Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Alte und neue Aunstbetrcichtnng Dingen weniger unterworfen, seine Geistigkeit gern im Abstrakten ausdrückt und Wenn nicht alles täuscht, so haben wir in Worringers Werken den neuen Alte und neue Aunstbetrcichtnng Dingen weniger unterworfen, seine Geistigkeit gern im Abstrakten ausdrückt und Wenn nicht alles täuscht, so haben wir in Worringers Werken den neuen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0577" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328043"/> <fw type="header" place="top"> Alte und neue Aunstbetrcichtnng</fw><lb/> <p xml:id="ID_2689" prev="#ID_2688"> Dingen weniger unterworfen, seine Geistigkeit gern im Abstrakten ausdrückt und<lb/> sich häufig mit solchem abstrakten Ausdruck begnügt, während der antike, süd¬<lb/> ländische Mensch erst zufrieden ist, wenn er eine gern gesehene Realität geistig<lb/> durchdrungen und das Geistige durch eine ästhetisch-rationalistische, aber durchaus<lb/> erdständige Realität wiedergegeben hat. Daß aber Worringers in allem Histo¬<lb/> rischen schwache Gegenüberstellung nicht ein bloßes Spiel des Geistes ist, sondern<lb/> bestimmte Tendenzen des Zeitgeistes andeutet, das lehrt ein Blick auf die Aus¬<lb/> wüchse der neuesten Kunstbewegung. Auch hier das Wegwerfen der Tradition<lb/> — soweit das möglich ist —, das Wiederanknüpfen ans Primitive (Picasso), das<lb/> scheinbar willkürliche Verzerren der Natur, das Hervortreten einer abstrakten<lb/> Formensprache. Und insofern Worringers Buch diese Tendenzen unbewußt<lb/> hervortreten läßt, wird man sich wohl oder übel mit ihm auseinanderzusetzen<lb/> haben, um so mehr, als diese Tendenzen gefährlich scheinen. Es ist nämlich<lb/> sehr zweifelhaft, ob wir das, was zwei unserer größten Künstler, Dürer und<lb/> Goethe, im reifen Alter mit allen Kräften ihres Wesens und Könnens erstrebt<lb/> haben, ungestraft über Bord werfen dürfen gegen das ungewisse Neue, gegen<lb/> die wilde und daher bei aller Großartigkeit durch ihre Vereinzelung schwächliche<lb/> und auf die Dauer wirkungslose phantastische Leidenschaftlichkeit Grünewalds,<lb/> gegen die meinetwegen tiefe, aber in den Dunkelheiten der Abstraktion ver¬<lb/> sinkende nordische Ornamentik, gegen die nur erschütterten Nerven zugängliche<lb/> gotische Linie. Nur eine Fähigkeit des nordischen Menschen bleibt unbestritten:<lb/> seine Jllustrationskunst. Die Romanen haben nur große Buchschmuckkünstler<lb/> gehabt, keine Illustratoren. Es ist darum ein großes Verdienst Worringers,<lb/> auf diese deutsche Kunst, die im sechzehnten Jahrhundert einen internationalen<lb/> Erfolg hatte, in einem guten und klaren, die Höhepunkte leider nur skizzierenden<lb/> historischen Abriß hingewiesen zu haben. („Die altdeutsche Buchillustration."<lb/> R. Pipers Verlag München, mit 115 meist vortrefflich gelungenen und gut<lb/> gewählten Abbildungen.)</p><lb/> <p xml:id="ID_2690"> Wenn nicht alles täuscht, so haben wir in Worringers Werken den neuen<lb/> Typus des kunstbetrachtenden Buches. Es hält sich, zum Schaden seiner Wirkung,<lb/> nicht immer streng an die historischen Tatsachen, es baut gar zu gern bedenk¬<lb/> liche Hypothesen, es ist im Logischen, in der begrifflichen Definition häufig<lb/> unklar und verschwommen, Fehler, die wahrlich nicht entschuldigt werden sollen,<lb/> aber es steht wieder in unbewußten, dafür um so zwingenderem Zusammen¬<lb/> hang mit dem Kunstwollen der Zeit. Wir werden nicht stehen bleiben dürfen<lb/> bei der Ausbreitung und Aufstapelung des Materials, und werden wieder sichten<lb/> müssen nicht nach begrifflichen, sondern künstlerisch notwendigen Gesichtspunkten,<lb/> wie es auch Burgers Handbuch anstrebt, vor allem aber nach den Gesichts¬<lb/> punkten einer gesunden Kunsterziehung, wie sie Winckelmann vertreten hat.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0577]
