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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Russische Eindrücke eines Kroaten

Nicht dies, sondern jenes, heißt es immer. Spricht so nicht das Volk im Unter¬
schied zur "Intelligenz", die sich niemals so ausdrückt?

Platon Karatajew, der Held in "Krieg und Frieden" (Krieg und Frieden!),
ist die ewige Verkörperung der Einfachheit und Gerechtigkeit -- das Symbol
russischer Güte und Harmonie. Das sagt Tolstoi selbst durch den Mund seines
Pierre: "In diesem Zusammenbiegen von Gegensätzen liegt das Geheimnis der
weitherzigen russischen Natur." Im selben "Krieg und Frieden" erzählt Tolstoi
von einem Traum, den Pierre gehabt hat: "Die Welt zeigte sich ihm in der
Form einer aus Tröpfchen zusammengesetzten Kugel." Diese Tröpfchen steigen
an die Oberfläche der Kugel, ändern den Ort, verbinden und trennen sich.
Jedes Tröpfchen strebt danach, möglichst viel Raum zu erfüllen, aber die anderen
hemmen es, ja. sie vernichten es zuweilen, oder fließen mit ihm zusammen.
"Das ist das Leben", ruft Pierre. "Wie einfach und klar! Im Mittelpunkt
ist Gott und jedes Tröpfchen ist bestrebt, ihn im größten Umfange wider¬
zuspiegeln. Deshalb sucht es sich auszudehnen, wird vernichtet, sinkt in die
Tiefe und taucht wieder auf." Mereschkowski erläutert dieses Bild folgender¬
maßen: im Mittelpunkt ist Gott, das ewige Nein, um ihn die Menschen, ab¬
gelöste Bejahungen. Das Ja vereinigt sich mit dem Nein, indem es sich ver¬
nichtet, verschwindet, der Mensch vereinigt sich mit Gott, indem er im Tode
seine Persönlichkeit verliert. (L. Tolstoi und Dostojewski). Mereschkowski ist aber
mit einer solchen Philosophie nicht einverstanden und sucht die Lösung in der
Hegelschen Synthese der Affirmation und der Negation, indem er Gott im
Menschen, den Menschen in Gott sieht. Doch das ist eine Idee des Westens,
diejenige Tolstois ist russisch -- sonnenblumenhaft.

Überhaupt ist Mereschkowski und die ganze symbolistische Schule, die ganze
Strömung des Ästhetizismus in Rußland mehr mit dem Katholizismus, der
Renaissance, mit Europa verwachsen als mit der allbäuerischen Heimat.
Balmont, das Haupt der modernen Poesie, hielt sich sechs Jahre im Ausland
auf. Vor kurzem kehrte er nach Moskau zurück und brachte Bearbeitungen
spanischer Erotiker mit. Mereschkowski war in Paris und sogar Birjukow, der
Biograph Tolstois, weilt jetzt im "Westen". Auch die älteren russischen Schrift¬
steller suchten außerhalb Rußlands ästhetische Eindrücke. Gogol floh nach
Italien und entdeckte dort sein wahres Vaterland, in dem er zu sterben wünschte.
Dostojewski floh nach Deutschland und England und kehrte nur in äußerster
Not nach Hause zurück. Allen künstlerischen Naturen ist es entsetzlich, nur Teile
am allbäuerischen Körper zu sein. Und doch zieht dieser Körper sie mit der
Kraft seiner rohen Gravitation an. In diesem beständigen Lossagen, Verneinen
und Zurückkehren, Bejahen liegt die Tragödie der russischen Großen.

Wandern wir über die Moskaner Boulevards, durch die Parkanlagen, den
Kreml, über Brücken und Plätze, durch Gassen und Quergäßchen, in Sack-
gäßchen, durch "Tore" und "Linien" -- überall sieht man vor sich im Staub
getretene Sonnenblumensamen und überall begegnet man Leuten in gleichen


Russische Eindrücke eines Kroaten

Nicht dies, sondern jenes, heißt es immer. Spricht so nicht das Volk im Unter¬
schied zur „Intelligenz", die sich niemals so ausdrückt?

