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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Lin Ztreifzug in die Volksetymologie und Volksmythologie

findet sich heute noch (auch außerhalb einer Zusammensetzung mit Hauptwörtern),
und zwar in der Volkssprache des täglichen Lebens. In vielen deutschen Orten
hört und spricht man: "Laß einmal die Tür off" oder "er hat die Tür off¬
gelassen". Hochdeutsch wird jetzt meist dafür das wenig schöne Wort "aus¬
lassen" gebraucht. Sprachgeschichtlich ist nicht ausgeschlossen, daß "auslassen"
aus "offen lassen" entstand. Das Eigenschaftswort "offen" mit Hauptwörtern
zu verbinden, lehnt sonst im allgemeinen unsere Sprache ab; nur im Gewerbs-
Icben kommt diese Verbindung vor"): eine "Offenflöte" kennt der Orgelbauer,
"Trockenfutter, Trockenfäule" kennt der Landwirt, "Trockenboden kennt die
Waschfrau und der Handwerker, der auf Böden zu trocknen hat" (Meyer);
"Offenschreiber" kennt als Notare der Kanzleistil""). Weil Eigenschaftswörter
auf "isch" jeder Verbindung sich versagen, entstand für "spanisch Grün"
Grünspan und für "chinesischen (oder sinesischen) Apfel" unsere Apfelsine (Meyt^r).

Gerade die letzteren Beispiele, sofern ihre Erklärung zutrifft, zeigen, wie
Eigenschaftswörter in Zusammensetzung dem Hauptworte nachfolgen. Nur
weil man die Herkunft der Silben span und sine nicht gekannt hat, erhielt sich
die Wortbildung, in der das Beiwort nachfolgt, bis heute. Und doch nicht
überall bis heute; denn in unseren Konversationslexiken findet sich bei "Grün¬
span" der Zusatz: "auch Spangrün" genannt. Also gibt es Leute, die sich für
eine Modernisierung des "Grünspan" entschieden haben, vermutlich, weil sie
wußten, daß das Wort spanisches Grün bedeute, und weil es deshalb ihrem
Sprachempfinden widerstrebte, das Beiwort dem Hauptworte nachzusetzen. Die
"Apfelsine" dagegen ist bislang schwerlich irgendwo in einen "Sinapfel" mo¬
dernisiert worden.

Und nicht viel anders verhält es sich mit dem "Hornaff". Seine
ursprüngliche Bezeichnung war "Hornoff" (---Hornoffen); ans Unverstand schuf
man daraus den Hornaff und konsequent weiter den Hornaffen. Heutzutage
Wortzusammensetzungen zu bilden, in denen das Hauptwort dem Eigenschafts¬
wort vorgeht, ist nicht mehr üblich. Die Entstehung des Gänsekleins und des
Gänseschwarz fällt in eine frühere Zeit als die des Sauerkrauts; Abendrot und
Morgenrot kannte man eher als Spätherbst und Frühjahr; ebenso speiste man
Gänseklein früher als Sauerkraut,

Eine entsprechende Sprachwandlung tritt uns bei Betrachtung von Per¬
sonennamen entgegen. Wer heute im Bauernstande Heinrich Appel heißt, hieß
vor vier- oder fünfhundert Jahren Appelhcnn, und ein Conrad Kauf führte
damals den Namen Kusenkontz. Das belegen die Akten des ersten Prozesses
der alten Reichskammergerichtsrepositur aus den Jahren 1491"""), die zugleich
ergeben, daß damals schon die Beamten, die Geistlichen, die Notare, die An-





