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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Lindrücke eines Kroaten

Mützen, Röcken. Stiefeln, die da ohne Unterschied, mit gleichmäßigem Appetit,
bei gleichen Gedanken an gleichen Sonnenblumenkernen saugen und kauen.
Schrecklich ist es auch für den Nichtkünstler. in diesem Ozean von Menschen und
Sonnenblumensamen zu leben.

Aber dieses Schreckliche wird noch schrecklicher, wenn man all die auf¬
gehängten, ausgemergelten, verworfenen Leute näher ansieht, diese Bettler,
Trunkenbolde, Auswürflinge jeder Art. Es gibt ihrer schauerlich viele. Auf
der Straße treten alle Augenblicke anständige, furchtbar bleiche, kranke, vor
Hunger kranke Leute an uns heran und sprechen: "Um Christi willen helfen
Sie!", "Seien Sie gut!", "Berücksichtigen Sie meine Lage, Herr!", "Erbarmen
Sie sich". Es gibt auch viele Betrunkene und Berufsbettler, die uns nach¬
gehen und jammern und klagen, unter Benutzung des Wortschatzes ihres reichen
Bcttlerlexikons. "Schämen Sie sich nicht?" entfuhr es mir einmal angesichts eines
gesunden Mannes. Der blieb stehen und schrie mir nach: "Ja, was denken
Sie denn, daß es bei uns wie bei Ihnen in England ist. . ." Diese Leute
erkennen also, daß ihre "Lage" deshalb so mißlich ist, weil es in Nußland nicht
so wie in England ist, mit anderen Worten, weil ihnen bürgerliche Freiheit und
ein Schutz fehlt, wie ich, der "Ausländer", ihn in England genieße.

Als aber der Zar das dreihundertjährige Bestehen seines Hauses feierte,
zog er im Triumph durch die Reihen dieser Podsolnuschki, die ihm entgegen¬
jubelten. Die russische Intelligenz war nicht anwesend, sie bildet vor dem Zaren
nicht Spalier und wallfahrtet auch nicht zu dem Grabe des heiligen Vermögen,
der den russischen Thron vor den Polen, den "Ketzern", gerettet hat. Die
russische Intelligenz hat sich in sich zurückgezogen und denkt und denkt. Die
Podsolnuschki aber verschütten das Leben, auch das der russischen Intelligenz,
indem sie es durch ihre Masse erdrücken. Daher ist es auch der russischen Literatur
so "schrecklich" zumute. . . .




Russische Lindrücke eines Kroaten

Mützen, Röcken. Stiefeln, die da ohne Unterschied, mit gleichmäßigem Appetit,
bei gleichen Gedanken an gleichen Sonnenblumenkernen saugen und kauen.
Schrecklich ist es auch für den Nichtkünstler. in diesem Ozean von Menschen und
Sonnenblumensamen zu leben.

Aber dieses Schreckliche wird noch schrecklicher, wenn man all die auf¬
gehängten, ausgemergelten, verworfenen Leute näher ansieht, diese Bettler,
Trunkenbolde, Auswürflinge jeder Art. Es gibt ihrer schauerlich viele. Auf
der Straße treten alle Augenblicke anständige, furchtbar bleiche, kranke, vor
Hunger kranke Leute an uns heran und sprechen: „Um Christi willen helfen
Sie!", „Seien Sie gut!", „Berücksichtigen Sie meine Lage, Herr!", „Erbarmen
Sie sich". Es gibt auch viele Betrunkene und Berufsbettler, die uns nach¬
gehen und jammern und klagen, unter Benutzung des Wortschatzes ihres reichen
Bcttlerlexikons. „Schämen Sie sich nicht?" entfuhr es mir einmal angesichts eines
gesunden Mannes. Der blieb stehen und schrie mir nach: „Ja, was denken
Sie denn, daß es bei uns wie bei Ihnen in England ist. . ." Diese Leute
erkennen also, daß ihre „Lage" deshalb so mißlich ist, weil es in Nußland nicht
so wie in England ist, mit anderen Worten, weil ihnen bürgerliche Freiheit und
ein Schutz fehlt, wie ich, der „Ausländer", ihn in England genieße.

Als aber der Zar das dreihundertjährige Bestehen seines Hauses feierte,
zog er im Triumph durch die Reihen dieser Podsolnuschki, die ihm entgegen¬
jubelten. Die russische Intelligenz war nicht anwesend, sie bildet vor dem Zaren
nicht Spalier und wallfahrtet auch nicht zu dem Grabe des heiligen Vermögen,
der den russischen Thron vor den Polen, den „Ketzern", gerettet hat. Die
russische Intelligenz hat sich in sich zurückgezogen und denkt und denkt. Die
Podsolnuschki aber verschütten das Leben, auch das der russischen Intelligenz,
indem sie es durch ihre Masse erdrücken. Daher ist es auch der russischen Literatur
so „schrecklich" zumute. . . .




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[0337] Russische Lindrücke eines Kroaten Mützen, Röcken. Stiefeln, die da ohne Unterschied, mit gleichmäßigem Appetit, bei gleichen Gedanken an gleichen Sonnenblumenkernen saugen und kauen. Schrecklich ist es auch für den Nichtkünstler. in diesem Ozean von Menschen und Sonnenblumensamen zu leben. Aber dieses Schreckliche wird noch schrecklicher, wenn man all die auf¬ gehängten, ausgemergelten, verworfenen Leute näher ansieht, diese Bettler, Trunkenbolde, Auswürflinge jeder Art. Es gibt ihrer schauerlich viele. Auf der Straße treten alle Augenblicke anständige, furchtbar bleiche, kranke, vor Hunger kranke Leute an uns heran und sprechen: „Um Christi willen helfen Sie!", „Seien Sie gut!", „Berücksichtigen Sie meine Lage, Herr!", „Erbarmen Sie sich". Es gibt auch viele Betrunkene und Berufsbettler, die uns nach¬ gehen und jammern und klagen, unter Benutzung des Wortschatzes ihres reichen Bcttlerlexikons. „Schämen Sie sich nicht?" entfuhr es mir einmal angesichts eines gesunden Mannes. Der blieb stehen und schrie mir nach: „Ja, was denken Sie denn, daß es bei uns wie bei Ihnen in England ist. . ." Diese Leute erkennen also, daß ihre „Lage" deshalb so mißlich ist, weil es in Nußland nicht so wie in England ist, mit anderen Worten, weil ihnen bürgerliche Freiheit und ein Schutz fehlt, wie ich, der „Ausländer", ihn in England genieße. Als aber der Zar das dreihundertjährige Bestehen seines Hauses feierte, zog er im Triumph durch die Reihen dieser Podsolnuschki, die ihm entgegen¬ jubelten. Die russische Intelligenz war nicht anwesend, sie bildet vor dem Zaren nicht Spalier und wallfahrtet auch nicht zu dem Grabe des heiligen Vermögen, der den russischen Thron vor den Polen, den „Ketzern", gerettet hat. Die russische Intelligenz hat sich in sich zurückgezogen und denkt und denkt. Die Podsolnuschki aber verschütten das Leben, auch das der russischen Intelligenz, indem sie es durch ihre Masse erdrücken. Daher ist es auch der russischen Literatur so „schrecklich" zumute. . . .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/337>, abgerufen am 24.07.2024.