Platon Karatajew, der Held in „Krieg und Frieden" (Krieg und Frieden!),
ist die ewige Verkörperung der Einfachheit und Gerechtigkeit — das Symbol
russischer Güte und Harmonie. Das sagt Tolstoi selbst durch den Mund seines
Pierre: „In diesem Zusammenbiegen von Gegensätzen liegt das Geheimnis der
weitherzigen russischen Natur." Im selben „Krieg und Frieden" erzählt Tolstoi
von einem Traum, den Pierre gehabt hat: „Die Welt zeigte sich ihm in der
Form einer aus Tröpfchen zusammengesetzten Kugel." Diese Tröpfchen steigen
an die Oberfläche der Kugel, ändern den Ort, verbinden und trennen sich.
Jedes Tröpfchen strebt danach, möglichst viel Raum zu erfüllen, aber die anderen
hemmen es, ja. sie vernichten es zuweilen, oder fließen mit ihm zusammen.
„Das ist das Leben", ruft Pierre. „Wie einfach und klar! Im Mittelpunkt
ist Gott und jedes Tröpfchen ist bestrebt, ihn im größten Umfange wider¬
zuspiegeln. Deshalb sucht es sich auszudehnen, wird vernichtet, sinkt in die
Tiefe und taucht wieder auf." Mereschkowski erläutert dieses Bild folgender¬
maßen: im Mittelpunkt ist Gott, das ewige Nein, um ihn die Menschen, ab¬
gelöste Bejahungen. Das Ja vereinigt sich mit dem Nein, indem es sich ver¬
nichtet, verschwindet, der Mensch vereinigt sich mit Gott, indem er im Tode
seine Persönlichkeit verliert. (L. Tolstoi und Dostojewski). Mereschkowski ist aber
mit einer solchen Philosophie nicht einverstanden und sucht die Lösung in der
Hegelschen Synthese der Affirmation und der Negation, indem er Gott im
Menschen, den Menschen in Gott sieht. Doch das ist eine Idee des Westens,
diejenige Tolstois ist russisch — sonnenblumenhaft.

Überhaupt ist Mereschkowski und die ganze symbolistische Schule, die ganze
Strömung des Ästhetizismus in Rußland mehr mit dem Katholizismus, der
Renaissance, mit Europa verwachsen als mit der allbäuerischen Heimat.
Balmont, das Haupt der modernen Poesie, hielt sich sechs Jahre im Ausland
auf. Vor kurzem kehrte er nach Moskau zurück und brachte Bearbeitungen
spanischer Erotiker mit. Mereschkowski war in Paris und sogar Birjukow, der
Biograph Tolstois, weilt jetzt im „Westen". Auch die älteren russischen Schrift¬
steller suchten außerhalb Rußlands ästhetische Eindrücke. Gogol floh nach
Italien und entdeckte dort sein wahres Vaterland, in dem er zu sterben wünschte.
Dostojewski floh nach Deutschland und England und kehrte nur in äußerster
Not nach Hause zurück. Allen künstlerischen Naturen ist es entsetzlich, nur Teile
am allbäuerischen Körper zu sein. Und doch zieht dieser Körper sie mit der
Kraft seiner rohen Gravitation an. In diesem beständigen Lossagen, Verneinen
und Zurückkehren, Bejahen liegt die Tragödie der russischen Großen.