") Vgl Hans Georg Meyer, Bildung zusammengesetzter Wörter im Deutschen (Schul-
Prvgrnmm des grauen Klosters), Berlin 1!)t1. Hier werden die oben im Text bemerkten
Beispiele angeführt.
Siehe A, Stölzel, Zeitschrift für Rechtsgeschichte, 1876; Is, 281,
Siehe Stölzel a, eben a, O,, S. 257 ff.
Lin Ztreifzug in die Volksetymologie und Volksmythologie

findet sich heute noch (auch außerhalb einer Zusammensetzung mit Hauptwörtern),
und zwar in der Volkssprache des täglichen Lebens. In vielen deutschen Orten
hört und spricht man: „Laß einmal die Tür off" oder „er hat die Tür off¬
gelassen". Hochdeutsch wird jetzt meist dafür das wenig schöne Wort „aus¬
lassen" gebraucht. Sprachgeschichtlich ist nicht ausgeschlossen, daß „auslassen"
aus „offen lassen" entstand. Das Eigenschaftswort „offen" mit Hauptwörtern
zu verbinden, lehnt sonst im allgemeinen unsere Sprache ab; nur im Gewerbs-
Icben kommt diese Verbindung vor"): eine „Offenflöte" kennt der Orgelbauer,
„Trockenfutter, Trockenfäule" kennt der Landwirt, „Trockenboden kennt die
Waschfrau und der Handwerker, der auf Böden zu trocknen hat" (Meyer);
„Offenschreiber" kennt als Notare der Kanzleistil""). Weil Eigenschaftswörter
auf „isch" jeder Verbindung sich versagen, entstand für „spanisch Grün"
Grünspan und für „chinesischen (oder sinesischen) Apfel" unsere Apfelsine (Meyt^r).

Gerade die letzteren Beispiele, sofern ihre Erklärung zutrifft, zeigen, wie
Eigenschaftswörter in Zusammensetzung dem Hauptworte nachfolgen. Nur
weil man die Herkunft der Silben span und sine nicht gekannt hat, erhielt sich
die Wortbildung, in der das Beiwort nachfolgt, bis heute. Und doch nicht
überall bis heute; denn in unseren Konversationslexiken findet sich bei „Grün¬
span" der Zusatz: „auch Spangrün" genannt. Also gibt es Leute, die sich für
eine Modernisierung des „Grünspan" entschieden haben, vermutlich, weil sie
wußten, daß das Wort spanisches Grün bedeute, und weil es deshalb ihrem
Sprachempfinden widerstrebte, das Beiwort dem Hauptworte nachzusetzen. Die
„Apfelsine" dagegen ist bislang schwerlich irgendwo in einen „Sinapfel" mo¬
dernisiert worden.

Und nicht viel anders verhält es sich mit dem „Hornaff". Seine
ursprüngliche Bezeichnung war „Hornoff" (---Hornoffen); ans Unverstand schuf
man daraus den Hornaff und konsequent weiter den Hornaffen. Heutzutage
Wortzusammensetzungen zu bilden, in denen das Hauptwort dem Eigenschafts¬
wort vorgeht, ist nicht mehr üblich. Die Entstehung des Gänsekleins und des
Gänseschwarz fällt in eine frühere Zeit als die des Sauerkrauts; Abendrot und
Morgenrot kannte man eher als Spätherbst und Frühjahr; ebenso speiste man
Gänseklein früher als Sauerkraut,

Eine entsprechende Sprachwandlung tritt uns bei Betrachtung von Per¬
sonennamen entgegen. Wer heute im Bauernstande Heinrich Appel heißt, hieß
vor vier- oder fünfhundert Jahren Appelhcnn, und ein Conrad Kauf führte
damals den Namen Kusenkontz. Das belegen die Akten des ersten Prozesses
der alten Reichskammergerichtsrepositur aus den Jahren 1491"""), die zugleich
ergeben, daß damals schon die Beamten, die Geistlichen, die Notare, die An-





