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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Altnordische und altdeutsche Prosci

Die Kulturbilder, welche die isländische Prosaerzählung malt, sind ge¬
schichtlich wahr, die meisten historisch zuverlässig. Doch sind es keine un-
gemodelten Rohabdrücke der Wirklichkeit, sie sind vielmehr mit künstlerischen
Absichten dargestellt, wohl auch durch den aufzeichnenden Redaktor komponiert.
Das geschah gewiß bei den großen Sagakomplexen, die in solchem Umfange
nicht der mündlichen Kunstübung entsprangen. Wichtiger aber als solche
bewußte künstlerische Überlegung ist die unbewußte, in der Tradition befangene
Tätigkeit des Erzählers. Hundert Jahre, von 930 bis 1030 währt die Saga¬
zeit Islands, die Blütezeit der mündlichen Dichtung. Sie pflanzt sich bis ins
Zeitalter der Aufzeichnung (vornehmlich die Jahrzehnte 1170 bis 1250) fort;
mit dem Ende des Freistaates, 1263, setzt der Niedergang der Saga ein. Diese
jahrhundertelange mündliche Überlieferung wirkt still und sicher nach natürlichen
Gesetzen: das rein Stoffliche wird mehr und mehr ausgeschieden, das Zufällige,
der Vergessenheit Anheimgegebene, wird zurückgedrängt, dagegen das Seelische
betont, das allgemein Menschliche tritt in den Vordergrund: die Jsländer-
geschichte geht den Weg von der Chronik zum Roman.

Niemals aber wird das Wahre und Wahrscheinliche zurückgedrängt, niemals
überwiegt die fabulierende Tätigkeit. Nichts, auch nicht die geringste Einzelheit
wird als bekannt vorausgesetzt. Nur was real geschah, was von Augen- und
Ohrenzeugen gesehen und gehört werden konnte, wird erzählt. Zwischenglieder,
die dem pragmatischen Erzähler unentbehrlich scheinen, fallen dabei fort, die
wichtigsten darunter: Denk- und Gefühlsvorgänge. Niemals berichtet die Saga
direkt von: Seelenleben, ja eine Phrase selbst, wie "er sann auf einen Plan",
fällt aus der strengen Darstellungsweise heraus. Stets genügt die Formel "er
sagte", die in den reichen Dialogen sast störend häufig gesetzt ist, niemals wird
eine nähere Bestimmung gegeben oder die Gebärde, der Ton des Sprechenden
bezeichnet. Nie heißt es also etwa "er sagte heftig" oder "rauh" und dergleichen,
wohl aber kann es z. B. im Charakter des sinnlich Wahrnehmbaren heißen "er
tat als achtete er nicht auf diese Rede". Dann können wir sicher sein, daß
die rächende Tat alsbald folgt. Die Tat allein herrscht; was sich an den
Taten nicht ablesen läßt, bleibt unausgesprochen, bis wir durch eine über¬
raschende Wendung der Geschichte tief in die Seele des Helden blicken
dürfen.

Da also nur das bezeugte äußere Geschehnis erzählt wird, bleiben Lücken,
die der Erzähler nicht füllt, die auf Ergänzung von feiten des Lesers (Hörers)
warten. Diese Technik des Verschweigens ist in einzigartiger Folgerichtigkeit
durchgeführt. Sie wirkt einen besonderen Reiz, sie fördert einen Realismus,
der in der Geschichte der Weltliteratur beispiellos ist. Da der Erzähler
nirgendwo mit seiner Meinung, geschweige denn mit seiner Persönlichkeit vor¬
tritt (die Saga ist ja auch stets anonym, kein Erzähler nennt sich), da er uns
nicht einmal mit einem malenden Wort seine Auffassung mitteilt, da er sich
nie mit einem Urteil zwischen Geschichte und Leser stellt, wird dieser zu


Altnordische und altdeutsche Prosci

Die Kulturbilder, welche die isländische Prosaerzählung malt, sind ge¬
schichtlich wahr, die meisten historisch zuverlässig. Doch sind es keine un-
gemodelten Rohabdrücke der Wirklichkeit, sie sind vielmehr mit künstlerischen
Absichten dargestellt, wohl auch durch den aufzeichnenden Redaktor komponiert.
Das geschah gewiß bei den großen Sagakomplexen, die in solchem Umfange
nicht der mündlichen Kunstübung entsprangen. Wichtiger aber als solche
bewußte künstlerische Überlegung ist die unbewußte, in der Tradition befangene
Tätigkeit des Erzählers. Hundert Jahre, von 930 bis 1030 währt die Saga¬
zeit Islands, die Blütezeit der mündlichen Dichtung. Sie pflanzt sich bis ins
Zeitalter der Aufzeichnung (vornehmlich die Jahrzehnte 1170 bis 1250) fort;
mit dem Ende des Freistaates, 1263, setzt der Niedergang der Saga ein. Diese
jahrhundertelange mündliche Überlieferung wirkt still und sicher nach natürlichen
Gesetzen: das rein Stoffliche wird mehr und mehr ausgeschieden, das Zufällige,
der Vergessenheit Anheimgegebene, wird zurückgedrängt, dagegen das Seelische
betont, das allgemein Menschliche tritt in den Vordergrund: die Jsländer-
geschichte geht den Weg von der Chronik zum Roman.

Niemals aber wird das Wahre und Wahrscheinliche zurückgedrängt, niemals
überwiegt die fabulierende Tätigkeit. Nichts, auch nicht die geringste Einzelheit
wird als bekannt vorausgesetzt. Nur was real geschah, was von Augen- und
Ohrenzeugen gesehen und gehört werden konnte, wird erzählt. Zwischenglieder,
die dem pragmatischen Erzähler unentbehrlich scheinen, fallen dabei fort, die
wichtigsten darunter: Denk- und Gefühlsvorgänge. Niemals berichtet die Saga
direkt von: Seelenleben, ja eine Phrase selbst, wie „er sann auf einen Plan",
fällt aus der strengen Darstellungsweise heraus. Stets genügt die Formel „er
sagte", die in den reichen Dialogen sast störend häufig gesetzt ist, niemals wird
eine nähere Bestimmung gegeben oder die Gebärde, der Ton des Sprechenden
bezeichnet. Nie heißt es also etwa „er sagte heftig" oder „rauh" und dergleichen,
wohl aber kann es z. B. im Charakter des sinnlich Wahrnehmbaren heißen „er
tat als achtete er nicht auf diese Rede". Dann können wir sicher sein, daß
die rächende Tat alsbald folgt. Die Tat allein herrscht; was sich an den
Taten nicht ablesen läßt, bleibt unausgesprochen, bis wir durch eine über¬
raschende Wendung der Geschichte tief in die Seele des Helden blicken
dürfen.

Da also nur das bezeugte äußere Geschehnis erzählt wird, bleiben Lücken,
die der Erzähler nicht füllt, die auf Ergänzung von feiten des Lesers (Hörers)
warten. Diese Technik des Verschweigens ist in einzigartiger Folgerichtigkeit
durchgeführt. Sie wirkt einen besonderen Reiz, sie fördert einen Realismus,
der in der Geschichte der Weltliteratur beispiellos ist. Da der Erzähler
nirgendwo mit seiner Meinung, geschweige denn mit seiner Persönlichkeit vor¬
tritt (die Saga ist ja auch stets anonym, kein Erzähler nennt sich), da er uns
nicht einmal mit einem malenden Wort seine Auffassung mitteilt, da er sich
nie mit einem Urteil zwischen Geschichte und Leser stellt, wird dieser zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/121>, abgerufen am 21.06.2024.