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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vererbung beim Menschen

Der Typus der rezessiven Vererbung ist für eine Anzahl der Mißbildungen
und Krankheiten mit Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Sie tragen im tabella¬
rischen Verzeichnis auf S. 309 ff. den Zusatz I?.

Eine letzte, vielleicht die interessanteste aller Erbformen ist der Typus der
geschlechtsgekoppelten oder geschlechtsbegrenzten Vererbung. Manche erbliche Eigen¬
tümlichkeiten, Anomalien und Krankheiten befallen -- das weiß man seit
altersher -- ganz vorzugsweise das eine der beiden Geschlechter, verschonen da¬
gegen das andere gänzlich oder nahezu vollkommen. Keineswegs hängen diese
Erdteile in irgendeiner Weise naturgemäß oder offensichtlich mit der Gestalts¬
eigenart oder den besonderen Leistungen des Mannes oder des Weibes zu¬
sammen: sie haben durchaus nichts mit Geschlechtsmerkmalen irgendwelcher Art
gemein. Keine irgendwie erdenkbare innere Beziehung verknüpft ersichtlich die
Farbenblindheit, die Bluterkrankheit, die erbliche Sehnervenentzündung mit den
Merkmalen männlichen Geschlechtes. Und doch leiden überwiegend Männer,
sehr selten nur Frauen an diesen Störungen.

Im Tierreiche läßt sich naturgemäß solch ein Erbgang durch das Experiment
leicht genau verfolgen: dort findet er sich in weiter Verbreitung. Sein Ver¬
ständnis ist innig verknüpft mit der Auffassung vom Wesen der Geschlechts¬
bestimmung. Im allgemeinen treten Männchen und Weibchen der Tierformen
in nahezu gleicher Anzahl auf; sie zeigen ganz deutlich und grundsätzlich alternatives
Verhalten, bilden anscheinend ein echtes "entweder--oder" Paar. Der Gedanke
lag daher außerordentlich nahe, die Entstehung der beiden Geschlechter als einen
Mendel-Vorgang, als eine Rückkreuzung eines in Ansehung des Geschlechtes
mischerbigen mit einem reinerbigen Individuum aufzufassen. Das eine Geschlecht,
beim Menschen das weibliche, sollte in seinem Erbgute rein weiblich (WV/),
das männliche gemischt männlich-weiblich (WN) sein. Oder im Sinne der
Presence-Absence-Hypothese ausgesprochen würde die Erbschaft einer einfachen Dosis
"Sexualität" -- 88 -- das werdende Wesen zum Manne, die Doppelerbschaft
-- 33 -- zum Weibe machen. Der Anwendung auf den Menschen stehen
noch schwere Bedenken entgegen und auch für die übrigen Organismen stimmen
keineswegs alle Bearbeiter dieser Lösung des Geschlechtsproblemes zu. Sicher
ist jedenfalls, daß viel verwickeltere Erbformeln gelten -- man streitet sich heute
bereits um vierfache Gensysteme, ein Paar für die Anlage der Keimzellen selbst
und ein weiteres für die äußeren und inneren abhängigen Geschlechtsmerkmale.

Wilson verdankt die Wissenschaft den unstreitig elegantesten Deutungs¬
versuch des geschlechtsgekoppelten Erbganges. Kreisen im Erbgute der Generationen
wirklich drei solcher gleichartiger Erbstücke -- 3 -- und geht in der Tat
einmal, etwa beim Manne, mit diesem Gen eine Veränderung vor sich --
etwa zu T --, die z. B. -- in einer allerdings für uns gänzlich unfaßbarer
Wirkungsweise -- den Verlust der normalen Unterschiedsempfindung zwischen
Not und Grün, d. h. den häufigsten Typus der Farbenblindheit bedingt, dann
deuten sich mit dieser einfachen Annahme wie von selbst alle die absonderlichen


Vererbung beim Menschen

Der Typus der rezessiven Vererbung ist für eine Anzahl der Mißbildungen
und Krankheiten mit Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Sie tragen im tabella¬
rischen Verzeichnis auf S. 309 ff. den Zusatz I?.

Eine letzte, vielleicht die interessanteste aller Erbformen ist der Typus der
geschlechtsgekoppelten oder geschlechtsbegrenzten Vererbung. Manche erbliche Eigen¬
tümlichkeiten, Anomalien und Krankheiten befallen — das weiß man seit
altersher — ganz vorzugsweise das eine der beiden Geschlechter, verschonen da¬
gegen das andere gänzlich oder nahezu vollkommen. Keineswegs hängen diese
Erdteile in irgendeiner Weise naturgemäß oder offensichtlich mit der Gestalts¬
eigenart oder den besonderen Leistungen des Mannes oder des Weibes zu¬
sammen: sie haben durchaus nichts mit Geschlechtsmerkmalen irgendwelcher Art
gemein. Keine irgendwie erdenkbare innere Beziehung verknüpft ersichtlich die
Farbenblindheit, die Bluterkrankheit, die erbliche Sehnervenentzündung mit den
Merkmalen männlichen Geschlechtes. Und doch leiden überwiegend Männer,
sehr selten nur Frauen an diesen Störungen.

