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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vererbung beim Menschen

chemischen Lebenserscheinungen haben einen Einblick in die verwickelten Be¬
ziehungen eröffnet, die den Stoffwechsel des Organismus regeln. Auch den
normalen Biochemismus der Lebewesen beherrschen Erbeinheiten, deren Verlust
oder Änderung sich in erblichen Veränderungen des Stoffumsatzes äußert.
Abderhalden wies nach, daß es bestimmte im Blutserum kreisende, unter be¬
stimmten Vorbedingungen nachweisbare Substanzen sind, die z. B. den Abbau
der Nahrungseiweißstoffe regeln. Für Anomalien dieses Abbaues mit dem
Erfolge des Auftretens unvollkommen aufgespaltener Nährsubstanzen ist bei
einigen erblichen Stoffwechselkrankheiten der Erbgang bereits einigermaßen ver¬
ständlich geworden. In die gleiche Reihe erblicher biochemischer Anlagen gehört
die Entdeckung, daß Giftfestigkeitserscheinungen, Jmmunitätsreaktionen, bei ihrer
Vererbung der Wendet-Regel folgen.

Für die Mehrzahl aller Vererbungsfälle gilt im allgemeinen große Be¬
ständigkeit in ihrem Erbverhalten. Genau aber wie im Pflanzen- und Tier¬
versuch die Erdart derselben -- oder anscheinend derselben -- Eigenheiten nicht
immer die gleiche ist, wie dominantes Weiß neben rezessivem vorkommt, so
braucht auch die gleiche menschliche Störung nicht ausnahmslos zwangsmäßig
dem gleichen Erbschema zu folgen. Vorsicht im Urteil erscheint naturgemäß in
diesen Fällen in besonders hohem Grade geboten, und Änderungen in der
Formulierung der Gene können mit der Zeit in solchen Fällen manches um¬
gestalten.

Der rezessive Erbgang kennzeichnet sich indes durch derart auffallende
Merkzeichen gegenüber dem dominanten, daß in nicht zu verwickelten Fällen im
allgemeinen eine Entscheidung unschwer zu treffen ist.

Die Betrachtung der Stammtafel auf S. 253 lehrt alles Notwendige.
Für den Fall der Dominanz sind als krank alle ol) und OK, d. h. die schwarzen
und die schraffierten Personen zusammenzurechnen. Gesund sind nur die weißen.
Umgekehrt haben für den Fall der Rezession nur die weißen als krank zu
gelten, die schwarzen und schraffierten zusammen aber als gesund.

Es lassen sich dann leicht die grundlegenden Gegensätze (s. S. 302) auf¬
zeigen.

Den praktisch wichtigsten Unterschied beider Erdarten bedeutet das Auf¬
treten von Individuen bei Rezession, die (Ur. 3) persönlich völlig gesund sind,
aber die kranken Erbanlagen heimlich in ihrem Erbgute von Generation zu
Generation weiterschleppen.

Der modernen Seuchenlehre ist es ein leichtes, mit ihren Hilfsmitteln ein
Land vor der Einschleppung von Cholera und Pest, von schwarzen Pocken und
Flecktyphus zu schützen. Der Arzt vermag bei Scharlach und Diphtherie die ge¬
sunden Familienmitglieder sehr wohl vor Infektion zu bewahren: vorausgesetzt, daß
eines ihnen möglich ist, nämlich den ersten Fall abzufangen. Dazu aber
müssen sie in der Lage sein, den Träger des krankmachenden Lebewesens auch
als wirklich Kranken erkennen zu können. Besorgnis und umfassende Vor-


Vererbung beim Menschen

chemischen Lebenserscheinungen haben einen Einblick in die verwickelten Be¬
ziehungen eröffnet, die den Stoffwechsel des Organismus regeln. Auch den
normalen Biochemismus der Lebewesen beherrschen Erbeinheiten, deren Verlust
oder Änderung sich in erblichen Veränderungen des Stoffumsatzes äußert.
Abderhalden wies nach, daß es bestimmte im Blutserum kreisende, unter be¬
stimmten Vorbedingungen nachweisbare Substanzen sind, die z. B. den Abbau
der Nahrungseiweißstoffe regeln. Für Anomalien dieses Abbaues mit dem
Erfolge des Auftretens unvollkommen aufgespaltener Nährsubstanzen ist bei
einigen erblichen Stoffwechselkrankheiten der Erbgang bereits einigermaßen ver¬
ständlich geworden. In die gleiche Reihe erblicher biochemischer Anlagen gehört
die Entdeckung, daß Giftfestigkeitserscheinungen, Jmmunitätsreaktionen, bei ihrer
Vererbung der Wendet-Regel folgen.

Für die Mehrzahl aller Vererbungsfälle gilt im allgemeinen große Be¬
ständigkeit in ihrem Erbverhalten. Genau aber wie im Pflanzen- und Tier¬
versuch die Erdart derselben — oder anscheinend derselben — Eigenheiten nicht
immer die gleiche ist, wie dominantes Weiß neben rezessivem vorkommt, so
braucht auch die gleiche menschliche Störung nicht ausnahmslos zwangsmäßig
dem gleichen Erbschema zu folgen. Vorsicht im Urteil erscheint naturgemäß in
diesen Fällen in besonders hohem Grade geboten, und Änderungen in der
Formulierung der Gene können mit der Zeit in solchen Fällen manches um¬
gestalten.

