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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Realpolitik im Mittelmeer

und die gesamten Streitkräfte unter ein einheitliches Kommando zu stellen. Der
strategische Plan, den Frankreich dabei verfolgt, ist weitaus in erster Linie, für
den Kriegsfall den Rücktransport der in Nordafrika stehenden Truppen zu sichern.
Im Falle eines Krieges mit Deutschland wären diese Truppen auf dem Haupt¬
kriegsschauplatz ganz unentbehrlich, und es käme vor allem auch darauf an, sie
so schnell wie irgend möglich zurückzubefördern, damit sie noch an den Entschei¬
dungskämpfen der ersten Wochen teilnehmen könnten. Die französischen Truppen
in Nordafrika beziffern sich etwa auf 100000 Mann: 10 000 in Tunis. 40000
in Algerien und 50000 in Marokko. Nun ist der schnelle Rücktransport dieser
Truppenmassen tatsächlich keine leichte Aufgabe, da Frankreich in einem Angriffs¬
kriege gegen Deutschland mit Italiens Gegnerschaft zur See rechnen muß, Ein
so umfassender Transport bedeutet aber ein großes Risiko, wenn man vor An¬
griffen nicht sicher ist. Man erinnert sich aus dem ostasiatischen Kriege, daß
der japanische Truppentransport drei Tage lang ganz unterbrochen werden
mußte, nur weil ein einziger russischer Kreuzer aus Wladiwostok entkommen war
und nicht festzustellen war, wo er sich befand. Ebenso hätten die Italiener,
wenn die Türkei über eine einigermaßen brauchbare Flotte verfügt hätte, ihren
Truppentransport nach Tripolis erst beginnen können, nachdem sie die türkische
Flotte unschädlich gemacht hätten. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß der
italienische Truppentransport nach Tripolis nur 25 000 Mann betrug und doch
volle drei Wochen gedauert hat. Die Entfernungen zwischen Sizilien und
Tripolis und zwischen Tunis und Toulon sind etwa gleich groß, und einige
wenige italienische Kreuzer oder eine Flottille von Torpedobooten könnten den
französischen Transport auf eine beträchtliche Zeit verhindern. Daher herrscht
bei den Franzosen eine erhebliche Nervosität über die Sicherung dieses Seeweges,
und ihr neuestes Projekt will das Problem in der Weise lösen, daß über die
Straße von Gibraltar an deren schmalfter Stelle ein Fährdienst eingerichtet
wird, etwa wie zwischen Warnemünde und Gjedser, und daß die französischen
Truppen dann zu Lande durch Spanien nach Frankreich befördert werden.

Indessen betrachteten die Italiener die Konzentrierung der französischen
Flotte in Toulon als einen politischen Akt und als eine drohende Geste, und
man verbreitete eine Äußerung des französischen Vizeadmirals Besson, daß
Frankreich "den Dreibund im Mittelmeer blockieren wolle".

Italien ist erst verhältnismäßig spät dazu gekommen, sowohl politisch als
wirtschaftlich die Früchte seiner Einigung zu ernten. Namentlich blieben seine
politischen Expansionswünsche lange unbefriedigt. Das abesftnische Unternehmen
hatte unglücklich geendet. Erst die Entente mit Frankreich von 1909 räumte
das letzte diplomatische Hindernis für eine italienische Expansion in Nordafrika
hinweg, und als im Herbst 1911 das französische Protektorat über Marokko
gesichert erscheinen durfte, hielt die italienische Regierung den Augenblick für
gekommen, die eigenen Ansprüche auf Tripolis zu realisieren. Die endgültige
Erwerbung Tripolitaniens hat der ganzen italienischen Nation ein politisches


Realpolitik im Mittelmeer

und die gesamten Streitkräfte unter ein einheitliches Kommando zu stellen. Der
strategische Plan, den Frankreich dabei verfolgt, ist weitaus in erster Linie, für
den Kriegsfall den Rücktransport der in Nordafrika stehenden Truppen zu sichern.
Im Falle eines Krieges mit Deutschland wären diese Truppen auf dem Haupt¬
kriegsschauplatz ganz unentbehrlich, und es käme vor allem auch darauf an, sie
so schnell wie irgend möglich zurückzubefördern, damit sie noch an den Entschei¬
dungskämpfen der ersten Wochen teilnehmen könnten. Die französischen Truppen
in Nordafrika beziffern sich etwa auf 100000 Mann: 10 000 in Tunis. 40000
in Algerien und 50000 in Marokko. Nun ist der schnelle Rücktransport dieser
Truppenmassen tatsächlich keine leichte Aufgabe, da Frankreich in einem Angriffs¬
kriege gegen Deutschland mit Italiens Gegnerschaft zur See rechnen muß, Ein
so umfassender Transport bedeutet aber ein großes Risiko, wenn man vor An¬
griffen nicht sicher ist. Man erinnert sich aus dem ostasiatischen Kriege, daß
der japanische Truppentransport drei Tage lang ganz unterbrochen werden
mußte, nur weil ein einziger russischer Kreuzer aus Wladiwostok entkommen war
und nicht festzustellen war, wo er sich befand. Ebenso hätten die Italiener,
wenn die Türkei über eine einigermaßen brauchbare Flotte verfügt hätte, ihren
Truppentransport nach Tripolis erst beginnen können, nachdem sie die türkische
Flotte unschädlich gemacht hätten. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß der
italienische Truppentransport nach Tripolis nur 25 000 Mann betrug und doch
volle drei Wochen gedauert hat. Die Entfernungen zwischen Sizilien und
Tripolis und zwischen Tunis und Toulon sind etwa gleich groß, und einige
wenige italienische Kreuzer oder eine Flottille von Torpedobooten könnten den
französischen Transport auf eine beträchtliche Zeit verhindern. Daher herrscht
bei den Franzosen eine erhebliche Nervosität über die Sicherung dieses Seeweges,
und ihr neuestes Projekt will das Problem in der Weise lösen, daß über die
Straße von Gibraltar an deren schmalfter Stelle ein Fährdienst eingerichtet
wird, etwa wie zwischen Warnemünde und Gjedser, und daß die französischen
Truppen dann zu Lande durch Spanien nach Frankreich befördert werden.

