Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.Unzurechnungsfähigkeit und Ärafrecht auf der einen und von der möglichen Größe sittlicher Kraft auf der anderen Daß er in ihm zweifelhaften Fällen pro reo gutachten wird, ist um so Vorurteilslos betrachtet ist deshalb der ärztliche Sachverständige Partei, Daß das ein Mißstand ist, der beseitigt werden muß. leuchtet auch denkenden Aber wie bessern? Man hat versucht die Kompetenz des Psychiaters zugunsten der des Richters Den richtigsten Weg zur Lösung aller Schwierigkeiten hat nach meiner In der Tat ist aus den vorhin skizzierten Gründen das Abwägen der sub¬ Unzurechnungsfähigkeit und Ärafrecht auf der einen und von der möglichen Größe sittlicher Kraft auf der anderen Daß er in ihm zweifelhaften Fällen pro reo gutachten wird, ist um so Vorurteilslos betrachtet ist deshalb der ärztliche Sachverständige Partei, Daß das ein Mißstand ist, der beseitigt werden muß. leuchtet auch denkenden Aber wie bessern? Man hat versucht die Kompetenz des Psychiaters zugunsten der des Richters Den richtigsten Weg zur Lösung aller Schwierigkeiten hat nach meiner In der Tat ist aus den vorhin skizzierten Gründen das Abwägen der sub¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328238"/> <fw type="header" place="top"> Unzurechnungsfähigkeit und Ärafrecht</fw><lb/> <p xml:id="ID_591" prev="#ID_590"> auf der einen und von der möglichen Größe sittlicher Kraft auf der anderen<lb/> Seite gebildet hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_592"> Daß er in ihm zweifelhaften Fällen pro reo gutachten wird, ist um so<lb/> eher anzunehmen, als er sich lediglich mit der Person des Angeklagten zu be¬<lb/> fassen hat, während das öffentliche Interesse den Gutachter nichts angeht.</p><lb/> <p xml:id="ID_593"> Vorurteilslos betrachtet ist deshalb der ärztliche Sachverständige Partei,<lb/> etwa wie ein pflichttreuer Rechtsanwalt, der ohne Beugung des Rechts alles ins<lb/> Licht zu rücken sucht, was für die Straflosigkeit seines Klienten sprechen könnte.<lb/> Anderseits aber ist er gleichzeitig in einem gewissen Sinne der Entscheidende.<lb/> In Wahrheit fällt in der Mehrzahl der Fälle er den Freispruch, für den der<lb/> Richter die Verantwortung zwar hat, aber eigentlich mangels Sachverständnisses<lb/> nicht tragen kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_594"> Daß das ein Mißstand ist, der beseitigt werden muß. leuchtet auch denkenden<lb/> Ärzten schon lange ein; ist es doch die Folge dieses Zustandes, daß das Recht<lb/> der Allgemeinheit gegenüber dem des einzelnen Rechtsbrechers in die zweite<lb/> Reihe gedrängt wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_595"> Aber wie bessern?</p><lb/> <p xml:id="ID_596"> Man hat versucht die Kompetenz des Psychiaters zugunsten der des Richters<lb/> zu beschneiden, indem man die in Betracht kommenden Geisteszustände schärfer<lb/> umgrenzte. So spricht der 27. Deutsch-österreichische Juristentag von einem<lb/> „nicht nur vorübergehenden" krankhaften Zustande. Auch abgesehen von der<lb/> immerhin nicht präzisen Fassung kann ich darin keine Verbesserung sehen. Wenn<lb/> ein Mensch bei der Beurteilung seiner Straftat Milde verdient, so ist es meines<lb/> Erachtens gerade der vorübergehend Geisteskranke, der oft nach seiner Genesung<lb/> mit der Erinnerung an seine Tat auch jedes Verständnis für sie verloren hat,<lb/> während der Degenerierte, der einen Mord begangen hat, kaum deshalb ver¬<lb/> dienen dürfte dem Schafott zu entgehen, weil er nicht gegen bessere Überzeugung,<lb/> sondern aus Gewohnheit und perverser Lust gemordet hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_597"> Den richtigsten Weg zur Lösung aller Schwierigkeiten hat nach meiner<lb/> Überzeugung der gewiesen, auf den die Schwierigkeiten zum großen Teil zurück¬<lb/> zuführen sind, nämlich Lombroso selbst, wenn er in seinem Uvrrw äelinquento<lb/> den Grundsatz aufstellt, daß die Gefährlichkeit des Verbrechers allein den Ma߬<lb/> stab seiner Strafbarkeit bilden dürfe.</p><lb/> <p xml:id="ID_598"> In der Tat ist aus den vorhin skizzierten Gründen das Abwägen der sub¬<lb/> jektiven Schuld in so vielen Fällen für uns unmöglich, daß dieser Maßstab<lb/> auch für den wenn auch noch so großen Rest logischer- und gerechterweise<lb/> nicht angewendet werden dürste. An Gefährlichkeit aber steht ein geisteskranker<lb/> Verbrecher hinter dem Geistesgesunden nicht nur nicht zurück, sondern übertrifft<lb/> ihn sogar. Darum sagt der frühere Bonner Psychiater Pelman mit Recht,<lb/> „einen angehenden Verbrecher zu entlassen ist genau so. als ob man einem<lb/> wütenden Hunde vierundzwanzig Stunden lang einen Maulkorb anlegt und ihn<lb/> dann laufen läßt, weil er in diesen vierundzwanzig Stunden niemand gebissen hat."</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0138]
Unzurechnungsfähigkeit und Ärafrecht
auf der einen und von der möglichen Größe sittlicher Kraft auf der anderen
Seite gebildet hat.