Der rezessive Erbgang kennzeichnet sich indes durch derart auffallende
Merkzeichen gegenüber dem dominanten, daß in nicht zu verwickelten Fällen im
allgemeinen eine Entscheidung unschwer zu treffen ist.

Die Betrachtung der Stammtafel auf S. 253 lehrt alles Notwendige.
Für den Fall der Dominanz sind als krank alle ol) und OK, d. h. die schwarzen
und die schraffierten Personen zusammenzurechnen. Gesund sind nur die weißen.
Umgekehrt haben für den Fall der Rezession nur die weißen als krank zu
gelten, die schwarzen und schraffierten zusammen aber als gesund.

Es lassen sich dann leicht die grundlegenden Gegensätze (s. S. 302) auf¬
zeigen.

Den praktisch wichtigsten Unterschied beider Erdarten bedeutet das Auf¬
treten von Individuen bei Rezession, die (Ur. 3) persönlich völlig gesund sind,
aber die kranken Erbanlagen heimlich in ihrem Erbgute von Generation zu
Generation weiterschleppen.

Der modernen Seuchenlehre ist es ein leichtes, mit ihren Hilfsmitteln ein
Land vor der Einschleppung von Cholera und Pest, von schwarzen Pocken und
Flecktyphus zu schützen. Der Arzt vermag bei Scharlach und Diphtherie die ge¬
sunden Familienmitglieder sehr wohl vor Infektion zu bewahren: vorausgesetzt, daß
eines ihnen möglich ist, nämlich den ersten Fall abzufangen. Dazu aber
müssen sie in der Lage sein, den Träger des krankmachenden Lebewesens auch
als wirklich Kranken erkennen zu können. Besorgnis und umfassende Vor-


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[0313] Vererbung beim Menschen chemischen Lebenserscheinungen haben einen Einblick in die verwickelten Be¬ ziehungen eröffnet, die den Stoffwechsel des Organismus regeln. Auch den normalen Biochemismus der Lebewesen beherrschen Erbeinheiten, deren Verlust oder Änderung sich in erblichen Veränderungen des Stoffumsatzes äußert. Abderhalden wies nach, daß es bestimmte im Blutserum kreisende, unter be¬ stimmten Vorbedingungen nachweisbare Substanzen sind, die z. B. den Abbau der Nahrungseiweißstoffe regeln. Für Anomalien dieses Abbaues mit dem Erfolge des Auftretens unvollkommen aufgespaltener Nährsubstanzen ist bei einigen erblichen Stoffwechselkrankheiten der Erbgang bereits einigermaßen ver¬ ständlich geworden. In die gleiche Reihe erblicher biochemischer Anlagen gehört die Entdeckung, daß Giftfestigkeitserscheinungen, Jmmunitätsreaktionen, bei ihrer Vererbung der Wendet-Regel folgen. Für die Mehrzahl aller Vererbungsfälle gilt im allgemeinen große Be¬ ständigkeit in ihrem Erbverhalten. Genau aber wie im Pflanzen- und Tier¬ versuch die Erdart derselben — oder anscheinend derselben — Eigenheiten nicht immer die gleiche ist, wie dominantes Weiß neben rezessivem vorkommt, so braucht auch die gleiche menschliche Störung nicht ausnahmslos zwangsmäßig dem gleichen Erbschema zu folgen. Vorsicht im Urteil erscheint naturgemäß in diesen Fällen in besonders hohem Grade geboten, und Änderungen in der Formulierung der Gene können mit der Zeit in solchen Fällen manches um¬ gestalten. Der rezessive Erbgang kennzeichnet sich indes durch derart auffallende Merkzeichen gegenüber dem dominanten, daß in nicht zu verwickelten Fällen im allgemeinen eine Entscheidung unschwer zu treffen ist. Die Betrachtung der Stammtafel auf S. 253 lehrt alles Notwendige. Für den Fall der Dominanz sind als krank alle ol) und OK, d. h. die schwarzen und die schraffierten Personen zusammenzurechnen. Gesund sind nur die weißen. Umgekehrt haben für den Fall der Rezession nur die weißen als krank zu gelten, die schwarzen und schraffierten zusammen aber als gesund. Es lassen sich dann leicht die grundlegenden Gegensätze (s. S. 302) auf¬ zeigen. Den praktisch wichtigsten Unterschied beider Erdarten bedeutet das Auf¬ treten von Individuen bei Rezession, die (Ur. 3) persönlich völlig gesund sind, aber die kranken Erbanlagen heimlich in ihrem Erbgute von Generation zu Generation weiterschleppen. Der modernen Seuchenlehre ist es ein leichtes, mit ihren Hilfsmitteln ein Land vor der Einschleppung von Cholera und Pest, von schwarzen Pocken und Flecktyphus zu schützen. Der Arzt vermag bei Scharlach und Diphtherie die ge¬ sunden Familienmitglieder sehr wohl vor Infektion zu bewahren: vorausgesetzt, daß eines ihnen möglich ist, nämlich den ersten Fall abzufangen. Dazu aber müssen sie in der Lage sein, den Träger des krankmachenden Lebewesens auch als wirklich Kranken erkennen zu können. Besorgnis und umfassende Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/313>, abgerufen am 27.06.2024.