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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Schichten des Bürgertums und der Landwirtschaft in die akademisch gebildeten
Berufsklassen und so auch in die höhere Beamtenwelt. Wer von drüben her
ins Land kommt, hat solche Gefühle zu achten und muß sich an solche Ver¬
hältnisse gewöhnen, mag man daheim vielleicht mit anderem Maße messen und
in bevorzugten Kreisen eifersüchtig den Bestand zu wahren trachten.

Solche Anpassung muß nun freilich derjenigen Gesellschaftsklasse am
schwersten fallen, deren Angehörige bei einheitlich und scharf ausgeprägtem
Standesbewußtsein im Lande oft schnell wechselnd ein- und ausziehen und, je
höher gestellt, um so weniger Zeit und Gelegenheit finden, echtes Volkstum in
seinen freien Regungen zu erfassen und des Landes guten Brauch zu würdigen.
Selbst unsere schönsten Romane reichen hier nicht aus, das nötige Verständnis
zu erwecken, und der Mangel an solchem trägt einen Teil der Schuld, wenn
im kritischen Falle zwischen Befehlshaber und Zivilbehörde die rechte Fühlung
ausbleibt. Und so vermag sich dort auch nicht das rechte Gefühl dafür zu
entwickeln, wie man solchem Volkstum bei seiner Aufgabe, in unsere militärischen
Verhältnisse hineinzuwachsen, zu begegnen hat, wie viel man ihm zumuten darf,
wie weit man seine empfindlichen Seiten mit weiser Rücksicht und Zurückhaltung
schonen soll. So verletzt man es leichter als gedacht, und man verletzt es
doppelt und dreifach, wenn man ihm da, wo es sich mit Recht empfindlich
gekränkt fühlt, die Genugtuung verweigert, und zwar nicht etwa bloß, weil ein
doch wenig maßgebendes Hetzblatt sie in unverschämtem Tone forderte, sondern
auch deswegen, weil man einer solchen Forderung grundsätzlich die Berechtigung
abspricht. Mehr Fühlung mit der Gesamtheit unseres öffentlichen Lebens!
Das erheischt von der in vielem sonst musterhaften Selbstzucht und Hingabe
unserer Offiziere nicht bloß das Wohl unseres kleinen Landes, das erheischt das
Heil des Reiches und der ganze vielgestaltige Geist unserer Zeit.

Auch hier ist ein tapferes Vorwärts! am Platze und eine zeitgemäße
Jugendbildung unumgängliche Voraussetzung. Bürgerkunde in Verbindung mit
einem ausgiebigen, bis zur Gegenwart reichenden Geschichtsunterricht ist gegen¬
wärtig für alle höheren Lehranstalten ein dringendes Bedürfnis und für die
Kadettenschulen um so mehr, als ja in ihnen, schon mangels einer vertrauteren
Berührung mit der Jugend anderer Gesellschaftsstufen und Berufsklassen, ohne
Zweifel einseitiger Militärgeist eine seiner kräftigsten Wurzeln hat.

Solch zeitgemäße Schulung würde auch den Blick heilsam schärfen für die
mannigfaltigen Unterschiede und Abstufungen innerhalb der großen Gesamtheit,
die man vom exklusiven Standpunkt aus kurzweg als das Zivil zusammenfaßt
und in erregten Augenblicken wohl als einförmige Masse zu behandeln Gefahr
läuft; sie würde leichter vor der Mißdeutung bewahren, die in dem frechen
Gebaren eines rohen Straßenmobs den Aufruhr einer ganzen Stadtbevölkerung
erblickt und demgemäß verfahren zu dürfen oder gar zu müssen glaubt.

Und doch, auch ohne Hinweis auf eine schier vergessene und veraltete
Kabinettsorder, mit der ein schlichtes Rechtsbewußtsein doch nichts anzufangen


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Schichten des Bürgertums und der Landwirtschaft in die akademisch gebildeten
Berufsklassen und so auch in die höhere Beamtenwelt. Wer von drüben her
ins Land kommt, hat solche Gefühle zu achten und muß sich an solche Ver¬
hältnisse gewöhnen, mag man daheim vielleicht mit anderem Maße messen und
in bevorzugten Kreisen eifersüchtig den Bestand zu wahren trachten.

Solche Anpassung muß nun freilich derjenigen Gesellschaftsklasse am
schwersten fallen, deren Angehörige bei einheitlich und scharf ausgeprägtem
Standesbewußtsein im Lande oft schnell wechselnd ein- und ausziehen und, je
höher gestellt, um so weniger Zeit und Gelegenheit finden, echtes Volkstum in
seinen freien Regungen zu erfassen und des Landes guten Brauch zu würdigen.
Selbst unsere schönsten Romane reichen hier nicht aus, das nötige Verständnis
zu erwecken, und der Mangel an solchem trägt einen Teil der Schuld, wenn
im kritischen Falle zwischen Befehlshaber und Zivilbehörde die rechte Fühlung
ausbleibt. Und so vermag sich dort auch nicht das rechte Gefühl dafür zu
entwickeln, wie man solchem Volkstum bei seiner Aufgabe, in unsere militärischen
Verhältnisse hineinzuwachsen, zu begegnen hat, wie viel man ihm zumuten darf,
wie weit man seine empfindlichen Seiten mit weiser Rücksicht und Zurückhaltung
schonen soll. So verletzt man es leichter als gedacht, und man verletzt es
doppelt und dreifach, wenn man ihm da, wo es sich mit Recht empfindlich
gekränkt fühlt, die Genugtuung verweigert, und zwar nicht etwa bloß, weil ein
doch wenig maßgebendes Hetzblatt sie in unverschämtem Tone forderte, sondern
auch deswegen, weil man einer solchen Forderung grundsätzlich die Berechtigung
abspricht. Mehr Fühlung mit der Gesamtheit unseres öffentlichen Lebens!
Das erheischt von der in vielem sonst musterhaften Selbstzucht und Hingabe
unserer Offiziere nicht bloß das Wohl unseres kleinen Landes, das erheischt das
Heil des Reiches und der ganze vielgestaltige Geist unserer Zeit.

Auch hier ist ein tapferes Vorwärts! am Platze und eine zeitgemäße
Jugendbildung unumgängliche Voraussetzung. Bürgerkunde in Verbindung mit
einem ausgiebigen, bis zur Gegenwart reichenden Geschichtsunterricht ist gegen¬
wärtig für alle höheren Lehranstalten ein dringendes Bedürfnis und für die
Kadettenschulen um so mehr, als ja in ihnen, schon mangels einer vertrauteren
Berührung mit der Jugend anderer Gesellschaftsstufen und Berufsklassen, ohne
Zweifel einseitiger Militärgeist eine seiner kräftigsten Wurzeln hat.

Solch zeitgemäße Schulung würde auch den Blick heilsam schärfen für die
mannigfaltigen Unterschiede und Abstufungen innerhalb der großen Gesamtheit,
die man vom exklusiven Standpunkt aus kurzweg als das Zivil zusammenfaßt
und in erregten Augenblicken wohl als einförmige Masse zu behandeln Gefahr
läuft; sie würde leichter vor der Mißdeutung bewahren, die in dem frechen
Gebaren eines rohen Straßenmobs den Aufruhr einer ganzen Stadtbevölkerung
erblickt und demgemäß verfahren zu dürfen oder gar zu müssen glaubt.

Und doch, auch ohne Hinweis auf eine schier vergessene und veraltete
Kabinettsorder, mit der ein schlichtes Rechtsbewußtsein doch nichts anzufangen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/579>, abgerufen am 29.12.2024.