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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliche-

[Beginn Spaltensatz]

zum Teil mordbrennerische Blätter ausüben,
und dem weiter reichenden Einfluß lang¬
bestehender Zeitungen. Der wirklich geistig
hochstehende und sich verantwortlich fühlende
Teil der chinesischen Presse ist bemüht, beim
Volke Interesse an der Politik zu wecken und
führend in der öffentlichen Meinung über so¬
ziale und sittliche Fragen voranzugehen. Das
Opiumlaster, das Einschnüren der Füße, die
Sklaverei der Frau, das Konlubinat und
manche andere gesellschaftliche übelstände
werden von der chinesischen Qualitätspresse
fast einstimmig verurteilt. Sie geißelt auch
in scharfen Ausdrücken die Bestechlichkeit und
Unfähigkeit der Beamten. Volkstümliche Er¬
ziehung und Reformen auf dem Gebiete des
öffentlichen Gesundheitswesens, die Anpassung
an europäische Gebräuche kaufmännischen,
industriellen und finanziellen Charakters,
Rede- und Pressefreiheit, Freiheit und Unan¬
tastbarkeit des Staatsbürgers, die freiheitliche
Stellung der Frau, manchmal sogar Frauen-
emanzipation -- kurz jeder fortschrittliche
Gedanke genießt die fast ungelenke Unter¬
stützung der chinesischen Qualitätspresse.

Über den Anteil, den die chinesische Presse
an der letzten Revolution und an der Er¬
richtung der Republik nahm, ist folgendes zu
sage"! Tatsächlich haben die Zeitungen zu
einem großen Teil die chinesische Revolution
gemacht. Insbesondere war es wieder
Schanghai, von wo aus bereits seit vierzig
Jahren in wachsendem Maße eine scharfe
Kritik an den bestehenden Zuständen geübt
wurde, und von wo aus die aufbauenden
Reformvorschläge kamen. Als dann die
Revolution ausbrach, spürte man ihre
Wirkung auch sehr schnell im chinesischen
Blätterwald, überall wurden Zeitungen neu
gegründet. Viele blühten gerade lang genug,
uni eine anständige Jnserateneinncchme zu
erzielen, durch Vorauszahlung natürlich, dann
verschwanden sie wieder. Die neu erklärte
Pressefreiheit bewirkte in der Revolutions¬
zeit auf dem Gebiete der Zeitungsgründung
geradezu Zügellosigkeiten. Dutzende von
Zeitungen erschienen Plötzlich auf der Bild¬
fläche, von denen viele mit kaum 20 000 Mark
Kapital den Existenzkampf begannen. Sie
starben meist bald eines schnellen Todes.
Anderseits läßt sich nicht verhehlen, daß nach der

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Revolution eine große Anzahl Zeitungen ins
Leben trat, die heute noch existieren. So sind
z. B. drei kleinere Zeitungszentren im Innern
Chinas auf dem Gebiete der Presseentwicklung
so erfolgreich gewesen, daß sich die Zahl gut
fundierter Zeitungen verdoppelt hat. In
Peking selbst waren noch vor etwa fünf
Jahren nicht mehr als zwanzig Zeitungen
vorhanden, und heute sind es, wie der dortige
Timeskorrespondent kürzlich berichtete, etwa
siebzig. Betrachtet man das Land als Ganzes,
so ist es nicht zu hoch gegriffen, wenn man
bereits jetzt die Zahl der täglich erscheinenden
Zeitungen in China auf tausend annimmt.
Vor der Revolution, oder besser gesagt vor
sechs bis sieben Jahren, waren eS nur zwei¬
hundert Zeitungen und Zeitschriften. Aller¬
dings muß dazu bemerkt werden, daß die
europäischen Inserenten nicht allen tausend
Zeitungen für Jnferatenzwecke ein gleiches
Vertrauen entgegenbringen dürfen; in Deutsch¬
land wird man sich am besten bei den Kon¬
sulaten, Handelssachverstündigen, vor allem
auch beim Ostasiatischen Lloyd über die Ver¬
trauenswürdigkeit und die möglichen Erfolge
der chinesischen Jnseratorgane unterrichten.
Der Zeilenpreis für Inserate in den großen
chinesischen Blättern beträgt ca. 1,02 Mark,
d. h. er ist verhältnismäßig hoch.