Indessen betrachteten die Italiener die Konzentrierung der französischen
Flotte in Toulon als einen politischen Akt und als eine drohende Geste, und
man verbreitete eine Äußerung des französischen Vizeadmirals Besson, daß
Frankreich „den Dreibund im Mittelmeer blockieren wolle".

Italien ist erst verhältnismäßig spät dazu gekommen, sowohl politisch als
wirtschaftlich die Früchte seiner Einigung zu ernten. Namentlich blieben seine
politischen Expansionswünsche lange unbefriedigt. Das abesftnische Unternehmen
hatte unglücklich geendet. Erst die Entente mit Frankreich von 1909 räumte
das letzte diplomatische Hindernis für eine italienische Expansion in Nordafrika
hinweg, und als im Herbst 1911 das französische Protektorat über Marokko
gesichert erscheinen durfte, hielt die italienische Regierung den Augenblick für
gekommen, die eigenen Ansprüche auf Tripolis zu realisieren. Die endgültige
Erwerbung Tripolitaniens hat der ganzen italienischen Nation ein politisches


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[0078] Realpolitik im Mittelmeer und die gesamten Streitkräfte unter ein einheitliches Kommando zu stellen. Der strategische Plan, den Frankreich dabei verfolgt, ist weitaus in erster Linie, für den Kriegsfall den Rücktransport der in Nordafrika stehenden Truppen zu sichern. Im Falle eines Krieges mit Deutschland wären diese Truppen auf dem Haupt¬ kriegsschauplatz ganz unentbehrlich, und es käme vor allem auch darauf an, sie so schnell wie irgend möglich zurückzubefördern, damit sie noch an den Entschei¬ dungskämpfen der ersten Wochen teilnehmen könnten. Die französischen Truppen in Nordafrika beziffern sich etwa auf 100000 Mann: 10 000 in Tunis. 40000 in Algerien und 50000 in Marokko. Nun ist der schnelle Rücktransport dieser Truppenmassen tatsächlich keine leichte Aufgabe, da Frankreich in einem Angriffs¬ kriege gegen Deutschland mit Italiens Gegnerschaft zur See rechnen muß, Ein so umfassender Transport bedeutet aber ein großes Risiko, wenn man vor An¬ griffen nicht sicher ist. Man erinnert sich aus dem ostasiatischen Kriege, daß der japanische Truppentransport drei Tage lang ganz unterbrochen werden mußte, nur weil ein einziger russischer Kreuzer aus Wladiwostok entkommen war und nicht festzustellen war, wo er sich befand. Ebenso hätten die Italiener, wenn die Türkei über eine einigermaßen brauchbare Flotte verfügt hätte, ihren Truppentransport nach Tripolis erst beginnen können, nachdem sie die türkische Flotte unschädlich gemacht hätten. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß der italienische Truppentransport nach Tripolis nur 25 000 Mann betrug und doch volle drei Wochen gedauert hat. Die Entfernungen zwischen Sizilien und Tripolis und zwischen Tunis und Toulon sind etwa gleich groß, und einige wenige italienische Kreuzer oder eine Flottille von Torpedobooten könnten den französischen Transport auf eine beträchtliche Zeit verhindern. Daher herrscht bei den Franzosen eine erhebliche Nervosität über die Sicherung dieses Seeweges, und ihr neuestes Projekt will das Problem in der Weise lösen, daß über die Straße von Gibraltar an deren schmalfter Stelle ein Fährdienst eingerichtet wird, etwa wie zwischen Warnemünde und Gjedser, und daß die französischen Truppen dann zu Lande durch Spanien nach Frankreich befördert werden. Indessen betrachteten die Italiener die Konzentrierung der französischen Flotte in Toulon als einen politischen Akt und als eine drohende Geste, und man verbreitete eine Äußerung des französischen Vizeadmirals Besson, daß Frankreich „den Dreibund im Mittelmeer blockieren wolle". Italien ist erst verhältnismäßig spät dazu gekommen, sowohl politisch als wirtschaftlich die Früchte seiner Einigung zu ernten. Namentlich blieben seine politischen Expansionswünsche lange unbefriedigt. Das abesftnische Unternehmen hatte unglücklich geendet. Erst die Entente mit Frankreich von 1909 räumte das letzte diplomatische Hindernis für eine italienische Expansion in Nordafrika hinweg, und als im Herbst 1911 das französische Protektorat über Marokko gesichert erscheinen durfte, hielt die italienische Regierung den Augenblick für gekommen, die eigenen Ansprüche auf Tripolis zu realisieren. Die endgültige Erwerbung Tripolitaniens hat der ganzen italienischen Nation ein politisches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/78>, abgerufen am 06.01.2025.