Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wirtschaft und Kunst

hier wie überall in engem Zusammenhange mit dem Werden der modernen
englischen Kultur, deren geistiger Führer Carlnle ist. Er begann in einer Zeit
zu wirken, in der die Produktion entarten zu wollen schien, als "billig und
schlecht" die Parole der englischen Industrie war und man mit Schund und
Talmiware den Weltmarkt zu erobern versuchte. Zwar hat der bedeutende
Denker, der im Grunde ein unkünstlerischer Mensch war und bei seiner Ab¬
neigung gegen die schönen Künste für Demokratisierung der Kunst und Ästheti-
sierung der Industrie kein Verständnis besaß, keinen unmittelbaren Einfluß auf
die Entstehung der englischen Kunstgewerbebewegung ausgeübt, trotzdem aber
durch seine scharfe Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer sach¬
lichen Ergebnisse, sowie durch die Forderung einer beglückenderer Gestaltung der
Arbeit auf die beiden Schöpfer der englischen Kunstgewerbebewegung, Ruskin und
Morris, befruchtend und anregend gewirkt. Ruskin war es, der mit allem
Nachdruck auf die Herabwürdigung des Arbeiters zur Maschine im Fabrik¬
betriebe hinwies und zuerst betonte, daß schöne Formen nur von Menschen
ersonnen und hergestellt werden können, die selbst einigermaßen mit schönen
Formen umgeben sind, daß also eine Hebung der gewerblichen Produktion nur
denkbar sei bei gleichzeitiger Verschönerung der Umgebung und Verbesserung
der Lebensverhültnisse der Arbeiter. Wahre Steigerung der wirtschaftlichen
Produktivität sei nicht vereinbar mit Lug und Trug in Konstruktion, Technik
und Materialbehandlung, sondern gehe stets Hand in Hand mit Echtheit und
Wahrhaftigkeit, und sei nicht zuletzt bedingt durch Formveredlung und Durch¬
dringung der ganzen Produktion mit künstlerischen Elementen. Korrektur der
herrschenden Wirtschaftsordnung vom künstlerischen Standpunkte aus: das war
die Hauptforderung und das Ziel Ruskins, das er in seinen zahllosen Vor¬
trägen und Abhandlungen zur politischen Ökonomie der Kunst immer und
immer wieder betonte. Das Publikum sollte auf alle Bequemlichkeit, Billigkeit
oder Schönheit, die die Herabwürdigung des Arbeiters zur notwendigen Voraus¬
setzung haben, verzichten, und von den Industriellen verlangte er eine Hebung des
Marktes, dadurch daß sie ihn versorgten -- Gedanken, von denen besonders der
letzte nachmals auch außerhalb Englands von größter Bedeutung werden sollte.
Die Wege freilich, die die Industrie gehen mußte, um das bezeichnete Ziel zu
erreichen, wußte Ruskin nicht anzugeben. Sein Ideal einer neuen Gesellschafts¬
und Wirtschaftsorganisation trug im ganzen einen reaktionären Charakter. Die
Sehnsucht nach der Wiederbelebung mittelalterlicher Handwerkskunst trübte ihm
den Blick und ließ ihn nicht die Möglichkeiten einer Gesundung der industriellen
Massenproduktion im Sinne ihrer Ästheüsierung erkennen. Die Abneigung gegen
die moderne Zivilisation teilte er mit Morris, dem ersten schöpferischen Künstler
der Bewegung. Er haßte die Maschine, deren kapitalistische Verwertung er in
blinder Verkennung der ökonomischen Notwendigkeit beseitigt sehen wollte. Ihm
schwebte als Ideal eine Gesellschaftsordnung vor. deren belebende Seele die
Kunst ist. in der dem Arbeiter die Möglichkeit gegeben ist. seiner Tätigkeit


Wirtschaft und Kunst

hier wie überall in engem Zusammenhange mit dem Werden der modernen
