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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Die Zukunft am Balkan

Da sowohl Österreich - Ungarn als Rußland von Anfang an entschlossen
waren, auf eigene Erwerbungen am Balkan zu verzichten, und da alle Beschlüsse
des Konzerts unter Mitwirkung und Zustimmung beider gefaßt sind, so enthält
die Lösung der europäischen Krisis eine nicht geringe Gewähr, daß diese letzte
Balkankrisis an sich keine Quelle neuer Zerwürfnisse zwischen Petersburg und
Wien bilden wird. Nun mag man fragen: wodurch war denn die Krisis
zwischen Österreich und Rußland entstanden, und weshalb mobilisiertem beide
Mächte, wenn tatsächlich keine von ihnen eine Expansionspolitik verfolgte? Die
Antwort ist, daß Österreich eine russische, und Nußland eine österreichische Politik
des Vordringens für nicht ausgeschlossen hielt. Auf beiden Seiten wirkte das
Mißtrauen nach, das noch aus der Zeit des Aehrenthal - Jswolskischen Gegen-
satzes bestand. In Serbien war die Furcht vor österreichischen Expansions-
plänen ganz ehrlich; diese objektiv unrichtige Auffassung mag Petersburg bis
zu einem gewissen Grade beeinflußt haben, und man hielt anfänglich ein Ein¬
greifen Österreichs in den Balkankrieg zu nngnnsten der Verbündeten für möglich.
In Wien dagegen betrachtete man den Balkanbund wohl als eine russische
Schöpfung, man überschätzte seine Lebensfähigkeit, glaubte sich wenigstens in
der Zukunft durch ihn bedroht; und das trotzige Verhalten Serbiens in
Zwischenfällen, wie der Prohaska - Affäre, schien durch russische Einflüsse unter¬
stützt zu werden. Das Verdienst der Botschafterreunion war es, daß die Re¬
gierungen durch die langen, in alles einzelne gehenden Beratungen über ihre
gegenseitigen Absichten und Motive besser unterrichtet wurden, daß das gemeinsame
Zusammenwirken für die Erhaltung des europäischen Friedens Mißverständnisse
und Mißtrauen zwischen den früheren Rivalen beseitigte, und daß die Existenz
eines Konzerts und namentlich die deutsch - englische Annäherung den Einfluß
der übrigen Mächte im Sinne des Friedens und einer Kompromißpolitik viel
wirksamer machten. Zugleich darf man sich von dem günstigen Ergebnis dieses
langen Zusammenarbeitens versprechen, daß solches Arbeiten allmählich zu
einer Gewohnheit der Mächte wird. Um so weniger liegt daher ein Grund für
die Auffassung vor, die in einen, Teil der österreichischen Presse zum Ausdruck
kommt, daß der alte Gegensatz zwischen Nußland und Österreich bald von neuem
ausbrechen und daß Deutschland in diesen Konflikt mit hineingezogen werden
würde. Das ist ein falscher Analogieschluß, denn die europäische Situation
nach der Londoner Botschafterreunion ist nicht dieselbe wie die nach dem Berliner
Kongreß.

Tie beiden Balkankriege haben die allgemeine Lage insofern geklärt, als
jetzt wohl niemand mehr eine Expansionspolitik Rußlands oder Österreichs auf
der Halbinsel für möglich hält. Die Balkanstaaten haben ihre militärische
Leistungsfähigkeit der Welt bewiesen, sie betrachten sich jetzt als völlig und
endgültig emanzipiert. Sie haben wiederholt die dringenden Ratschläge des
europäischen Konzerts in den Wind geschlagen, und die Mächte haben weise
gehandelt, nur auf wenigen Forderungen, die im Interesse des europäischen Friedens


Die Zukunft am Balkan

Da sowohl Österreich - Ungarn als Rußland von Anfang an entschlossen
waren, auf eigene Erwerbungen am Balkan zu verzichten, und da alle Beschlüsse
des Konzerts unter Mitwirkung und Zustimmung beider gefaßt sind, so enthält
die Lösung der europäischen Krisis eine nicht geringe Gewähr, daß diese letzte
Balkankrisis an sich keine Quelle neuer Zerwürfnisse zwischen Petersburg und
Wien bilden wird. Nun mag man fragen: wodurch war denn die Krisis
zwischen Österreich und Rußland entstanden, und weshalb mobilisiertem beide
Mächte, wenn tatsächlich keine von ihnen eine Expansionspolitik verfolgte? Die
Antwort ist, daß Österreich eine russische, und Nußland eine österreichische Politik
des Vordringens für nicht ausgeschlossen hielt. Auf beiden Seiten wirkte das
Mißtrauen nach, das noch aus der Zeit des Aehrenthal - Jswolskischen Gegen-
satzes bestand. In Serbien war die Furcht vor österreichischen Expansions-
plänen ganz ehrlich; diese objektiv unrichtige Auffassung mag Petersburg bis
zu einem gewissen Grade beeinflußt haben, und man hielt anfänglich ein Ein¬
greifen Österreichs in den Balkankrieg zu nngnnsten der Verbündeten für möglich.
In Wien dagegen betrachtete man den Balkanbund wohl als eine russische
Schöpfung, man überschätzte seine Lebensfähigkeit, glaubte sich wenigstens in
der Zukunft durch ihn bedroht; und das trotzige Verhalten Serbiens in
Zwischenfällen, wie der Prohaska - Affäre, schien durch russische Einflüsse unter¬
stützt zu werden. Das Verdienst der Botschafterreunion war es, daß die Re¬
gierungen durch die langen, in alles einzelne gehenden Beratungen über ihre
gegenseitigen Absichten und Motive besser unterrichtet wurden, daß das gemeinsame
Zusammenwirken für die Erhaltung des europäischen Friedens Mißverständnisse
und Mißtrauen zwischen den früheren Rivalen beseitigte, und daß die Existenz
eines Konzerts und namentlich die deutsch - englische Annäherung den Einfluß
der übrigen Mächte im Sinne des Friedens und einer Kompromißpolitik viel
wirksamer machten. Zugleich darf man sich von dem günstigen Ergebnis dieses
langen Zusammenarbeitens versprechen, daß solches Arbeiten allmählich zu
einer Gewohnheit der Mächte wird. Um so weniger liegt daher ein Grund für
die Auffassung vor, die in einen, Teil der österreichischen Presse zum Ausdruck
kommt, daß der alte Gegensatz zwischen Nußland und Österreich bald von neuem
ausbrechen und daß Deutschland in diesen Konflikt mit hineingezogen werden
würde. Das ist ein falscher Analogieschluß, denn die europäische Situation
nach der Londoner Botschafterreunion ist nicht dieselbe wie die nach dem Berliner
Kongreß.

