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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

Pelman versteht hier allerdings unter dem umgebenden Verbrecher nicht
nur den Geisteskranken, sondern jeden Gewohnheitsverbrecher und schlägt folge¬
richtig vor, das ganze Strafgesetzbuch in den einen Satz zusammen zu ziehen:
"Jeder gemeingefährliche Mensch muß im Interesse der Gesellschaft solange als
nötig unschädlich gemacht werden."

Bis zur Erfüllung dieses Wunsches aber muß jeder Fortschritt aus diesem
Wege dankbar begrüßt werden, so auch der, den der deutsche Entwurf zu einem
neuen Strafgesetzbuch in seinem § 65 bringt: "Wird jemand auf Grund des
H 63, Abs. 1" (unserem Z 51 entsprechend) "freigesprochen oder außer Ver¬
folgung gesetzt .... so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit
erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt an¬
zuordnen."

Diese Verwahrung kann bei Bedarf auf Lebenszeit ausgedehnt werden.
Über die Art der Ausführungsbestimmungen kann man verschiedener Ansicht
sein; wichtig ist die Bestimmung als Symptom dafür, daß man begonnen hat,
das Recht der Allgemeinheit etwas mehr in den Vordergrund zu rücken.

Doppelt wichtig ist das in einer Zeit, wo fast jeder Juristentag sich mit
einer Resolution zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe zu befassen hat.

Ich halte auch diese letztere Bewegung für kennzeichnend, als Arzt würde
ich sagen pathognomonisch für unsere Zeit. Es handelt sich hier meines Erachtens
nicht mehr um den Ausfluß edler Nächstenliebe, sondern um eine Überschätzung
der Schrecken der Todesstrafe, hervorgegangen aus einer jetzt in den gebildeten
Ständen fast allgemein verbreiteten Unkenntnis des Todes und einer oft lächer¬
lichen Angst vor ihm.

Wie sehr in diesem Sinne unsere Zivilisation den Menschen verweichlicht,
das sehe ich oft deutlich an den Erfahrungen aus meinem Arbeitshause, wo
ich fast noch nie ein Wort der Todesangst vernommen habe, und andrerseits
aus der Privatpraxis, von der ich das nicht behaupten könnte. Man wende
nicht ein, der Gebildete habe mehr zu verlieren, das ist nicht wahr; der Vaga¬
bund verliert mit dem Leben dasselbe, nämlich alles, was er hatte. Außerdem
wird es wenig Menschen unter den Gebildeten geben, die. wenn sie die Wahl
haben zwischen dem Tode und einer verstümmelnden Operation, nicht die letztere
vorziehen, die also unter Umständen alles hergeben, um das armselige Lebens-
fünkchen zu erhalten.

Hieraus, aus der Überschätzung des Lebens, dessen Besitz für eine zwanzig¬
jährige Zuchthausstrafe oder lebenslänglichen Aufenthalt in einer Irrenanstalt
doch wahrlich kein Äquivalent ist, und aus der feigen Angst vor dem Tode
geht die Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe hervor. Denn auch der
christlich klingende Einwand, man müsse dem Verbrecher Zeit zur Umkehr lassen,
scheint mir angesichts des Schachers am Kreuz wenig stichhaltig.

Es ist -- ich will damit das Gute an der Bewegung, nicht herabsetzen --
in den immer extremer werdenden Bestrebungen für Strafmilderung viel von


Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

Pelman versteht hier allerdings unter dem umgebenden Verbrecher nicht
nur den Geisteskranken, sondern jeden Gewohnheitsverbrecher und schlägt folge¬
richtig vor, das ganze Strafgesetzbuch in den einen Satz zusammen zu ziehen:
„Jeder gemeingefährliche Mensch muß im Interesse der Gesellschaft solange als
nötig unschädlich gemacht werden."

Bis zur Erfüllung dieses Wunsches aber muß jeder Fortschritt aus diesem
Wege dankbar begrüßt werden, so auch der, den der deutsche Entwurf zu einem
neuen Strafgesetzbuch in seinem § 65 bringt: „Wird jemand auf Grund des
H 63, Abs. 1" (unserem Z 51 entsprechend) „freigesprochen oder außer Ver¬
folgung gesetzt .... so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit
erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt an¬
zuordnen."

Diese Verwahrung kann bei Bedarf auf Lebenszeit ausgedehnt werden.
Über die Art der Ausführungsbestimmungen kann man verschiedener Ansicht
sein; wichtig ist die Bestimmung als Symptom dafür, daß man begonnen hat,
das Recht der Allgemeinheit etwas mehr in den Vordergrund zu rücken.

Doppelt wichtig ist das in einer Zeit, wo fast jeder Juristentag sich mit
einer Resolution zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe zu befassen hat.

Ich halte auch diese letztere Bewegung für kennzeichnend, als Arzt würde
ich sagen pathognomonisch für unsere Zeit. Es handelt sich hier meines Erachtens
nicht mehr um den Ausfluß edler Nächstenliebe, sondern um eine Überschätzung
der Schrecken der Todesstrafe, hervorgegangen aus einer jetzt in den gebildeten
Ständen fast allgemein verbreiteten Unkenntnis des Todes und einer oft lächer¬
lichen Angst vor ihm.