englischen Kultur, deren geistiger Führer Carlnle ist. Er begann in einer Zeit
zu wirken, in der die Produktion entarten zu wollen schien, als „billig und
schlecht" die Parole der englischen Industrie war und man mit Schund und
Talmiware den Weltmarkt zu erobern versuchte. Zwar hat der bedeutende
Denker, der im Grunde ein unkünstlerischer Mensch war und bei seiner Ab¬
neigung gegen die schönen Künste für Demokratisierung der Kunst und Ästheti-
sierung der Industrie kein Verständnis besaß, keinen unmittelbaren Einfluß auf
die Entstehung der englischen Kunstgewerbebewegung ausgeübt, trotzdem aber
durch seine scharfe Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer sach¬
lichen Ergebnisse, sowie durch die Forderung einer beglückenderer Gestaltung der
Arbeit auf die beiden Schöpfer der englischen Kunstgewerbebewegung, Ruskin und
Morris, befruchtend und anregend gewirkt. Ruskin war es, der mit allem
Nachdruck auf die Herabwürdigung des Arbeiters zur Maschine im Fabrik¬
betriebe hinwies und zuerst betonte, daß schöne Formen nur von Menschen
ersonnen und hergestellt werden können, die selbst einigermaßen mit schönen
Formen umgeben sind, daß also eine Hebung der gewerblichen Produktion nur
denkbar sei bei gleichzeitiger Verschönerung der Umgebung und Verbesserung
der Lebensverhültnisse der Arbeiter. Wahre Steigerung der wirtschaftlichen
Produktivität sei nicht vereinbar mit Lug und Trug in Konstruktion, Technik
und Materialbehandlung, sondern gehe stets Hand in Hand mit Echtheit und
Wahrhaftigkeit, und sei nicht zuletzt bedingt durch Formveredlung und Durch¬
dringung der ganzen Produktion mit künstlerischen Elementen. Korrektur der
herrschenden Wirtschaftsordnung vom künstlerischen Standpunkte aus: das war
die Hauptforderung und das Ziel Ruskins, das er in seinen zahllosen Vor¬
trägen und Abhandlungen zur politischen Ökonomie der Kunst immer und
immer wieder betonte. Das Publikum sollte auf alle Bequemlichkeit, Billigkeit
oder Schönheit, die die Herabwürdigung des Arbeiters zur notwendigen Voraus¬
setzung haben, verzichten, und von den Industriellen verlangte er eine Hebung des
Marktes, dadurch daß sie ihn versorgten — Gedanken, von denen besonders der
letzte nachmals auch außerhalb Englands von größter Bedeutung werden sollte.
Die Wege freilich, die die Industrie gehen mußte, um das bezeichnete Ziel zu
erreichen, wußte Ruskin nicht anzugeben. Sein Ideal einer neuen Gesellschafts¬
und Wirtschaftsorganisation trug im ganzen einen reaktionären Charakter. Die
Sehnsucht nach der Wiederbelebung mittelalterlicher Handwerkskunst trübte ihm
den Blick und ließ ihn nicht die Möglichkeiten einer Gesundung der industriellen
Massenproduktion im Sinne ihrer Ästheüsierung erkennen. Die Abneigung gegen
die moderne Zivilisation teilte er mit Morris, dem ersten schöpferischen Künstler
der Bewegung. Er haßte die Maschine, deren kapitalistische Verwertung er in
blinder Verkennung der ökonomischen Notwendigkeit beseitigt sehen wollte. Ihm
schwebte als Ideal eine Gesellschaftsordnung vor. deren belebende Seele die
Kunst ist. in der dem Arbeiter die Möglichkeit gegeben ist. seiner Tätigkeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0215" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328315"/>
          <fw type="header" place="top"> Wirtschaft und Kunst</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_946" prev="#ID_945" next="#ID_947"> hier wie überall in engem Zusammenhange mit dem Werden der modernen<lb/>