Tie beiden Balkankriege haben die allgemeine Lage insofern geklärt, als
jetzt wohl niemand mehr eine Expansionspolitik Rußlands oder Österreichs auf
der Halbinsel für möglich hält. Die Balkanstaaten haben ihre militärische
Leistungsfähigkeit der Welt bewiesen, sie betrachten sich jetzt als völlig und
endgültig emanzipiert. Sie haben wiederholt die dringenden Ratschläge des
europäischen Konzerts in den Wind geschlagen, und die Mächte haben weise
gehandelt, nur auf wenigen Forderungen, die im Interesse des europäischen Friedens


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[0014] Die Zukunft am Balkan Da sowohl Österreich - Ungarn als Rußland von Anfang an entschlossen waren, auf eigene Erwerbungen am Balkan zu verzichten, und da alle Beschlüsse des Konzerts unter Mitwirkung und Zustimmung beider gefaßt sind, so enthält die Lösung der europäischen Krisis eine nicht geringe Gewähr, daß diese letzte Balkankrisis an sich keine Quelle neuer Zerwürfnisse zwischen Petersburg und Wien bilden wird. Nun mag man fragen: wodurch war denn die Krisis zwischen Österreich und Rußland entstanden, und weshalb mobilisiertem beide Mächte, wenn tatsächlich keine von ihnen eine Expansionspolitik verfolgte? Die Antwort ist, daß Österreich eine russische, und Nußland eine österreichische Politik des Vordringens für nicht ausgeschlossen hielt. Auf beiden Seiten wirkte das Mißtrauen nach, das noch aus der Zeit des Aehrenthal - Jswolskischen Gegen- satzes bestand. In Serbien war die Furcht vor österreichischen Expansions- plänen ganz ehrlich; diese objektiv unrichtige Auffassung mag Petersburg bis zu einem gewissen Grade beeinflußt haben, und man hielt anfänglich ein Ein¬ greifen Österreichs in den Balkankrieg zu nngnnsten der Verbündeten für möglich. In Wien dagegen betrachtete man den Balkanbund wohl als eine russische Schöpfung, man überschätzte seine Lebensfähigkeit, glaubte sich wenigstens in der Zukunft durch ihn bedroht; und das trotzige Verhalten Serbiens in Zwischenfällen, wie der Prohaska - Affäre, schien durch russische Einflüsse unter¬ stützt zu werden. Das Verdienst der Botschafterreunion war es, daß die Re¬ gierungen durch die langen, in alles einzelne gehenden Beratungen über ihre gegenseitigen Absichten und Motive besser unterrichtet wurden, daß das gemeinsame Zusammenwirken für die Erhaltung des europäischen Friedens Mißverständnisse und Mißtrauen zwischen den früheren Rivalen beseitigte, und daß die Existenz eines Konzerts und namentlich die deutsch - englische Annäherung den Einfluß der übrigen Mächte im Sinne des Friedens und einer Kompromißpolitik viel wirksamer machten. Zugleich darf man sich von dem günstigen Ergebnis dieses langen Zusammenarbeitens versprechen, daß solches Arbeiten allmählich zu einer Gewohnheit der Mächte wird. Um so weniger liegt daher ein Grund für die Auffassung vor, die in einen, Teil der österreichischen Presse zum Ausdruck kommt, daß der alte Gegensatz zwischen Nußland und Österreich bald von neuem ausbrechen und daß Deutschland in diesen Konflikt mit hineingezogen werden würde. Das ist ein falscher Analogieschluß, denn die europäische Situation nach der Londoner Botschafterreunion ist nicht dieselbe wie die nach dem Berliner Kongreß. Tie beiden Balkankriege haben die allgemeine Lage insofern geklärt, als jetzt wohl niemand mehr eine Expansionspolitik Rußlands oder Österreichs auf der Halbinsel für möglich hält. Die Balkanstaaten haben ihre militärische Leistungsfähigkeit der Welt bewiesen, sie betrachten sich jetzt als völlig und endgültig emanzipiert. Sie haben wiederholt die dringenden Ratschläge des europäischen Konzerts in den Wind geschlagen, und die Mächte haben weise gehandelt, nur auf wenigen Forderungen, die im Interesse des europäischen Friedens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/14>, abgerufen am 04.07.2024.