses Parlament auflöste. Die vom Könige verheißene
Verfassung aber ward dann im Laufe des folgenden Jahres nach mehrfachen
Entwürfen und Abänderungen wirklich erlassen, und sie trägt naturgemäß die
Signatur dieses Jahres, in dessen Frühsommer die preußischen Fahnen siegreich
über den zusammengebrochenen letzten Trümmern der Revolution in Sachsen
und Baden flatterten: in zwei Kammern, dem Herrenhaus und dem Abgeordneten¬
haus, sollte die Mitarbeit des preußischen Volkes an der Regierung vor sich
gehen; von ihnen bedürfte das Herrenhaus, das im wesentlichen aus von der
Krone berufenen Vertretern gebildet wurde, in seiner Zusammensetzung keiner
Kautelen; wohl aber das Abgeordnetenhaus, dessen Mitglieder aus den Wahlen
des Gesamtvolkes hervorgehen sollten. Die bösen Erfahrungen, die man mit
jener ersten aus allgemeinen, gleichen Wahlen hervorgegangenen preußischen


Das lvablproblem

sozialdemokratischen Abgeordneten Ausdruck geschafft und noch jüngst im Schoße
der llmsturzpartei selbst die leidenschaftlichsten Debatten über die Durchführbarkeit
eines zur Erzwingung der preußischen Wahlreform zu organisierenden Massen¬
streiks gezeitigt hat.

Ob nun diese Wechselwirkung mit ihren Begleiterscheinungen sowohl im
Gesamtorganismus der Parteien wie besonders an den zuständigen Regierungs¬
stellen bereits so stark gewertet wird, wie sie es als Hemmung staatserhaltender
und Förderung staatsfeindlicher Kräfte zweifellos verdient, dürfte nach den bis¬
herigen Erfahrungen für den Augenblick billig bezweifelt werden. Sicherlich
aber wird diese Wertung durch die Wucht der sie bestimmenden Tatsachen ganz
von selbst mehr und mehr an Raum und damit an Bedeutung gewinnen und
so schließlich doch zum bestimmenden Faktor der künftigen Wahlreform in Preußen
werden. Der Wichtigkeit des Gegenstandes möchte es daher durchaus entsprechen,
unter diesem Gesichtspunkte den Verlauf und das Scheitern des letzten preußischen
Reformversuchs nachzuprüfen und damit zugleich eine Erörterung des eigentlichen
„Wahlproblems" zu verbinden, wie es nicht nur für Preußen-Deutschland,
sondern am Ende für alle konstitutionell regierten Staaten in gleicher Weise
besteht und mit Recht schließliche Lösung beansprucht.

Das bis jetzt in Kraft gebliebene preußische Wahlgesetz verdankt dem
Reaktionsjahre 1849 seine Entstehung, jener Zeit, wo die Zuckungen des
Jahres 1848 überstanden, der Taumel deutschnationaler Begeisterung bereits
verflogen war. Die im Frühling des Revolutionsjahres aus allgemeinen,
gleichen Wahlen hervorgegangene preußische Nationalversammlung hatte während
dieses Jahres völlig versagt, da die Mehrzahl ihrer Abgeordneten, als über¬
zeugte Demokraten und zudem beeinflußt von dem hauptstädtischen Pöbel, auf
ein Zusammenarbeiten mit der Regierung von vornherein verzichtet hatte; auch
die Verlegung der Versammlung nach Brandenburg hatte keine Wendung herbei¬
geführt — was Wunder, daß die Regierung, die das unter diesen Umständen
durchaus verständliche Erstarken der konservativen Elemente des Landes mit
Aufmerksamkeit verfolgte, noch im Dezember desselben Jahres 1848 kurzen
Prozeß machte und dieses Parlament auflöste. Die vom Könige verheißene
Verfassung aber ward dann im Laufe des folgenden Jahres nach mehrfachen
Entwürfen und Abänderungen wirklich erlassen, und sie trägt naturgemäß die
Signatur dieses Jahres, in dessen Frühsommer die preußischen Fahnen siegreich
über den zusammengebrochenen letzten Trümmern der Revolution in Sachsen
und Baden flatterten: in zwei Kammern, dem Herrenhaus und dem Abgeordneten¬
haus, sollte die Mitarbeit des preußischen Volkes an der Regierung vor sich
gehen; von ihnen bedürfte das Herrenhaus, das im wesentlichen aus von der
Krone berufenen Vertretern gebildet wurde, in seiner Zusammensetzung keiner
Kautelen; wohl aber das Abgeordnetenhaus, dessen Mitglieder aus den Wahlen
des Gesamtvolkes hervorgehen sollten. Die bösen Erfahrungen, die man mit
jener ersten aus allgemeinen, gleichen Wahlen hervorgegangenen preußischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/398>, abgerufen am 21.06.2024.