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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Rechtsfragen

Die Gesundbeter und das künftige deutsche
Reichsstrafgesehvuch. Der Fall der Hofschau¬
spielerin Nuscha Butze, welche nach der öffent¬
lich erhobenen Anklage ihres letztbehandelnden
Arztes von den Gesundbetern zu Tode ge¬
betet morden ist, hat das Interesse der Öffent¬
lichkeit wieder einmal auf diese gefährliche
Menschenklasse gelenkt. Der Allgemeinheit
gilt dieser Fall vermutlich als ein vereinzelt
dastehender. Sie weiß nicht, wie reihend
dieser Wahn gerade in den letzten Jahren in
Deutschland um sich gegriffen hat und wie vor
allem die aus Amerika eingeführte Christian
Science abergläubische und beschränkte Ge¬
müter sich zu unterwerfen verstanden hat. Ich
erinnere von Ereignissen aus den letzten Jahren
nur an den Fall des Zahlmeisters in Berlin,
der sich beim Gesundbetcn samt seiner ganzen
Familie um den Verstand gebetet hat; den
Fall des armen Dienstmädchens, das ihrem
Leben durch Ertränken ein Ende machte, weil
eine Wahrsagerin ihrem Bräutigam gesagt
hatte, er werde mit dieser Braut nicht glück¬
lich werden und weil jener deshalb die Ver¬
lobung gelöst hatte; und an die an Aufstand
grenzende Sektiererei in Hessen. Neuerdings
hat auch die deutsche Ärzteschaft, in der rich¬
tigen Erkenntnis, wie gefährlich die Anschau¬
ungen der Christian Science der deutschen

[Spaltenumbruch]

Volksgesundheit werden können, den Kampf
gegen diese aufgenommen und kennzeichnende
Fälle gesammelt. Da hat eine Gesundbeterin
einem Augenkranken die ärztlichen Verbände
heruntergerissen, ihn damit zwar dein Er¬
blinden nahegebracht, dafür aber ihn auch auf
das Gebet als das einzige Heilmittel hin¬
gewiesen. Ein der Sekte der Gesundbeter
zugetanes Elternpnar ließ zu ihrem Sohne,
der an schweren, durch das Eindringen einer
Wagendeichsel in den Leib verursachten Ver¬
letzungen darniederlag, statt eines Arztes sechs
Betschwestern und eine Nonne der Sekte rufen,
die vier Tage und Nächte lang gemeinsam
mit den Eltern am Krankenlager beteten,
welche Behandlung natürlich mit den: Tode
des Patienten endete.

Angesichts dieses empörenden Aberglaubens,
der bei Epidemien geradezu gemeingefährlich
werden kann, drängt sich die Frage auf, was
haben die Kommissionen, welche an unserem
neuen deutschen Reichsstrafgesetzbuche arbeiten,
zur Bekämpfung von Gesundbeterei, Wahr¬
sagerei, Zauberei und ähnlichem Aberglauben
getan? Der Vorentwurf läßt jegliche Be¬
stimmung gegen die mit der vierten Dimen¬
sion arbeitendenHerrschaften vermissen, und auch
der unlängst im Reichsjustizamt fertiggestellte
zweite, bisher nicht veröffentlichte Entwurf hat,
nach der mir mündlich gewordenen Auskunft
eines Mitarbeiters, ebensowenig eine solche

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Rechtsfragen

Die Gesundbeter und das künftige deutsche
Reichsstrafgesehvuch. Der Fall der Hofschau¬
spielerin Nuscha Butze, welche nach der öffent¬
lich erhobenen Anklage ihres letztbehandelnden
Arztes von den Gesundbetern zu Tode ge¬
betet morden ist, hat das Interesse der Öffent¬
lichkeit wieder einmal auf diese gefährliche
Menschenklasse gelenkt. Der Allgemeinheit
gilt dieser Fall vermutlich als ein vereinzelt
dastehender. Sie weiß nicht, wie reihend
dieser Wahn gerade in den letzten Jahren in
Deutschland um sich gegriffen hat und wie vor
allem die aus Amerika eingeführte Christian
Science abergläubische und beschränkte Ge¬
müter sich zu unterwerfen verstanden hat. Ich
erinnere von Ereignissen aus den letzten Jahren
nur an den Fall des Zahlmeisters in Berlin,
der sich beim Gesundbetcn samt seiner ganzen
Familie um den Verstand gebetet hat; den
Fall des armen Dienstmädchens, das ihrem
Leben durch Ertränken ein Ende machte, weil
eine Wahrsagerin ihrem Bräutigam gesagt
hatte, er werde mit dieser Braut nicht glück¬
lich werden und weil jener deshalb die Ver¬
lobung gelöst hatte; und an die an Aufstand
grenzende Sektiererei in Hessen. Neuerdings
hat auch die deutsche Ärzteschaft, in der rich¬
tigen Erkenntnis, wie gefährlich die Anschau¬
ungen der Christian Science der deutschen