Daß er in ihm zweifelhaften Fällen pro reo gutachten wird, ist um so
eher anzunehmen, als er sich lediglich mit der Person des Angeklagten zu be¬
fassen hat, während das öffentliche Interesse den Gutachter nichts angeht.
Vorurteilslos betrachtet ist deshalb der ärztliche Sachverständige Partei,
etwa wie ein pflichttreuer Rechtsanwalt, der ohne Beugung des Rechts alles ins
Licht zu rücken sucht, was für die Straflosigkeit seines Klienten sprechen könnte.
Anderseits aber ist er gleichzeitig in einem gewissen Sinne der Entscheidende.
In Wahrheit fällt in der Mehrzahl der Fälle er den Freispruch, für den der
Richter die Verantwortung zwar hat, aber eigentlich mangels Sachverständnisses
nicht tragen kann.
Daß das ein Mißstand ist, der beseitigt werden muß. leuchtet auch denkenden
Ärzten schon lange ein; ist es doch die Folge dieses Zustandes, daß das Recht
der Allgemeinheit gegenüber dem des einzelnen Rechtsbrechers in die zweite
Reihe gedrängt wird.
Aber wie bessern?
Man hat versucht die Kompetenz des Psychiaters zugunsten der des Richters
zu beschneiden, indem man die in Betracht kommenden Geisteszustände schärfer
umgrenzte. So spricht der 27. Deutsch-österreichische Juristentag von einem
„nicht nur vorübergehenden" krankhaften Zustande. Auch abgesehen von der
immerhin nicht präzisen Fassung kann ich darin keine Verbesserung sehen. Wenn
ein Mensch bei der Beurteilung seiner Straftat Milde verdient, so ist es meines
Erachtens gerade der vorübergehend Geisteskranke, der oft nach seiner Genesung
mit der Erinnerung an seine Tat auch jedes Verständnis für sie verloren hat,
während der Degenerierte, der einen Mord begangen hat, kaum deshalb ver¬
dienen dürfte dem Schafott zu entgehen, weil er nicht gegen bessere Überzeugung,
sondern aus Gewohnheit und perverser Lust gemordet hat.
Den richtigsten Weg zur Lösung aller Schwierigkeiten hat nach meiner
Überzeugung der gewiesen, auf den die Schwierigkeiten zum großen Teil zurück¬
zuführen sind, nämlich Lombroso selbst, wenn er in seinem Uvrrw äelinquento
den Grundsatz aufstellt, daß die Gefährlichkeit des Verbrechers allein den Ma߬
stab seiner Strafbarkeit bilden dürfe.
In der Tat ist aus den vorhin skizzierten Gründen das Abwägen der sub¬
jektiven Schuld in so vielen Fällen für uns unmöglich, daß dieser Maßstab
auch für den wenn auch noch so großen Rest logischer- und gerechterweise
nicht angewendet werden dürste. An Gefährlichkeit aber steht ein geisteskranker
Verbrecher hinter dem Geistesgesunden nicht nur nicht zurück, sondern übertrifft
ihn sogar. Darum sagt der frühere Bonner Psychiater Pelman mit Recht,
„einen angehenden Verbrecher zu entlassen ist genau so. als ob man einem
wütenden Hunde vierundzwanzig Stunden lang einen Maulkorb anlegt und ihn
dann laufen läßt, weil er in diesen vierundzwanzig Stunden niemand gebissen hat."
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