Alte und neue Aunstbetrcichtnng
Dingen weniger unterworfen, seine Geistigkeit gern im Abstrakten ausdrückt und
sich häufig mit solchem abstrakten Ausdruck begnügt, während der antike, süd¬
ländische Mensch erst zufrieden ist, wenn er eine gern gesehene Realität geistig
durchdrungen und das Geistige durch eine ästhetisch-rationalistische, aber durchaus
erdständige Realität wiedergegeben hat. Daß aber Worringers in allem Histo¬
rischen schwache Gegenüberstellung nicht ein bloßes Spiel des Geistes ist, sondern
bestimmte Tendenzen des Zeitgeistes andeutet, das lehrt ein Blick auf die Aus¬
wüchse der neuesten Kunstbewegung. Auch hier das Wegwerfen der Tradition
— soweit das möglich ist —, das Wiederanknüpfen ans Primitive (Picasso), das
scheinbar willkürliche Verzerren der Natur, das Hervortreten einer abstrakten
Formensprache. Und insofern Worringers Buch diese Tendenzen unbewußt
hervortreten läßt, wird man sich wohl oder übel mit ihm auseinanderzusetzen
haben, um so mehr, als diese Tendenzen gefährlich scheinen. Es ist nämlich
sehr zweifelhaft, ob wir das, was zwei unserer größten Künstler, Dürer und
Goethe, im reifen Alter mit allen Kräften ihres Wesens und Könnens erstrebt
haben, ungestraft über Bord werfen dürfen gegen das ungewisse Neue, gegen
die wilde und daher bei aller Großartigkeit durch ihre Vereinzelung schwächliche
und auf die Dauer wirkungslose phantastische Leidenschaftlichkeit Grünewalds,
gegen die meinetwegen tiefe, aber in den Dunkelheiten der Abstraktion ver¬
sinkende nordische Ornamentik, gegen die nur erschütterten Nerven zugängliche
gotische Linie. Nur eine Fähigkeit des nordischen Menschen bleibt unbestritten:
seine Jllustrationskunst. Die Romanen haben nur große Buchschmuckkünstler
gehabt, keine Illustratoren. Es ist darum ein großes Verdienst Worringers,
auf diese deutsche Kunst, die im sechzehnten Jahrhundert einen internationalen
Erfolg hatte, in einem guten und klaren, die Höhepunkte leider nur skizzierenden
historischen Abriß hingewiesen zu haben. („Die altdeutsche Buchillustration."
R. Pipers Verlag München, mit 115 meist vortrefflich gelungenen und gut
gewählten Abbildungen.)
Wenn nicht alles täuscht, so haben wir in Worringers Werken den neuen
Typus des kunstbetrachtenden Buches. Es hält sich, zum Schaden seiner Wirkung,
nicht immer streng an die historischen Tatsachen, es baut gar zu gern bedenk¬
liche Hypothesen, es ist im Logischen, in der begrifflichen Definition häufig
unklar und verschwommen, Fehler, die wahrlich nicht entschuldigt werden sollen,
aber es steht wieder in unbewußten, dafür um so zwingenderem Zusammen¬
hang mit dem Kunstwollen der Zeit. Wir werden nicht stehen bleiben dürfen
bei der Ausbreitung und Aufstapelung des Materials, und werden wieder sichten
müssen nicht nach begrifflichen, sondern künstlerisch notwendigen Gesichtspunkten,
wie es auch Burgers Handbuch anstrebt, vor allem aber nach den Gesichts¬
punkten einer gesunden Kunsterziehung, wie sie Winckelmann vertreten hat.
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