Was weiter die Tendenz der gut fundierten
älteren Zeitungen Chinas anbelangt, so hat
man davon gesprochen, daß sie einen kuriosen
Umschwung zu verzeichnen hätten. Viele
Blätter, die vor der Revolution wegen ihres
Radikalismus bekannt und berüchtigt waren,
scheinen jetzt in ein konservatives Fahrwasser
geraten zu sein. Das mag zum Teil zu¬
treffen. Im übrigen aber besteht die Tat¬
sache, daß zu den älteren Organen, die im
wesentlichen die Tendenz beibehalten haben,
neue Blätter gekommen sind, die, um breitere
Leserkreise zu erwerben, erheblich freiheitlichere
Ideen und Interessen vertreten als ihre
älteren Konkurrenten.

Über den Depeschen- und Nachrichtendienst
in der chinesischen Presse ist zu sagen, daß er
in hohem Maße an Ungenauigkeit und Un-
zuverlässigkeit leidet. Unerhört viel falsche
Meldungen, oft nur tendenziöser Art, auch
über Deutschland -- hinter ihnen standen
englische, französische wirtschaftliche Inder-

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Maßgebliches und Unmaßgebliche-

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zum Teil mordbrennerische Blätter ausüben,
und dem weiter reichenden Einfluß lang¬
bestehender Zeitungen. Der wirklich geistig
hochstehende und sich verantwortlich fühlende
Teil der chinesischen Presse ist bemüht, beim
Volke Interesse an der Politik zu wecken und
führend in der öffentlichen Meinung über so¬
ziale und sittliche Fragen voranzugehen. Das
Opiumlaster, das Einschnüren der Füße, die
Sklaverei der Frau, das Konlubinat und
manche andere gesellschaftliche übelstände
werden von der chinesischen Qualitätspresse
fast einstimmig verurteilt. Sie geißelt auch
in scharfen Ausdrücken die Bestechlichkeit und
Unfähigkeit der Beamten. Volkstümliche Er¬
ziehung und Reformen auf dem Gebiete des
öffentlichen Gesundheitswesens, die Anpassung
an europäische Gebräuche kaufmännischen,
industriellen und finanziellen Charakters,
Rede- und Pressefreiheit, Freiheit und Unan¬
tastbarkeit des Staatsbürgers, die freiheitliche
Stellung der Frau, manchmal sogar Frauen-
emanzipation — kurz jeder fortschrittliche
Gedanke genießt die fast ungelenke Unter¬
stützung der chinesischen Qualitätspresse.

Über den Anteil, den die chinesische Presse
an der letzten Revolution und an der Er¬
richtung der Republik nahm, ist folgendes zu
sage»! Tatsächlich haben die Zeitungen zu
einem großen Teil die chinesische Revolution
gemacht. Insbesondere war es wieder
Schanghai, von wo aus bereits seit vierzig
Jahren in wachsendem Maße eine scharfe
Kritik an den bestehenden Zuständen geübt
wurde, und von wo aus die aufbauenden
Reformvorschläge kamen. Als dann die
Revolution ausbrach, spürte man ihre
Wirkung auch sehr schnell im chinesischen
Blätterwald, überall wurden Zeitungen neu
gegründet. Viele blühten gerade lang genug,
uni eine anständige Jnserateneinncchme zu
erzielen, durch Vorauszahlung natürlich, dann
verschwanden sie wieder. Die neu erklärte
Pressefreiheit bewirkte in der Revolutions¬
zeit auf dem Gebiete der Zeitungsgründung
geradezu Zügellosigkeiten. Dutzende von
Zeitungen erschienen Plötzlich auf der Bild¬
fläche, von denen viele mit kaum 20 000 Mark
Kapital den Existenzkampf begannen. Sie
starben meist bald eines schnellen Todes.
Anderseits läßt sich nicht verhehlen, daß nach der