englischen Kultur, deren geistiger Führer Carlnle ist. Er begann in einer Zeit<lb/>
zu wirken, in der die Produktion entarten zu wollen schien, als &#x201E;billig und<lb/>
schlecht" die Parole der englischen Industrie war und man mit Schund und<lb/>
Talmiware den Weltmarkt zu erobern versuchte. Zwar hat der bedeutende<lb/>
Denker, der im Grunde ein unkünstlerischer Mensch war und bei seiner Ab¬<lb/>
neigung gegen die schönen Künste für Demokratisierung der Kunst und Ästheti-<lb/>
sierung der Industrie kein Verständnis besaß, keinen unmittelbaren Einfluß auf<lb/>
die Entstehung der englischen Kunstgewerbebewegung ausgeübt, trotzdem aber<lb/>
durch seine scharfe Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer sach¬<lb/>
lichen Ergebnisse, sowie durch die Forderung einer beglückenderer Gestaltung der<lb/>
Arbeit auf die beiden Schöpfer der englischen Kunstgewerbebewegung, Ruskin und<lb/>
Morris, befruchtend und anregend gewirkt. Ruskin war es, der mit allem<lb/>
Nachdruck auf die Herabwürdigung des Arbeiters zur Maschine im Fabrik¬<lb/>
betriebe hinwies und zuerst betonte, daß schöne Formen nur von Menschen<lb/>
ersonnen und hergestellt werden können, die selbst einigermaßen mit schönen<lb/>
Formen umgeben sind, daß also eine Hebung der gewerblichen Produktion nur<lb/>
denkbar sei bei gleichzeitiger Verschönerung der Umgebung und Verbesserung<lb/>
der Lebensverhültnisse der Arbeiter.  Wahre Steigerung der wirtschaftlichen<lb/>
Produktivität sei nicht vereinbar mit Lug und Trug in Konstruktion, Technik<lb/>
und Materialbehandlung, sondern gehe stets Hand in Hand mit Echtheit und<lb/>
Wahrhaftigkeit, und sei nicht zuletzt bedingt durch Formveredlung und Durch¬<lb/>
dringung der ganzen Produktion mit künstlerischen Elementen. Korrektur der<lb/>
herrschenden Wirtschaftsordnung vom künstlerischen Standpunkte aus: das war<lb/>
die Hauptforderung und das Ziel Ruskins, das er in seinen zahllosen Vor¬<lb/>
trägen und Abhandlungen zur politischen Ökonomie der Kunst immer und<lb/>
immer wieder betonte. Das Publikum sollte auf alle Bequemlichkeit, Billigkeit<lb/>
oder Schönheit, die die Herabwürdigung des Arbeiters zur notwendigen Voraus¬<lb/>
setzung haben, verzichten, und von den Industriellen verlangte er eine Hebung des<lb/>
Marktes, dadurch daß sie ihn versorgten &#x2014; Gedanken, von denen besonders der<lb/>
letzte nachmals auch außerhalb Englands von größter Bedeutung werden sollte.<lb/>
Die Wege freilich, die die Industrie gehen mußte, um das bezeichnete Ziel zu<lb/>
erreichen, wußte Ruskin nicht anzugeben. Sein Ideal einer neuen Gesellschafts¬<lb/>
und Wirtschaftsorganisation trug im ganzen einen reaktionären Charakter. Die<lb/>
Sehnsucht nach der Wiederbelebung mittelalterlicher Handwerkskunst trübte ihm<lb/>
den Blick und ließ ihn nicht die Möglichkeiten einer Gesundung der industriellen<lb/>
Massenproduktion im Sinne ihrer Ästheüsierung erkennen. Die Abneigung gegen<lb/>
die moderne Zivilisation teilte er mit Morris, dem ersten schöpferischen Künstler<lb/>
der Bewegung.  Er haßte die Maschine, deren kapitalistische Verwertung er in<lb/>
blinder Verkennung der ökonomischen Notwendigkeit beseitigt sehen wollte. Ihm<lb/>
schwebte als Ideal eine Gesellschaftsordnung vor. deren belebende Seele die<lb/>