Im Tierreiche läßt sich naturgemäß solch ein Erbgang durch das Experiment
leicht genau verfolgen: dort findet er sich in weiter Verbreitung. Sein Ver¬
ständnis ist innig verknüpft mit der Auffassung vom Wesen der Geschlechts¬
bestimmung. Im allgemeinen treten Männchen und Weibchen der Tierformen
in nahezu gleicher Anzahl auf; sie zeigen ganz deutlich und grundsätzlich alternatives
Verhalten, bilden anscheinend ein echtes „entweder—oder" Paar. Der Gedanke
lag daher außerordentlich nahe, die Entstehung der beiden Geschlechter als einen
Mendel-Vorgang, als eine Rückkreuzung eines in Ansehung des Geschlechtes
mischerbigen mit einem reinerbigen Individuum aufzufassen. Das eine Geschlecht,
beim Menschen das weibliche, sollte in seinem Erbgute rein weiblich (WV/),
das männliche gemischt männlich-weiblich (WN) sein. Oder im Sinne der
Presence-Absence-Hypothese ausgesprochen würde die Erbschaft einer einfachen Dosis
„Sexualität" — 88 — das werdende Wesen zum Manne, die Doppelerbschaft
— 33 — zum Weibe machen. Der Anwendung auf den Menschen stehen
noch schwere Bedenken entgegen und auch für die übrigen Organismen stimmen
keineswegs alle Bearbeiter dieser Lösung des Geschlechtsproblemes zu. Sicher
ist jedenfalls, daß viel verwickeltere Erbformeln gelten — man streitet sich heute
bereits um vierfache Gensysteme, ein Paar für die Anlage der Keimzellen selbst
und ein weiteres für die äußeren und inneren abhängigen Geschlechtsmerkmale.

Wilson verdankt die Wissenschaft den unstreitig elegantesten Deutungs¬
versuch des geschlechtsgekoppelten Erbganges. Kreisen im Erbgute der Generationen
wirklich drei solcher gleichartiger Erbstücke — 3 — und geht in der Tat
einmal, etwa beim Manne, mit diesem Gen eine Veränderung vor sich —
etwa zu T —, die z. B. — in einer allerdings für uns gänzlich unfaßbarer
Wirkungsweise — den Verlust der normalen Unterschiedsempfindung zwischen
Not und Grün, d. h. den häufigsten Typus der Farbenblindheit bedingt, dann
deuten sich mit dieser einfachen Annahme wie von selbst alle die absonderlichen


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[0316] Vererbung beim Menschen Der Typus der rezessiven Vererbung ist für eine Anzahl der Mißbildungen und Krankheiten mit Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Sie tragen im tabella¬ rischen Verzeichnis auf S. 309 ff. den Zusatz I?. Eine letzte, vielleicht die interessanteste aller Erbformen ist der Typus der geschlechtsgekoppelten oder geschlechtsbegrenzten Vererbung. Manche erbliche Eigen¬ tümlichkeiten, Anomalien und Krankheiten befallen — das weiß man seit altersher — ganz vorzugsweise das eine der beiden Geschlechter, verschonen da¬ gegen das andere gänzlich oder nahezu vollkommen. Keineswegs hängen diese Erdteile in irgendeiner Weise naturgemäß oder offensichtlich mit der Gestalts¬ eigenart oder den besonderen Leistungen des Mannes oder des Weibes zu¬ sammen: sie haben durchaus nichts mit Geschlechtsmerkmalen irgendwelcher Art gemein. Keine irgendwie erdenkbare innere Beziehung verknüpft ersichtlich die Farbenblindheit, die Bluterkrankheit, die erbliche Sehnervenentzündung mit den Merkmalen männlichen Geschlechtes. Und doch leiden überwiegend Männer, sehr selten nur Frauen an diesen Störungen. Im Tierreiche läßt sich naturgemäß solch ein Erbgang durch das Experiment leicht genau verfolgen: dort findet er sich in weiter Verbreitung. Sein Ver¬ ständnis ist innig verknüpft mit der Auffassung vom Wesen der Geschlechts¬ bestimmung. Im allgemeinen treten Männchen und Weibchen der Tierformen in nahezu gleicher Anzahl auf; sie zeigen ganz deutlich und grundsätzlich alternatives Verhalten, bilden anscheinend ein echtes „entweder—oder" Paar. Der Gedanke lag daher außerordentlich nahe, die Entstehung der beiden Geschlechter als einen Mendel-Vorgang, als eine Rückkreuzung eines in Ansehung des Geschlechtes mischerbigen mit einem reinerbigen Individuum aufzufassen. Das eine Geschlecht, beim Menschen das weibliche, sollte in seinem Erbgute rein weiblich (WV/), das männliche gemischt männlich-weiblich (WN) sein. Oder im Sinne der Presence-Absence-Hypothese ausgesprochen würde die Erbschaft einer einfachen Dosis „Sexualität" — 88 — das werdende Wesen zum Manne, die Doppelerbschaft — 33 — zum Weibe machen. Der Anwendung auf den Menschen stehen noch schwere Bedenken entgegen und auch für die übrigen Organismen stimmen keineswegs alle Bearbeiter dieser Lösung des Geschlechtsproblemes zu. Sicher ist jedenfalls, daß viel verwickeltere Erbformeln gelten — man streitet sich heute bereits um vierfache Gensysteme, ein Paar für die Anlage der Keimzellen selbst und ein weiteres für die äußeren und inneren abhängigen Geschlechtsmerkmale. Wilson verdankt die Wissenschaft den unstreitig elegantesten Deutungs¬ versuch des geschlechtsgekoppelten Erbganges. Kreisen im Erbgute der Generationen wirklich drei solcher gleichartiger Erbstücke — 3 — und geht in der Tat einmal, etwa beim Manne, mit diesem Gen eine Veränderung vor sich — etwa zu T —, die z. B. — in einer allerdings für uns gänzlich unfaßbarer Wirkungsweise — den Verlust der normalen Unterschiedsempfindung zwischen Not und Grün, d. h. den häufigsten Typus der Farbenblindheit bedingt, dann deuten sich mit dieser einfachen Annahme wie von selbst alle die absonderlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/316>, abgerufen am 27.06.2024.