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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vererbung beim Menschen

Schöne Untersuchungen, besonders des Engländers Hurst, haben die Erbüber¬
tragung der Augenfarbe Ilargelegt. Wie bei der Haarfabe dominiert hier der
farbstoffhaltigere Zustand über den minder dunkeln. Der Farbstoff selbst findet
sich in den vorderen Schichten der Regenbogenhaut in Form tiefbrauner
Körnchen abgelagert. Fehlen diese vollständig, so erscheint die Iris blau, weil
durch ihr dichtes Gewebe der Jrisabschnitt der Netzhaut mit seinem sehr dunklen
Farbstoff abgedämpft durchschimmert. Oft erscheinen die Augen auch dann
blau, wenn nähere Prüfung braune Fleckchen oder Pünktchen nachzuweisen im¬
stande ist: man muß mit dem Urteil "blau" daher vorsichtig sein. Die An-
Wesenheit auch nur eines Fleckchens genügt, um den Besitzer als mischerbig zu
kennzeichnen, als Träger mindestens einer Einheit für Farbstoffbildung in jenen
Gewebsschichten. Anlage zur Farbbildung in der Iris dominiert über Fehlen
dieser Fähigkeit; Färbung der gesamten Jrisfläche dominiert über die Anord¬
nung des Farbstoffes zu Flecken oder zu einem Farbringe um das Sehloch
herum. Lichtäugige Menschen sind reinerbig-rezessiv für Augenfarbstoff-
bildung: Kinder solcher reiner blauäugiger Gatten haben stets wieder blaue
Augen. Führt der eine Elter indes die Farbanlage im Erbgute, so entstehen
entweder nur Geschwister mit dunkler Iris oder die Hälfte hat helle, die andere
dunkle Augen (beobachtet 53 Prozent zu 47 Prozent). Führen beide Gatten
in irgendeiner Form Farbstoffanlage für die Regenbogenhaut als Erbtum, so
gehen aus Kreuzungen zweier mischerbiger Gatten 3:1 (beobachtet 71 Prozent
zu 29 Prozent) dunkle zu hellen, oder aus der Ehe eines rein- mit einem
mischerbigen 100 Prozent dunkeläugige Kinder hervor. Die Entstehung von
gelben, grünen, grauen Färbungen bedarf noch einer eingehenderen Nachunter¬
suchung.

Die Vererbung der Hautfarbe bildet ein heute noch ungelöstes Erbproblem;
indessen find Störungen in der Entwicklung des Hautpigments -- teilweise oder
vollständige Weißhäutigkeit, die auch an Haaren und Augen auftritt -- einiger¬
maßen verständlich geworden durch die Annahme, daß diese Anomalie einmal
sowohl bei reinerbig-rezessiven Individuen auftritt, in anderen Fällen aber
sich dominant vererbt. Auch bei Tieren kommt neben rezessivem ein dominantes
Weiß vor.

Mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit läßt sich für eine große
Anzahl der Gestaltmerkmale der Mendel-Gang der Übertragung erkennen: für
Körpergröße und ihre einseitigen Abweichungen, z. B. Zwergwuchs, für die
Form des Kopfes und des Gesichtes, mit großer Sicherheit z. B. für die Stirn¬
breite (Fischer). Auch die Form und Weite der Lidspalte, die Formen der
Nase verhalten sich ähnlich. Auf eine große Anzahl solcher Einzelzüge geht
schließlich der Gesamteindruck zurück, den eine Physiognomie auf den Beobachter
macht. Bestimmte sehr ausgeprägte Rasse- und Familienphysiognomien find
daher in ausgesprochener Art nach Mendels Regel verfolgbar: z. B. der Habs¬
burger Typ mit seiner herabhängenden Unterlippe und dem vorspringenden


Vererbung beim Menschen

Schöne Untersuchungen, besonders des Engländers Hurst, haben die Erbüber¬
tragung der Augenfarbe Ilargelegt. Wie bei der Haarfabe dominiert hier der
farbstoffhaltigere Zustand über den minder dunkeln. Der Farbstoff selbst findet
sich in den vorderen Schichten der Regenbogenhaut in Form tiefbrauner
Körnchen abgelagert. Fehlen diese vollständig, so erscheint die Iris blau, weil
durch ihr dichtes Gewebe der Jrisabschnitt der Netzhaut mit seinem sehr dunklen
Farbstoff abgedämpft durchschimmert. Oft erscheinen die Augen auch dann
blau, wenn nähere Prüfung braune Fleckchen oder Pünktchen nachzuweisen im¬
stande ist: man muß mit dem Urteil „blau" daher vorsichtig sein. Die An-
Wesenheit auch nur eines Fleckchens genügt, um den Besitzer als mischerbig zu
kennzeichnen, als Träger mindestens einer Einheit für Farbstoffbildung in jenen
Gewebsschichten. Anlage zur Farbbildung in der Iris dominiert über Fehlen
dieser Fähigkeit; Färbung der gesamten Jrisfläche dominiert über die Anord¬
nung des Farbstoffes zu Flecken oder zu einem Farbringe um das Sehloch
herum. Lichtäugige Menschen sind reinerbig-rezessiv für Augenfarbstoff-
bildung: Kinder solcher reiner blauäugiger Gatten haben stets wieder blaue
Augen. Führt der eine Elter indes die Farbanlage im Erbgute, so entstehen
entweder nur Geschwister mit dunkler Iris oder die Hälfte hat helle, die andere
dunkle Augen (beobachtet 53 Prozent zu 47 Prozent). Führen beide Gatten
in irgendeiner Form Farbstoffanlage für die Regenbogenhaut als Erbtum, so
gehen aus Kreuzungen zweier mischerbiger Gatten 3:1 (beobachtet 71 Prozent
zu 29 Prozent) dunkle zu hellen, oder aus der Ehe eines rein- mit einem
mischerbigen 100 Prozent dunkeläugige Kinder hervor. Die Entstehung von
gelben, grünen, grauen Färbungen bedarf noch einer eingehenderen Nachunter¬
suchung.

