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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vererbung beim Menschen

Chromosomensatz n n Elemente betragen. Beim Menschen würde -- nach
der von den meisten angenommenen Auffassung -- der Mann in seinen Zellen
weniger Chromosomen-Material besitzen als das Weib, etwa n ^ (n -1) an der
Zahl. Ein Element fehlt ihm -- etwa der Vertreter jenes 3-Gens der Mendel-
Deutung. In der Tat vermöchte er dann zweierlei verschiedene Sorten von
Erbzellen zu bilden: eine Hälfte mit n, die andere mit (n-I) Kernsegmenten,
während das Weib nur einerlei Art von Eiern, stets mit ri - Elementen aus¬
gerüstet, produzierte. Dies Verhältnis stimmt mit der Forderung der Mendel-
Deutung völlig überein: der Mann ist mischerbig in 3, das Weib reinerbig 33.

Das gewichtigste Bedenken gegen diese Auffassung des Geschlechtes beruht
auf der Tatsache, daß in der Tat gar nicht gleich viel Knaben und Mädchen
entstehen. Vielmehr nähert sich, zu besser und zu je früherer Zeit der Schwanger¬
schaft man das Zahlenverhältnis der beiden Geschlechter feststellt -- das ist
mikroskopisch bei Embryonen schon recht frühzeitig möglich --, die Proportion
von Knaben zu Mädchen etwa der Ziffer 44 Prozent Knaben und 56 Prozent
Mädchen an.

Trotz der gewaltigen Schwierigkeiten hat die menschliche Erb kunde begonnen,
erfolgreich in manchen Winkel ihrer dunklen Probleme hineinzuleuchten. Gerade
bei der Erbübertragung der Krankheiten schränkt die erbliche Anlage selbst, sei
es durch frühzeitigen Tod, sei es durch Behinderung des Heiratens der Erb¬
träger, die einzigen Arbeitsgrundlagen, die Zahlenreihen der Nachkommenschaft,
ein. Gerade in diesen Fällen verschiebt bei der an sich geringen Kinderzahl
der Zufall die Verteilung der anormalen und normalen Abkömmlinge in der
Mendel-Proportion in verwirrender Weise. Dennoch ist bereits durch die Er¬
kenntnis vieles gewonnen, daß sich auch hier der Ablauf der Erscheinungen an
die bekannten gesetzlichen Grundregeln bindet. Allerdings: alle Mittel und
Wege, die der Erbforscher am tierischen und pflanzlichen Organismus höchstens
als gelegentliche Beihilfe schätzt, müssen hier nach Kräften ausgenutzt, durch
statistisch-theoretische Feinarbeit auch das sprödeste Rohmaterial noch verwertbar
gemacht werden. So stellt sich die Zwillingsforschung als wichtiges Hilfsmittel
der menschlichen Erblichkettslehre zur Verfügung. Sind aus den beiden Erb-
zellen statt wie gewöhnlich ein, gelegentlich zwei Kinder hervorgegangen, die
sogenannten einengen Zwillinge: so deuten bei diesen gleicherbigen Menschen
ihnen gemeinsame Eigentümlichkeiten mit großer Sicherheit auf Vererbung,
anderseits bestimmen und messen -- und das ist weit wichtiger -- die Unterschiede
ihrer Entscheidungsform den Grad der Veränderlichkeit trotz gleichen Erbgutes.
Planmäßige und kritische Durchforschung jedes erbverdächtigen Merkmals auf sein
Schwanken bei Jsozngoten müßte als unentbehrliche Grundlage aller menschlichen
Erbforschung vorausgehen.

Der Bereich künftiger Arbeit ist erdrückend groß: das gilt für die Norm
wie für Anomalie und Krankheit. Die Vererbung der Begabung, des Talentes,
der psychischen Eigenheiten überhaupt, die Frage nach der Erblichkeit von An-
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Vererbung beim Menschen

Chromosomensatz n n Elemente betragen. Beim Menschen würde — nach
der von den meisten angenommenen Auffassung — der Mann in seinen Zellen
weniger Chromosomen-Material besitzen als das Weib, etwa n ^ (n -1) an der
Zahl. Ein Element fehlt ihm — etwa der Vertreter jenes 3-Gens der Mendel-
Deutung. In der Tat vermöchte er dann zweierlei verschiedene Sorten von
Erbzellen zu bilden: eine Hälfte mit n, die andere mit (n-I) Kernsegmenten,
während das Weib nur einerlei Art von Eiern, stets mit ri - Elementen aus¬
gerüstet, produzierte. Dies Verhältnis stimmt mit der Forderung der Mendel-
Deutung völlig überein: der Mann ist mischerbig in 3, das Weib reinerbig 33.

Das gewichtigste Bedenken gegen diese Auffassung des Geschlechtes beruht
auf der Tatsache, daß in der Tat gar nicht gleich viel Knaben und Mädchen
entstehen. Vielmehr nähert sich, zu besser und zu je früherer Zeit der Schwanger¬
schaft man das Zahlenverhältnis der beiden Geschlechter feststellt — das ist
mikroskopisch bei Embryonen schon recht frühzeitig möglich —, die Proportion
von Knaben zu Mädchen etwa der Ziffer 44 Prozent Knaben und 56 Prozent
Mädchen an.