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Revolution eine große Anzahl Zeitungen ins
Leben trat, die heute noch existieren. So sind
z. B. drei kleinere Zeitungszentren im Innern
Chinas auf dem Gebiete der Presseentwicklung
so erfolgreich gewesen, daß sich die Zahl gut
fundierter Zeitungen verdoppelt hat. In
Peking selbst waren noch vor etwa fünf
Jahren nicht mehr als zwanzig Zeitungen
vorhanden, und heute sind es, wie der dortige
Timeskorrespondent kürzlich berichtete, etwa
siebzig. Betrachtet man das Land als Ganzes,
so ist es nicht zu hoch gegriffen, wenn man
bereits jetzt die Zahl der täglich erscheinenden
Zeitungen in China auf tausend annimmt.
Vor der Revolution, oder besser gesagt vor
sechs bis sieben Jahren, waren eS nur zwei¬
hundert Zeitungen und Zeitschriften. Aller¬
dings muß dazu bemerkt werden, daß die
europäischen Inserenten nicht allen tausend
Zeitungen für Jnferatenzwecke ein gleiches
Vertrauen entgegenbringen dürfen; in Deutsch¬
land wird man sich am besten bei den Kon¬
sulaten, Handelssachverstündigen, vor allem
auch beim Ostasiatischen Lloyd über die Ver¬
trauenswürdigkeit und die möglichen Erfolge
der chinesischen Jnseratorgane unterrichten.
Der Zeilenpreis für Inserate in den großen
chinesischen Blättern beträgt ca. 1,02 Mark,
d. h. er ist verhältnismäßig hoch.

Was weiter die Tendenz der gut fundierten
älteren Zeitungen Chinas anbelangt, so hat
man davon gesprochen, daß sie einen kuriosen
Umschwung zu verzeichnen hätten. Viele
Blätter, die vor der Revolution wegen ihres
Radikalismus bekannt und berüchtigt waren,
scheinen jetzt in ein konservatives Fahrwasser
geraten zu sein. Das mag zum Teil zu¬
treffen. Im übrigen aber besteht die Tat¬
sache, daß zu den älteren Organen, die im
wesentlichen die Tendenz beibehalten haben,
neue Blätter gekommen sind, die, um breitere
Leserkreise zu erwerben, erheblich freiheitlichere
Ideen und Interessen vertreten als ihre
älteren Konkurrenten.

Über den Depeschen- und Nachrichtendienst
in der chinesischen Presse ist zu sagen, daß er
in hohem Maße an Ungenauigkeit und Un-
zuverlässigkeit leidet. Unerhört viel falsche
Meldungen, oft nur tendenziöser Art, auch
über Deutschland — hinter ihnen standen
englische, französische wirtschaftliche Inder-