Wie sehr in diesem Sinne unsere Zivilisation den Menschen verweichlicht,
das sehe ich oft deutlich an den Erfahrungen aus meinem Arbeitshause, wo
ich fast noch nie ein Wort der Todesangst vernommen habe, und andrerseits
aus der Privatpraxis, von der ich das nicht behaupten könnte. Man wende
nicht ein, der Gebildete habe mehr zu verlieren, das ist nicht wahr; der Vaga¬
bund verliert mit dem Leben dasselbe, nämlich alles, was er hatte. Außerdem
wird es wenig Menschen unter den Gebildeten geben, die. wenn sie die Wahl
haben zwischen dem Tode und einer verstümmelnden Operation, nicht die letztere
vorziehen, die also unter Umständen alles hergeben, um das armselige Lebens-
fünkchen zu erhalten.

Hieraus, aus der Überschätzung des Lebens, dessen Besitz für eine zwanzig¬
jährige Zuchthausstrafe oder lebenslänglichen Aufenthalt in einer Irrenanstalt
doch wahrlich kein Äquivalent ist, und aus der feigen Angst vor dem Tode
geht die Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe hervor. Denn auch der
christlich klingende Einwand, man müsse dem Verbrecher Zeit zur Umkehr lassen,
scheint mir angesichts des Schachers am Kreuz wenig stichhaltig.

Es ist — ich will damit das Gute an der Bewegung, nicht herabsetzen —
in den immer extremer werdenden Bestrebungen für Strafmilderung viel von


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[0139] Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht Pelman versteht hier allerdings unter dem umgebenden Verbrecher nicht nur den Geisteskranken, sondern jeden Gewohnheitsverbrecher und schlägt folge¬ richtig vor, das ganze Strafgesetzbuch in den einen Satz zusammen zu ziehen: „Jeder gemeingefährliche Mensch muß im Interesse der Gesellschaft solange als nötig unschädlich gemacht werden." Bis zur Erfüllung dieses Wunsches aber muß jeder Fortschritt aus diesem Wege dankbar begrüßt werden, so auch der, den der deutsche Entwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch in seinem § 65 bringt: „Wird jemand auf Grund des H 63, Abs. 1" (unserem Z 51 entsprechend) „freigesprochen oder außer Ver¬ folgung gesetzt .... so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt an¬ zuordnen." Diese Verwahrung kann bei Bedarf auf Lebenszeit ausgedehnt werden. Über die Art der Ausführungsbestimmungen kann man verschiedener Ansicht sein; wichtig ist die Bestimmung als Symptom dafür, daß man begonnen hat, das Recht der Allgemeinheit etwas mehr in den Vordergrund zu rücken. Doppelt wichtig ist das in einer Zeit, wo fast jeder Juristentag sich mit einer Resolution zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe zu befassen hat. Ich halte auch diese letztere Bewegung für kennzeichnend, als Arzt würde ich sagen pathognomonisch für unsere Zeit. Es handelt sich hier meines Erachtens nicht mehr um den Ausfluß edler Nächstenliebe, sondern um eine Überschätzung der Schrecken der Todesstrafe, hervorgegangen aus einer jetzt in den gebildeten Ständen fast allgemein verbreiteten Unkenntnis des Todes und einer oft lächer¬ lichen Angst vor ihm. Wie sehr in diesem Sinne unsere Zivilisation den Menschen verweichlicht, das sehe ich oft deutlich an den Erfahrungen aus meinem Arbeitshause, wo ich fast noch nie ein Wort der Todesangst vernommen habe, und andrerseits aus der Privatpraxis, von der ich das nicht behaupten könnte. Man wende nicht ein, der Gebildete habe mehr zu verlieren, das ist nicht wahr; der Vaga¬ bund verliert mit dem Leben dasselbe, nämlich alles, was er hatte. Außerdem wird es wenig Menschen unter den Gebildeten geben, die. wenn sie die Wahl haben zwischen dem Tode und einer verstümmelnden Operation, nicht die letztere vorziehen, die also unter Umständen alles hergeben, um das armselige Lebens- fünkchen zu erhalten. Hieraus, aus der Überschätzung des Lebens, dessen Besitz für eine zwanzig¬ jährige Zuchthausstrafe oder lebenslänglichen Aufenthalt in einer Irrenanstalt doch wahrlich kein Äquivalent ist, und aus der feigen Angst vor dem Tode geht die Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe hervor. Denn auch der christlich klingende Einwand, man müsse dem Verbrecher Zeit zur Umkehr lassen, scheint mir angesichts des Schachers am Kreuz wenig stichhaltig. Es ist — ich will damit das Gute an der Bewegung, nicht herabsetzen — in den immer extremer werdenden Bestrebungen für Strafmilderung viel von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/139>, abgerufen am 24.07.2024.