") Vgl Hans Georg Meyer, Bildung zusammengesetzter Wörter im Deutschen (Schul-
Prvgrnmm des grauen Klosters), Berlin 1!)t1. Hier werden die oben im Text bemerkten
Beispiele angeführt.
Siehe A, Stölzel, Zeitschrift für Rechtsgeschichte, 1876; Is, 281,
Siehe Stölzel a, eben a, O,, S. 257 ff.
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[0074] Lin Ztreifzug in die Volksetymologie und Volksmythologie findet sich heute noch (auch außerhalb einer Zusammensetzung mit Hauptwörtern), und zwar in der Volkssprache des täglichen Lebens. In vielen deutschen Orten hört und spricht man: „Laß einmal die Tür off" oder „er hat die Tür off¬ gelassen". Hochdeutsch wird jetzt meist dafür das wenig schöne Wort „aus¬ lassen" gebraucht. Sprachgeschichtlich ist nicht ausgeschlossen, daß „auslassen" aus „offen lassen" entstand. Das Eigenschaftswort „offen" mit Hauptwörtern zu verbinden, lehnt sonst im allgemeinen unsere Sprache ab; nur im Gewerbs- Icben kommt diese Verbindung vor"): eine „Offenflöte" kennt der Orgelbauer, „Trockenfutter, Trockenfäule" kennt der Landwirt, „Trockenboden kennt die Waschfrau und der Handwerker, der auf Böden zu trocknen hat" (Meyer); „Offenschreiber" kennt als Notare der Kanzleistil""). Weil Eigenschaftswörter auf „isch" jeder Verbindung sich versagen, entstand für „spanisch Grün" Grünspan und für „chinesischen (oder sinesischen) Apfel" unsere Apfelsine (Meyt^r). Gerade die letzteren Beispiele, sofern ihre Erklärung zutrifft, zeigen, wie Eigenschaftswörter in Zusammensetzung dem Hauptworte nachfolgen. Nur weil man die Herkunft der Silben span und sine nicht gekannt hat, erhielt sich die Wortbildung, in der das Beiwort nachfolgt, bis heute. Und doch nicht überall bis heute; denn in unseren Konversationslexiken findet sich bei „Grün¬ span" der Zusatz: „auch Spangrün" genannt. Also gibt es Leute, die sich für eine Modernisierung des „Grünspan" entschieden haben, vermutlich, weil sie wußten, daß das Wort spanisches Grün bedeute, und weil es deshalb ihrem Sprachempfinden widerstrebte, das Beiwort dem Hauptworte nachzusetzen. Die „Apfelsine" dagegen ist bislang schwerlich irgendwo in einen „Sinapfel" mo¬ dernisiert worden. Und nicht viel anders verhält es sich mit dem „Hornaff". Seine ursprüngliche Bezeichnung war „Hornoff" (---Hornoffen); ans Unverstand schuf man daraus den Hornaff und konsequent weiter den Hornaffen. Heutzutage Wortzusammensetzungen zu bilden, in denen das Hauptwort dem Eigenschafts¬ wort vorgeht, ist nicht mehr üblich. Die Entstehung des Gänsekleins und des Gänseschwarz fällt in eine frühere Zeit als die des Sauerkrauts; Abendrot und Morgenrot kannte man eher als Spätherbst und Frühjahr; ebenso speiste man Gänseklein früher als Sauerkraut, Eine entsprechende Sprachwandlung tritt uns bei Betrachtung von Per¬ sonennamen entgegen. Wer heute im Bauernstande Heinrich Appel heißt, hieß vor vier- oder fünfhundert Jahren Appelhcnn, und ein Conrad Kauf führte damals den Namen Kusenkontz. Das belegen die Akten des ersten Prozesses der alten Reichskammergerichtsrepositur aus den Jahren 1491"""), die zugleich ergeben, daß damals schon die Beamten, die Geistlichen, die Notare, die An- ") Vgl Hans Georg Meyer, Bildung zusammengesetzter Wörter im Deutschen (Schul- Prvgrnmm des grauen Klosters), Berlin 1!)t1. Hier werden die oben im Text bemerkten Beispiele angeführt. Siehe A, Stölzel, Zeitschrift für Rechtsgeschichte, 1876; Is, 281, Siehe Stölzel a, eben a, O,, S. 257 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/74>, abgerufen am 01.01.2025.