[Spaltenumbruch]

Volksgesundheit werden können, den Kampf
gegen diese aufgenommen und kennzeichnende
Fälle gesammelt. Da hat eine Gesundbeterin
einem Augenkranken die ärztlichen Verbände
heruntergerissen, ihn damit zwar dein Er¬
blinden nahegebracht, dafür aber ihn auch auf
das Gebet als das einzige Heilmittel hin¬
gewiesen. Ein der Sekte der Gesundbeter
zugetanes Elternpnar ließ zu ihrem Sohne,
der an schweren, durch das Eindringen einer
Wagendeichsel in den Leib verursachten Ver¬
letzungen darniederlag, statt eines Arztes sechs
Betschwestern und eine Nonne der Sekte rufen,
die vier Tage und Nächte lang gemeinsam
mit den Eltern am Krankenlager beteten,
welche Behandlung natürlich mit den: Tode
des Patienten endete.

Angesichts dieses empörenden Aberglaubens,
der bei Epidemien geradezu gemeingefährlich
werden kann, drängt sich die Frage auf, was
haben die Kommissionen, welche an unserem
neuen deutschen Reichsstrafgesetzbuche arbeiten,
zur Bekämpfung von Gesundbeterei, Wahr¬
sagerei, Zauberei und ähnlichem Aberglauben
getan? Der Vorentwurf läßt jegliche Be¬
stimmung gegen die mit der vierten Dimen¬
sion arbeitendenHerrschaften vermissen, und auch
der unlängst im Reichsjustizamt fertiggestellte
zweite, bisher nicht veröffentlichte Entwurf hat,
nach der mir mündlich gewordenen Auskunft
eines Mitarbeiters, ebensowenig eine solche

[Ende Spaltensatz]
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[0056] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Rechtsfragen Die Gesundbeter und das künftige deutsche Reichsstrafgesehvuch. Der Fall der Hofschau¬ spielerin Nuscha Butze, welche nach der öffent¬ lich erhobenen Anklage ihres letztbehandelnden Arztes von den Gesundbetern zu Tode ge¬ betet morden ist, hat das Interesse der Öffent¬ lichkeit wieder einmal auf diese gefährliche Menschenklasse gelenkt. Der Allgemeinheit gilt dieser Fall vermutlich als ein vereinzelt dastehender. Sie weiß nicht, wie reihend dieser Wahn gerade in den letzten Jahren in Deutschland um sich gegriffen hat und wie vor allem die aus Amerika eingeführte Christian Science abergläubische und beschränkte Ge¬ müter sich zu unterwerfen verstanden hat. Ich erinnere von Ereignissen aus den letzten Jahren nur an den Fall des Zahlmeisters in Berlin, der sich beim Gesundbetcn samt seiner ganzen Familie um den Verstand gebetet hat; den Fall des armen Dienstmädchens, das ihrem Leben durch Ertränken ein Ende machte, weil eine Wahrsagerin ihrem Bräutigam gesagt hatte, er werde mit dieser Braut nicht glück¬ lich werden und weil jener deshalb die Ver¬ lobung gelöst hatte; und an die an Aufstand grenzende Sektiererei in Hessen. Neuerdings hat auch die deutsche Ärzteschaft, in der rich¬ tigen Erkenntnis, wie gefährlich die Anschau¬ ungen der Christian Science der deutschen Volksgesundheit werden können, den Kampf gegen diese aufgenommen und kennzeichnende Fälle gesammelt. Da hat eine Gesundbeterin einem Augenkranken die ärztlichen Verbände heruntergerissen, ihn damit zwar dein Er¬ blinden nahegebracht, dafür aber ihn auch auf das Gebet als das einzige Heilmittel hin¬ gewiesen. Ein der Sekte der Gesundbeter zugetanes Elternpnar ließ zu ihrem Sohne, der an schweren, durch das Eindringen einer Wagendeichsel in den Leib verursachten Ver¬ letzungen darniederlag, statt eines Arztes sechs Betschwestern und eine Nonne der Sekte rufen, die vier Tage und Nächte lang gemeinsam mit den Eltern am Krankenlager beteten, welche Behandlung natürlich mit den: Tode des Patienten endete. Angesichts dieses empörenden Aberglaubens, der bei Epidemien geradezu gemeingefährlich werden kann, drängt sich die Frage auf, was haben die Kommissionen, welche an unserem neuen deutschen Reichsstrafgesetzbuche arbeiten, zur Bekämpfung von Gesundbeterei, Wahr¬ sagerei, Zauberei und ähnlichem Aberglauben getan? Der Vorentwurf läßt jegliche Be¬ stimmung gegen die mit der vierten Dimen¬ sion arbeitendenHerrschaften vermissen, und auch der unlängst im Reichsjustizamt fertiggestellte zweite, bisher nicht veröffentlichte Entwurf hat, nach der mir mündlich gewordenen Auskunft eines Mitarbeiters, ebensowenig eine solche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/56>, abgerufen am 29.12.2024.