Kunst ist. in der dem Arbeiter die Möglichkeit gegeben ist. seiner Tätigkeit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0215] Wirtschaft und Kunst hier wie überall in engem Zusammenhange mit dem Werden der modernen englischen Kultur, deren geistiger Führer Carlnle ist. Er begann in einer Zeit zu wirken, in der die Produktion entarten zu wollen schien, als „billig und schlecht" die Parole der englischen Industrie war und man mit Schund und Talmiware den Weltmarkt zu erobern versuchte. Zwar hat der bedeutende Denker, der im Grunde ein unkünstlerischer Mensch war und bei seiner Ab¬ neigung gegen die schönen Künste für Demokratisierung der Kunst und Ästheti- sierung der Industrie kein Verständnis besaß, keinen unmittelbaren Einfluß auf die Entstehung der englischen Kunstgewerbebewegung ausgeübt, trotzdem aber durch seine scharfe Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer sach¬ lichen Ergebnisse, sowie durch die Forderung einer beglückenderer Gestaltung der Arbeit auf die beiden Schöpfer der englischen Kunstgewerbebewegung, Ruskin und Morris, befruchtend und anregend gewirkt. Ruskin war es, der mit allem Nachdruck auf die Herabwürdigung des Arbeiters zur Maschine im Fabrik¬ betriebe hinwies und zuerst betonte, daß schöne Formen nur von Menschen ersonnen und hergestellt werden können, die selbst einigermaßen mit schönen Formen umgeben sind, daß also eine Hebung der gewerblichen Produktion nur denkbar sei bei gleichzeitiger Verschönerung der Umgebung und Verbesserung der Lebensverhültnisse der Arbeiter. Wahre Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität sei nicht vereinbar mit Lug und Trug in Konstruktion, Technik und Materialbehandlung, sondern gehe stets Hand in Hand mit Echtheit und Wahrhaftigkeit, und sei nicht zuletzt bedingt durch Formveredlung und Durch¬ dringung der ganzen Produktion mit künstlerischen Elementen. Korrektur der herrschenden Wirtschaftsordnung vom künstlerischen Standpunkte aus: das war die Hauptforderung und das Ziel Ruskins, das er in seinen zahllosen Vor¬ trägen und Abhandlungen zur politischen Ökonomie der Kunst immer und immer wieder betonte. Das Publikum sollte auf alle Bequemlichkeit, Billigkeit oder Schönheit, die die Herabwürdigung des Arbeiters zur notwendigen Voraus¬ setzung haben, verzichten, und von den Industriellen verlangte er eine Hebung des Marktes, dadurch daß sie ihn versorgten — Gedanken, von denen besonders der letzte nachmals auch außerhalb Englands von größter Bedeutung werden sollte. Die Wege freilich, die die Industrie gehen mußte, um das bezeichnete Ziel zu erreichen, wußte Ruskin nicht anzugeben. Sein Ideal einer neuen Gesellschafts¬ und Wirtschaftsorganisation trug im ganzen einen reaktionären Charakter. Die Sehnsucht nach der Wiederbelebung mittelalterlicher Handwerkskunst trübte ihm den Blick und ließ ihn nicht die Möglichkeiten einer Gesundung der industriellen Massenproduktion im Sinne ihrer Ästheüsierung erkennen. Die Abneigung gegen die moderne Zivilisation teilte er mit Morris, dem ersten schöpferischen Künstler der Bewegung. Er haßte die Maschine, deren kapitalistische Verwertung er in blinder Verkennung der ökonomischen Notwendigkeit beseitigt sehen wollte. Ihm schwebte als Ideal eine Gesellschaftsordnung vor. deren belebende Seele die Kunst ist. in der dem Arbeiter die Möglichkeit gegeben ist. seiner Tätigkeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/215
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/215>, abgerufen am 24.07.2024.