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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

Bei all diesen schon von alters her bekannten Zuständen entspricht es
durchaus dem Gerechtigkeitsgefühl und hat es ihm von je entsprochen, wenn
man den Kranken für die auf Grund seiner Sinnestäuschungen und Wahn¬
vorstellungen begangenen, sonst strafbaren Handlungen nicht zur Rechen¬
schaft zieht.

Das gleiche gilt von den sogenannten affektiver Geisteskrankheiten, die
dadurch ausgezeichnet sind, daß bei ihnen der Ablauf der Vorstellungen abnorm
verlangsamt oder beschleunigt ist. Der erstere Zustand, im allgemeinen
Melancholie genannt, bringt eine traurige Gemütsstimmung mit sich und gibt
selten zu strafbaren Handlungen Anlaß, die höchstens als Folge eines über-
wältigenden Angstgefühls vorkommen. Dagegen führt die sogenannte Manie
zu einem krankhaft vermehrten Tätigkeitsdrang, der. gelegentlich sich bis zur
Tobsucht steigernd, vor keiner gesetzlichen Schranke Halt macht.

Nicht damit zu verwechseln ist die bekannte Kleptomanie, der man heute
eine isolierte Existenzberechtigung abspricht, indem man sie mit anderen ähn¬
lichen Zuständen zusammen dem Krankheitsbilde der Hysterie zuweist.

Es liegt weder im Rahmen meiner Aufgabe, noch kann es Anspruch auf
allgemeines Interesse machen, hier weiter auf die große Zahl der noch nicht
erwähnten echten Geistesstörungen einzugehen, die ein mehr oder weniger scharf
umrissenes Krankheitsbild darbieten und deren Diagnose demgemäß, wenn auch
mit mehr oder weniger großer Schwierigkeit, für den Geübten mit Sicherheit
zu stellen ist.

Was uns weit mehr interessiert, sind die sogenannten Grenzzustände, die¬
jenigen, bei denen der Psychiater für "krank", der Laie für "verantwortlich"
stimmt, und deren früher ungeahnte Verbreitung uns erst die letzten Jahrzehnte
kennen gelehrt haben.

Hierher gehören die schon erwähnten Dämmerzustände, die bei der Epilepsie
sogar häufig beobachtet werden und die der Diagnose insofern die größten
Schwierigkeiten machen können, als sie auch, ohne daß die gewöhnlichen epilep¬
tischen Krampfanfälle vorhanden sind, vorkommen können. Da es sich bei der
Epilepsie um eine anfallsweise auftretende Krankheit handelt, bei der der Be¬
troffene in den Zwischenzeiten einen völlig normalen und gesunden Eindruck
machen kann, ist die Entscheidung, ob überhaupt Epilepsie vorliegt, mitunter
schon recht schwierig. Noch schwieriger und meistens nur aus den Begleit¬
umständen mit Wahrscheinlichkeit zu erschließen ist die Entscheidung, ob zur Zeit
der Begehung der Handlung ein solch krankhafter Zustand vorhanden ge¬
wesen ist.

Eine wesentliche Erschwerung bei allen psychiatrischen Diagnosen ist die,
daß man zum großen Teil auf die mündlichen Äußerungen des Kranken und
auf dasjenige angewiesen ist, was man daraus erschließen kann. Das fällt
ganz besonders ins Gewicht bei einer Erkrankung wie der Hysterie, bei der die
davon Befallenen sich oft durch Lügenhaftigkeit geradezu auszeichnen. Nichts-


Unzurechnungsfähigkeit und Strafrecht

Bei all diesen schon von alters her bekannten Zuständen entspricht es
durchaus dem Gerechtigkeitsgefühl und hat es ihm von je entsprochen, wenn
man den Kranken für die auf Grund seiner Sinnestäuschungen und Wahn¬
vorstellungen begangenen, sonst strafbaren Handlungen nicht zur Rechen¬
schaft zieht.

Das gleiche gilt von den sogenannten affektiver Geisteskrankheiten, die
dadurch ausgezeichnet sind, daß bei ihnen der Ablauf der Vorstellungen abnorm
verlangsamt oder beschleunigt ist. Der erstere Zustand, im allgemeinen
Melancholie genannt, bringt eine traurige Gemütsstimmung mit sich und gibt
selten zu strafbaren Handlungen Anlaß, die höchstens als Folge eines über-
wältigenden Angstgefühls vorkommen. Dagegen führt die sogenannte Manie
zu einem krankhaft vermehrten Tätigkeitsdrang, der. gelegentlich sich bis zur
Tobsucht steigernd, vor keiner gesetzlichen Schranke Halt macht.

Nicht damit zu verwechseln ist die bekannte Kleptomanie, der man heute
eine isolierte Existenzberechtigung abspricht, indem man sie mit anderen ähn¬
lichen Zuständen zusammen dem Krankheitsbilde der Hysterie zuweist.

Es liegt weder im Rahmen meiner Aufgabe, noch kann es Anspruch auf
allgemeines Interesse machen, hier weiter auf die große Zahl der noch nicht
erwähnten echten Geistesstörungen einzugehen, die ein mehr oder weniger scharf
umrissenes Krankheitsbild darbieten und deren Diagnose demgemäß, wenn auch
mit mehr oder weniger großer Schwierigkeit, für den Geübten mit Sicherheit
zu stellen ist.

Was uns weit mehr interessiert, sind die sogenannten Grenzzustände, die¬
jenigen, bei denen der Psychiater für „krank", der Laie für „verantwortlich"
stimmt, und deren früher ungeahnte Verbreitung uns erst die letzten Jahrzehnte
kennen gelehrt haben.

Hierher gehören die schon erwähnten Dämmerzustände, die bei der Epilepsie
sogar häufig beobachtet werden und die der Diagnose insofern die größten
Schwierigkeiten machen können, als sie auch, ohne daß die gewöhnlichen epilep¬
tischen Krampfanfälle vorhanden sind, vorkommen können. Da es sich bei der
Epilepsie um eine anfallsweise auftretende Krankheit handelt, bei der der Be¬
troffene in den Zwischenzeiten einen völlig normalen und gesunden Eindruck
machen kann, ist die Entscheidung, ob überhaupt Epilepsie vorliegt, mitunter
schon recht schwierig. Noch schwieriger und meistens nur aus den Begleit¬
umständen mit Wahrscheinlichkeit zu erschließen ist die Entscheidung, ob zur Zeit
der Begehung der Handlung ein solch krankhafter Zustand vorhanden ge¬
wesen ist.

Eine wesentliche Erschwerung bei allen psychiatrischen Diagnosen ist die,
daß man zum großen Teil auf die mündlichen Äußerungen des Kranken und
auf dasjenige angewiesen ist, was man daraus erschließen kann. Das fällt
ganz besonders ins Gewicht bei einer Erkrankung wie der Hysterie, bei der die
davon Befallenen sich oft durch Lügenhaftigkeit geradezu auszeichnen. Nichts-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/135>, abgerufen am 20.06.2024.