Die Vererbung der Hautfarbe bildet ein heute noch ungelöstes Erbproblem;
indessen find Störungen in der Entwicklung des Hautpigments — teilweise oder
vollständige Weißhäutigkeit, die auch an Haaren und Augen auftritt — einiger¬
maßen verständlich geworden durch die Annahme, daß diese Anomalie einmal
sowohl bei reinerbig-rezessiven Individuen auftritt, in anderen Fällen aber
sich dominant vererbt. Auch bei Tieren kommt neben rezessivem ein dominantes
Weiß vor.

Mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit läßt sich für eine große
Anzahl der Gestaltmerkmale der Mendel-Gang der Übertragung erkennen: für
Körpergröße und ihre einseitigen Abweichungen, z. B. Zwergwuchs, für die
Form des Kopfes und des Gesichtes, mit großer Sicherheit z. B. für die Stirn¬
breite (Fischer). Auch die Form und Weite der Lidspalte, die Formen der
Nase verhalten sich ähnlich. Auf eine große Anzahl solcher Einzelzüge geht
schließlich der Gesamteindruck zurück, den eine Physiognomie auf den Beobachter
macht. Bestimmte sehr ausgeprägte Rasse- und Familienphysiognomien find
daher in ausgesprochener Art nach Mendels Regel verfolgbar: z. B. der Habs¬
burger Typ mit seiner herabhängenden Unterlippe und dem vorspringenden


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[0310] Vererbung beim Menschen Schöne Untersuchungen, besonders des Engländers Hurst, haben die Erbüber¬ tragung der Augenfarbe Ilargelegt. Wie bei der Haarfabe dominiert hier der farbstoffhaltigere Zustand über den minder dunkeln. Der Farbstoff selbst findet sich in den vorderen Schichten der Regenbogenhaut in Form tiefbrauner Körnchen abgelagert. Fehlen diese vollständig, so erscheint die Iris blau, weil durch ihr dichtes Gewebe der Jrisabschnitt der Netzhaut mit seinem sehr dunklen Farbstoff abgedämpft durchschimmert. Oft erscheinen die Augen auch dann blau, wenn nähere Prüfung braune Fleckchen oder Pünktchen nachzuweisen im¬ stande ist: man muß mit dem Urteil „blau" daher vorsichtig sein. Die An- Wesenheit auch nur eines Fleckchens genügt, um den Besitzer als mischerbig zu kennzeichnen, als Träger mindestens einer Einheit für Farbstoffbildung in jenen Gewebsschichten. Anlage zur Farbbildung in der Iris dominiert über Fehlen dieser Fähigkeit; Färbung der gesamten Jrisfläche dominiert über die Anord¬ nung des Farbstoffes zu Flecken oder zu einem Farbringe um das Sehloch herum. Lichtäugige Menschen sind reinerbig-rezessiv für Augenfarbstoff- bildung: Kinder solcher reiner blauäugiger Gatten haben stets wieder blaue Augen. Führt der eine Elter indes die Farbanlage im Erbgute, so entstehen entweder nur Geschwister mit dunkler Iris oder die Hälfte hat helle, die andere dunkle Augen (beobachtet 53 Prozent zu 47 Prozent). Führen beide Gatten in irgendeiner Form Farbstoffanlage für die Regenbogenhaut als Erbtum, so gehen aus Kreuzungen zweier mischerbiger Gatten 3:1 (beobachtet 71 Prozent zu 29 Prozent) dunkle zu hellen, oder aus der Ehe eines rein- mit einem mischerbigen 100 Prozent dunkeläugige Kinder hervor. Die Entstehung von gelben, grünen, grauen Färbungen bedarf noch einer eingehenderen Nachunter¬ suchung. Die Vererbung der Hautfarbe bildet ein heute noch ungelöstes Erbproblem; indessen find Störungen in der Entwicklung des Hautpigments — teilweise oder vollständige Weißhäutigkeit, die auch an Haaren und Augen auftritt — einiger¬ maßen verständlich geworden durch die Annahme, daß diese Anomalie einmal sowohl bei reinerbig-rezessiven Individuen auftritt, in anderen Fällen aber sich dominant vererbt. Auch bei Tieren kommt neben rezessivem ein dominantes Weiß vor. Mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit läßt sich für eine große Anzahl der Gestaltmerkmale der Mendel-Gang der Übertragung erkennen: für Körpergröße und ihre einseitigen Abweichungen, z. B. Zwergwuchs, für die Form des Kopfes und des Gesichtes, mit großer Sicherheit z. B. für die Stirn¬ breite (Fischer). Auch die Form und Weite der Lidspalte, die Formen der Nase verhalten sich ähnlich. Auf eine große Anzahl solcher Einzelzüge geht schließlich der Gesamteindruck zurück, den eine Physiognomie auf den Beobachter macht. Bestimmte sehr ausgeprägte Rasse- und Familienphysiognomien find daher in ausgesprochener Art nach Mendels Regel verfolgbar: z. B. der Habs¬ burger Typ mit seiner herabhängenden Unterlippe und dem vorspringenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/310>, abgerufen am 27.06.2024.