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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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vom Lieut deutscher Theaterkritik

Morphiumspritzen er die Frtthstückslektüre dankt. Dem Spießer ist es aber ebenso
leicht abzugewöhnen, wie er sich gedankenlos daran gewöhnte. Ob er es einen Tag
früher oder später liest, ist ihm im Grunde doch gleichgültig. Die Schuld liegt
an den Zeitungsverlagcn und Zeitungsleitungen, die im Geschwindigkeitswahn
vergessen, daß eine Kunstkritik nicht wie ein New-Aorker Börsenbericht behandelt
werden muß und nicht so behandelt werden darf. Das Publikum aber, daS heute
Theaterrezensionen liest, verlangt nicht in erster Linie Schnelligkeit: es will angeregt,
will in das Werk und in den Mechanismus seiner Aufführung eingeweiht werden,
will durch ein paar Worte die eigenen Nerven nachschwingen lassen. Dieses
Verlangen aber setzt in erster Linie eine Kunstleistung voraus, nicht eine Reporter-
geschwindigkeit. Wer heute selbst nicht Künstler ist. selbst nicht mit ein paar
Worten ein buntes Bildchen nachmalen kann, soll von vornherein keine Kritiken
schreiben, ist zum Priestertum zwischen Künstler und Gemeinde nicht berufen. In
diesem Satz steckt die ganze Psychologie der formalen Aufgaben der Kunstkritik.
Und eben diese Aufgaben verkennt ein großer Teil der Presse -- die Berliner
voran -- vollkommen. Man sehe diese Konzertberichte: diesen Mangel an Frische,
den Mangel an Freude, den Überfluß an nervöser Verärgerung, der im Oktober
schon aus diesen Berichten spricht.

Es geht nicht anders? Es geht gewiß andersI Ich weiß, im Herbst
hieß es, man wolle in Berlin mit der Nachtkritik aufräumen. Man hörte sogar
etcvas von einem Streik der Rezensenten. Hat sich alles wieder im Sande ver-
laufen? Oder will man vor dein Kampf eine Organisation schaffen, wie die, von
der hier die Rede war?

Ich weiß, daß alle jene Maßnahmen, die ich vorgeschlagen habe, nicht ohne
Mängel sind, daß sie schadhafte Stellen aufweisen, durch die gelegentlich Unfähigkeit,
böser Wille und Cliquengeschöpfe schlüpfen könnten. Was tut es? Wichtiger ist es
zunächst, daß überhaupt ein Weg geschaffen wird, daß jeder den es angeht, über-
zeugt ist, daß es so nicht weiter geht. Findet sich niemand, dem die Hand fest
genug ist, das alles einigermaßen einzurenken, was hier so gründlich aus den
Fugen gegangen ist?




vom Lieut deutscher Theaterkritik

Morphiumspritzen er die Frtthstückslektüre dankt. Dem Spießer ist es aber ebenso
leicht abzugewöhnen, wie er sich gedankenlos daran gewöhnte. Ob er es einen Tag
früher oder später liest, ist ihm im Grunde doch gleichgültig. Die Schuld liegt
an den Zeitungsverlagcn und Zeitungsleitungen, die im Geschwindigkeitswahn
vergessen, daß eine Kunstkritik nicht wie ein New-Aorker Börsenbericht behandelt
werden muß und nicht so behandelt werden darf. Das Publikum aber, daS heute
Theaterrezensionen liest, verlangt nicht in erster Linie Schnelligkeit: es will angeregt,
will in das Werk und in den Mechanismus seiner Aufführung eingeweiht werden,
will durch ein paar Worte die eigenen Nerven nachschwingen lassen. Dieses
Verlangen aber setzt in erster Linie eine Kunstleistung voraus, nicht eine Reporter-
geschwindigkeit. Wer heute selbst nicht Künstler ist. selbst nicht mit ein paar
Worten ein buntes Bildchen nachmalen kann, soll von vornherein keine Kritiken
schreiben, ist zum Priestertum zwischen Künstler und Gemeinde nicht berufen. In
diesem Satz steckt die ganze Psychologie der formalen Aufgaben der Kunstkritik.
Und eben diese Aufgaben verkennt ein großer Teil der Presse — die Berliner
voran — vollkommen. Man sehe diese Konzertberichte: diesen Mangel an Frische,
den Mangel an Freude, den Überfluß an nervöser Verärgerung, der im Oktober
schon aus diesen Berichten spricht.