Wandern wir über die Moskaner Boulevards, durch die Parkanlagen, den
Kreml, über Brücken und Plätze, durch Gassen und Quergäßchen, in Sack-
gäßchen, durch „Tore" und „Linien" — überall sieht man vor sich im Staub
getretene Sonnenblumensamen und überall begegnet man Leuten in gleichen


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[0336] Russische Eindrücke eines Kroaten Nicht dies, sondern jenes, heißt es immer. Spricht so nicht das Volk im Unter¬ schied zur „Intelligenz", die sich niemals so ausdrückt? Platon Karatajew, der Held in „Krieg und Frieden" (Krieg und Frieden!), ist die ewige Verkörperung der Einfachheit und Gerechtigkeit — das Symbol russischer Güte und Harmonie. Das sagt Tolstoi selbst durch den Mund seines Pierre: „In diesem Zusammenbiegen von Gegensätzen liegt das Geheimnis der weitherzigen russischen Natur." Im selben „Krieg und Frieden" erzählt Tolstoi von einem Traum, den Pierre gehabt hat: „Die Welt zeigte sich ihm in der Form einer aus Tröpfchen zusammengesetzten Kugel." Diese Tröpfchen steigen an die Oberfläche der Kugel, ändern den Ort, verbinden und trennen sich. Jedes Tröpfchen strebt danach, möglichst viel Raum zu erfüllen, aber die anderen hemmen es, ja. sie vernichten es zuweilen, oder fließen mit ihm zusammen. „Das ist das Leben", ruft Pierre. „Wie einfach und klar! Im Mittelpunkt ist Gott und jedes Tröpfchen ist bestrebt, ihn im größten Umfange wider¬ zuspiegeln. Deshalb sucht es sich auszudehnen, wird vernichtet, sinkt in die Tiefe und taucht wieder auf." Mereschkowski erläutert dieses Bild folgender¬ maßen: im Mittelpunkt ist Gott, das ewige Nein, um ihn die Menschen, ab¬ gelöste Bejahungen. Das Ja vereinigt sich mit dem Nein, indem es sich ver¬ nichtet, verschwindet, der Mensch vereinigt sich mit Gott, indem er im Tode seine Persönlichkeit verliert. (L. Tolstoi und Dostojewski). Mereschkowski ist aber mit einer solchen Philosophie nicht einverstanden und sucht die Lösung in der Hegelschen Synthese der Affirmation und der Negation, indem er Gott im Menschen, den Menschen in Gott sieht. Doch das ist eine Idee des Westens, diejenige Tolstois ist russisch — sonnenblumenhaft. Überhaupt ist Mereschkowski und die ganze symbolistische Schule, die ganze Strömung des Ästhetizismus in Rußland mehr mit dem Katholizismus, der Renaissance, mit Europa verwachsen als mit der allbäuerischen Heimat. Balmont, das Haupt der modernen Poesie, hielt sich sechs Jahre im Ausland auf. Vor kurzem kehrte er nach Moskau zurück und brachte Bearbeitungen spanischer Erotiker mit. Mereschkowski war in Paris und sogar Birjukow, der Biograph Tolstois, weilt jetzt im „Westen". Auch die älteren russischen Schrift¬ steller suchten außerhalb Rußlands ästhetische Eindrücke. Gogol floh nach Italien und entdeckte dort sein wahres Vaterland, in dem er zu sterben wünschte. Dostojewski floh nach Deutschland und England und kehrte nur in äußerster Not nach Hause zurück. Allen künstlerischen Naturen ist es entsetzlich, nur Teile am allbäuerischen Körper zu sein. Und doch zieht dieser Körper sie mit der Kraft seiner rohen Gravitation an. In diesem beständigen Lossagen, Verneinen und Zurückkehren, Bejahen liegt die Tragödie der russischen Großen. Wandern wir über die Moskaner Boulevards, durch die Parkanlagen, den Kreml, über Brücken und Plätze, durch Gassen und Quergäßchen, in Sack- gäßchen, durch „Tore" und „Linien" — überall sieht man vor sich im Staub getretene Sonnenblumensamen und überall begegnet man Leuten in gleichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/336>, abgerufen am 25.07.2024.