Trotz der gewaltigen Schwierigkeiten hat die menschliche Erb kunde begonnen,
erfolgreich in manchen Winkel ihrer dunklen Probleme hineinzuleuchten. Gerade
bei der Erbübertragung der Krankheiten schränkt die erbliche Anlage selbst, sei
es durch frühzeitigen Tod, sei es durch Behinderung des Heiratens der Erb¬
träger, die einzigen Arbeitsgrundlagen, die Zahlenreihen der Nachkommenschaft,
ein. Gerade in diesen Fällen verschiebt bei der an sich geringen Kinderzahl
der Zufall die Verteilung der anormalen und normalen Abkömmlinge in der
Mendel-Proportion in verwirrender Weise. Dennoch ist bereits durch die Er¬
kenntnis vieles gewonnen, daß sich auch hier der Ablauf der Erscheinungen an
die bekannten gesetzlichen Grundregeln bindet. Allerdings: alle Mittel und
Wege, die der Erbforscher am tierischen und pflanzlichen Organismus höchstens
als gelegentliche Beihilfe schätzt, müssen hier nach Kräften ausgenutzt, durch
statistisch-theoretische Feinarbeit auch das sprödeste Rohmaterial noch verwertbar
gemacht werden. So stellt sich die Zwillingsforschung als wichtiges Hilfsmittel
der menschlichen Erblichkettslehre zur Verfügung. Sind aus den beiden Erb-
zellen statt wie gewöhnlich ein, gelegentlich zwei Kinder hervorgegangen, die
sogenannten einengen Zwillinge: so deuten bei diesen gleicherbigen Menschen
ihnen gemeinsame Eigentümlichkeiten mit großer Sicherheit auf Vererbung,
anderseits bestimmen und messen — und das ist weit wichtiger — die Unterschiede
ihrer Entscheidungsform den Grad der Veränderlichkeit trotz gleichen Erbgutes.
Planmäßige und kritische Durchforschung jedes erbverdächtigen Merkmals auf sein
Schwanken bei Jsozngoten müßte als unentbehrliche Grundlage aller menschlichen
Erbforschung vorausgehen.

Der Bereich künftiger Arbeit ist erdrückend groß: das gilt für die Norm
wie für Anomalie und Krankheit. Die Vererbung der Begabung, des Talentes,
der psychischen Eigenheiten überhaupt, die Frage nach der Erblichkeit von An-
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[0319] Vererbung beim Menschen Chromosomensatz n n Elemente betragen. Beim Menschen würde — nach der von den meisten angenommenen Auffassung — der Mann in seinen Zellen weniger Chromosomen-Material besitzen als das Weib, etwa n ^ (n -1) an der Zahl. Ein Element fehlt ihm — etwa der Vertreter jenes 3-Gens der Mendel- Deutung. In der Tat vermöchte er dann zweierlei verschiedene Sorten von Erbzellen zu bilden: eine Hälfte mit n, die andere mit (n-I) Kernsegmenten, während das Weib nur einerlei Art von Eiern, stets mit ri - Elementen aus¬ gerüstet, produzierte. Dies Verhältnis stimmt mit der Forderung der Mendel- Deutung völlig überein: der Mann ist mischerbig in 3, das Weib reinerbig 33. Das gewichtigste Bedenken gegen diese Auffassung des Geschlechtes beruht auf der Tatsache, daß in der Tat gar nicht gleich viel Knaben und Mädchen entstehen. Vielmehr nähert sich, zu besser und zu je früherer Zeit der Schwanger¬ schaft man das Zahlenverhältnis der beiden Geschlechter feststellt — das ist mikroskopisch bei Embryonen schon recht frühzeitig möglich —, die Proportion von Knaben zu Mädchen etwa der Ziffer 44 Prozent Knaben und 56 Prozent Mädchen an. Trotz der gewaltigen Schwierigkeiten hat die menschliche Erb kunde begonnen, erfolgreich in manchen Winkel ihrer dunklen Probleme hineinzuleuchten. Gerade bei der Erbübertragung der Krankheiten schränkt die erbliche Anlage selbst, sei es durch frühzeitigen Tod, sei es durch Behinderung des Heiratens der Erb¬ träger, die einzigen Arbeitsgrundlagen, die Zahlenreihen der Nachkommenschaft, ein. Gerade in diesen Fällen verschiebt bei der an sich geringen Kinderzahl der Zufall die Verteilung der anormalen und normalen Abkömmlinge in der Mendel-Proportion in verwirrender Weise. Dennoch ist bereits durch die Er¬ kenntnis vieles gewonnen, daß sich auch hier der Ablauf der Erscheinungen an die bekannten gesetzlichen Grundregeln bindet. Allerdings: alle Mittel und Wege, die der Erbforscher am tierischen und pflanzlichen Organismus höchstens als gelegentliche Beihilfe schätzt, müssen hier nach Kräften ausgenutzt, durch statistisch-theoretische Feinarbeit auch das sprödeste Rohmaterial noch verwertbar gemacht werden. So stellt sich die Zwillingsforschung als wichtiges Hilfsmittel der menschlichen Erblichkettslehre zur Verfügung. Sind aus den beiden Erb- zellen statt wie gewöhnlich ein, gelegentlich zwei Kinder hervorgegangen, die sogenannten einengen Zwillinge: so deuten bei diesen gleicherbigen Menschen ihnen gemeinsame Eigentümlichkeiten mit großer Sicherheit auf Vererbung, anderseits bestimmen und messen — und das ist weit wichtiger — die Unterschiede ihrer Entscheidungsform den Grad der Veränderlichkeit trotz gleichen Erbgutes. Planmäßige und kritische Durchforschung jedes erbverdächtigen Merkmals auf sein Schwanken bei Jsozngoten müßte als unentbehrliche Grundlage aller menschlichen Erbforschung vorausgehen. Der Bereich künftiger Arbeit ist erdrückend groß: das gilt für die Norm wie für Anomalie und Krankheit. Die Vererbung der Begabung, des Talentes, der psychischen Eigenheiten überhaupt, die Frage nach der Erblichkeit von An- * 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/319>, abgerufen am 04.07.2024.