Es geht nicht anders? Es geht gewiß andersI Ich weiß, im Herbst
hieß es, man wolle in Berlin mit der Nachtkritik aufräumen. Man hörte sogar
etcvas von einem Streik der Rezensenten. Hat sich alles wieder im Sande ver-
laufen? Oder will man vor dein Kampf eine Organisation schaffen, wie die, von
der hier die Rede war?

Ich weiß, daß alle jene Maßnahmen, die ich vorgeschlagen habe, nicht ohne
Mängel sind, daß sie schadhafte Stellen aufweisen, durch die gelegentlich Unfähigkeit,
böser Wille und Cliquengeschöpfe schlüpfen könnten. Was tut es? Wichtiger ist es
zunächst, daß überhaupt ein Weg geschaffen wird, daß jeder den es angeht, über-
zeugt ist, daß es so nicht weiter geht. Findet sich niemand, dem die Hand fest
genug ist, das alles einigermaßen einzurenken, was hier so gründlich aus den
Fugen gegangen ist?




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[0097] vom Lieut deutscher Theaterkritik Morphiumspritzen er die Frtthstückslektüre dankt. Dem Spießer ist es aber ebenso leicht abzugewöhnen, wie er sich gedankenlos daran gewöhnte. Ob er es einen Tag früher oder später liest, ist ihm im Grunde doch gleichgültig. Die Schuld liegt an den Zeitungsverlagcn und Zeitungsleitungen, die im Geschwindigkeitswahn vergessen, daß eine Kunstkritik nicht wie ein New-Aorker Börsenbericht behandelt werden muß und nicht so behandelt werden darf. Das Publikum aber, daS heute Theaterrezensionen liest, verlangt nicht in erster Linie Schnelligkeit: es will angeregt, will in das Werk und in den Mechanismus seiner Aufführung eingeweiht werden, will durch ein paar Worte die eigenen Nerven nachschwingen lassen. Dieses Verlangen aber setzt in erster Linie eine Kunstleistung voraus, nicht eine Reporter- geschwindigkeit. Wer heute selbst nicht Künstler ist. selbst nicht mit ein paar Worten ein buntes Bildchen nachmalen kann, soll von vornherein keine Kritiken schreiben, ist zum Priestertum zwischen Künstler und Gemeinde nicht berufen. In diesem Satz steckt die ganze Psychologie der formalen Aufgaben der Kunstkritik. Und eben diese Aufgaben verkennt ein großer Teil der Presse — die Berliner voran — vollkommen. Man sehe diese Konzertberichte: diesen Mangel an Frische, den Mangel an Freude, den Überfluß an nervöser Verärgerung, der im Oktober schon aus diesen Berichten spricht. Es geht nicht anders? Es geht gewiß andersI Ich weiß, im Herbst hieß es, man wolle in Berlin mit der Nachtkritik aufräumen. Man hörte sogar etcvas von einem Streik der Rezensenten. Hat sich alles wieder im Sande ver- laufen? Oder will man vor dein Kampf eine Organisation schaffen, wie die, von der hier die Rede war? Ich weiß, daß alle jene Maßnahmen, die ich vorgeschlagen habe, nicht ohne Mängel sind, daß sie schadhafte Stellen aufweisen, durch die gelegentlich Unfähigkeit, böser Wille und Cliquengeschöpfe schlüpfen könnten. Was tut es? Wichtiger ist es zunächst, daß überhaupt ein Weg geschaffen wird, daß jeder den es angeht, über- zeugt ist, daß es so nicht weiter geht. Findet sich niemand, dem die Hand fest genug ist, das alles einigermaßen einzurenken, was hier so gründlich aus den Fugen gegangen ist?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/97>, abgerufen am 29.12.2024.