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[0339] Maßgebliches und Unmaßgebliche- zum Teil mordbrennerische Blätter ausüben, und dem weiter reichenden Einfluß lang¬ bestehender Zeitungen. Der wirklich geistig hochstehende und sich verantwortlich fühlende Teil der chinesischen Presse ist bemüht, beim Volke Interesse an der Politik zu wecken und führend in der öffentlichen Meinung über so¬ ziale und sittliche Fragen voranzugehen. Das Opiumlaster, das Einschnüren der Füße, die Sklaverei der Frau, das Konlubinat und manche andere gesellschaftliche übelstände werden von der chinesischen Qualitätspresse fast einstimmig verurteilt. Sie geißelt auch in scharfen Ausdrücken die Bestechlichkeit und Unfähigkeit der Beamten. Volkstümliche Er¬ ziehung und Reformen auf dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens, die Anpassung an europäische Gebräuche kaufmännischen, industriellen und finanziellen Charakters, Rede- und Pressefreiheit, Freiheit und Unan¬ tastbarkeit des Staatsbürgers, die freiheitliche Stellung der Frau, manchmal sogar Frauen- emanzipation — kurz jeder fortschrittliche Gedanke genießt die fast ungelenke Unter¬ stützung der chinesischen Qualitätspresse. Über den Anteil, den die chinesische Presse an der letzten Revolution und an der Er¬ richtung der Republik nahm, ist folgendes zu sage»! Tatsächlich haben die Zeitungen zu einem großen Teil die chinesische Revolution gemacht. Insbesondere war es wieder Schanghai, von wo aus bereits seit vierzig Jahren in wachsendem Maße eine scharfe Kritik an den bestehenden Zuständen geübt wurde, und von wo aus die aufbauenden Reformvorschläge kamen. Als dann die Revolution ausbrach, spürte man ihre Wirkung auch sehr schnell im chinesischen Blätterwald, überall wurden Zeitungen neu gegründet. Viele blühten gerade lang genug, uni eine anständige Jnserateneinncchme zu erzielen, durch Vorauszahlung natürlich, dann verschwanden sie wieder. Die neu erklärte Pressefreiheit bewirkte in der Revolutions¬ zeit auf dem Gebiete der Zeitungsgründung geradezu Zügellosigkeiten. Dutzende von Zeitungen erschienen Plötzlich auf der Bild¬ fläche, von denen viele mit kaum 20 000 Mark Kapital den Existenzkampf begannen. Sie starben meist bald eines schnellen Todes. Anderseits läßt sich nicht verhehlen, daß nach der Revolution eine große Anzahl Zeitungen ins Leben trat, die heute noch existieren. So sind z. B. drei kleinere Zeitungszentren im Innern Chinas auf dem Gebiete der Presseentwicklung so erfolgreich gewesen, daß sich die Zahl gut fundierter Zeitungen verdoppelt hat. In Peking selbst waren noch vor etwa fünf Jahren nicht mehr als zwanzig Zeitungen vorhanden, und heute sind es, wie der dortige Timeskorrespondent kürzlich berichtete, etwa siebzig. Betrachtet man das Land als Ganzes, so ist es nicht zu hoch gegriffen, wenn man bereits jetzt die Zahl der täglich erscheinenden Zeitungen in China auf tausend annimmt. Vor der Revolution, oder besser gesagt vor sechs bis sieben Jahren, waren eS nur zwei¬ hundert Zeitungen und Zeitschriften. Aller¬ dings muß dazu bemerkt werden, daß die europäischen Inserenten nicht allen tausend Zeitungen für Jnferatenzwecke ein gleiches Vertrauen entgegenbringen dürfen; in Deutsch¬ land wird man sich am besten bei den Kon¬ sulaten, Handelssachverstündigen, vor allem auch beim Ostasiatischen Lloyd über die Ver¬ trauenswürdigkeit und die möglichen Erfolge der chinesischen Jnseratorgane unterrichten. Der Zeilenpreis für Inserate in den großen chinesischen Blättern beträgt ca. 1,02 Mark, d. h. er ist verhältnismäßig hoch. Was weiter die Tendenz der gut fundierten älteren Zeitungen Chinas anbelangt, so hat man davon gesprochen, daß sie einen kuriosen Umschwung zu verzeichnen hätten. Viele Blätter, die vor der Revolution wegen ihres Radikalismus bekannt und berüchtigt waren, scheinen jetzt in ein konservatives Fahrwasser geraten zu sein. Das mag zum Teil zu¬ treffen. Im übrigen aber besteht die Tat¬ sache, daß zu den älteren Organen, die im wesentlichen die Tendenz beibehalten haben, neue Blätter gekommen sind, die, um breitere Leserkreise zu erwerben, erheblich freiheitlichere Ideen und Interessen vertreten als ihre älteren Konkurrenten. Über den Depeschen- und Nachrichtendienst in der chinesischen Presse ist zu sagen, daß er in hohem Maße an Ungenauigkeit und Un- zuverlässigkeit leidet. Unerhört viel falsche Meldungen, oft nur tendenziöser Art, auch über Deutschland — hinter ihnen standen englische, französische wirtschaftliche Inder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/339>, abgerufen am 04.07.2024.