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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Grundfragen des Ainderschutzes

Die älteste Beurteilung sagt etwa, daß man ein Waisenkind so erziehen
müsse, wie es seine Eltern erzogen haben würden oder wie Eltern in denselben
Schichten ihr Kind zu erziehen pflegen. Das Ziel der Erziehung muß dieser
Schicht entnommen werden, und auch die Methoden der Erziehung, die Art
der Verpflegung und Behandlung braucht über die Meinung und Gewohnheiten
dieser Schicht nicht hinauszugehen. Faßt man diese Ansicht, die mit der Zähigkeit
alter Überlieferungen sich heute noch aufrecht hält, in etwas allgemeinere
Formen, so heißt es, man solle arme Kinder, die aus öffentlichen Mitteln
erzogen werden, nicht besser stellen, als Kinder der untersten Volksschichten, die
bei ihren Eltern ohne Armenunterstützung bleiben. Das Existenzminimum dieser
Schichten genügt als Armenversorgung auch in der Erziehung und Ausbildung
von Kindern. Mit anderen Worten, hier werden die Gesichtspunkte der Kinder-
sürsorge vollständig durch Erwägungen der Armenpflege überdeckt, man treibt
Kinderfürsorge rein im Rahmen der Armenpflege. Daher begnügt man sich,
im Rahmen der Anschauungen jener unteren Gesellschaftskreise über Art und
Maß der Erziehung zu bleiben. Diesen engherzigen Standpunkt kann aber
die Jugendfürsorge nicht lange festhalten. Nehmen wir ein einfaches Beispiel.
Die Kinder der ungelernten und unständigen Arbeiter können natürlich im
allgemeinen keine besondere Berufsausbildung erhalten, weil den Eltern die
Mittel dazu fehlen. Jedes Kind muß, wenn es die Schule verlassen hat,
möglichst bald verdienen, um sich selbst zu erhalten und vielleicht noch zum
Unterhalt der Familie eine Zeitlang beizutragen. Die Kinderfürsorge im
engsten Nahmen der Armenpflege begnügt sich daher damit, das Kind nach der
Schulentlassung in einem Arbeitsverhältnis unterzubringen, wo es seinen Unter¬
halt selbst verdient. Dann ist es eben so weit gebracht, wie Kinder dieser
Elternkreise im Durchschnitt gebracht werden. Damit wird es ebenso wie diese
keinen Beruf erlernen können. Nun sehen wir jedoch mehr und mehr ein, daß
die ungelernten Arbeiter unendlich ungünstiger gestellt sind als die gelernten,
daß sie vor allem viel größere Anteile zur Verwahrlosung, zum Landstreicher-
tum wie zum Verbrechertum stellen. Ein Kind einen Beruf erlernen lassen,
heißt also vom Standpunkt der Gesellschaft aus, dieser später beträchtliche
Kosten ersparen, da sie dann viel weniger Landstreicher, Verbrecher und Arme
zu versorgen hat. Was an derartigen Kosten erspart wird, beträgt so viel,
daß die Kosten einer Berufsausbildung davor zurücktreten. Oder betrachten
wir die Sache umgekehrt:

Jene Eltern können nicht den nötigen Blick für diese Verhältnisse besitzen,
sie haben nicht die Möglichkeit, mehr zu tun; die Gesellschaft, die sich armer
Kinder angenommen, besitzt die Einsicht in die Gefahren dieser Verhältnisse;
sie weiß, daß sie durch ihr Verhalten einen beträchtlichen Teil jener Kinder zu¬
grunde richten kann. So erwächst ihr die selbstverständliche Pflicht, dieser
höheren Einsicht gemäß zu handeln, den Kindern eine ordentliche Berufsaus¬
bildung zu beschaffen und sie damit beträchtlich besser zu stellen als die Kinder.


Grundfragen des Ainderschutzes

Die älteste Beurteilung sagt etwa, daß man ein Waisenkind so erziehen
müsse, wie es seine Eltern erzogen haben würden oder wie Eltern in denselben
Schichten ihr Kind zu erziehen pflegen. Das Ziel der Erziehung muß dieser
Schicht entnommen werden, und auch die Methoden der Erziehung, die Art
der Verpflegung und Behandlung braucht über die Meinung und Gewohnheiten
dieser Schicht nicht hinauszugehen. Faßt man diese Ansicht, die mit der Zähigkeit
alter Überlieferungen sich heute noch aufrecht hält, in etwas allgemeinere
Formen, so heißt es, man solle arme Kinder, die aus öffentlichen Mitteln
erzogen werden, nicht besser stellen, als Kinder der untersten Volksschichten, die
bei ihren Eltern ohne Armenunterstützung bleiben. Das Existenzminimum dieser
Schichten genügt als Armenversorgung auch in der Erziehung und Ausbildung
von Kindern. Mit anderen Worten, hier werden die Gesichtspunkte der Kinder-
sürsorge vollständig durch Erwägungen der Armenpflege überdeckt, man treibt
Kinderfürsorge rein im Rahmen der Armenpflege. Daher begnügt man sich,
im Rahmen der Anschauungen jener unteren Gesellschaftskreise über Art und
Maß der Erziehung zu bleiben. Diesen engherzigen Standpunkt kann aber
die Jugendfürsorge nicht lange festhalten. Nehmen wir ein einfaches Beispiel.
Die Kinder der ungelernten und unständigen Arbeiter können natürlich im
allgemeinen keine besondere Berufsausbildung erhalten, weil den Eltern die
Mittel dazu fehlen. Jedes Kind muß, wenn es die Schule verlassen hat,
möglichst bald verdienen, um sich selbst zu erhalten und vielleicht noch zum
Unterhalt der Familie eine Zeitlang beizutragen. Die Kinderfürsorge im
engsten Nahmen der Armenpflege begnügt sich daher damit, das Kind nach der
Schulentlassung in einem Arbeitsverhältnis unterzubringen, wo es seinen Unter¬
halt selbst verdient. Dann ist es eben so weit gebracht, wie Kinder dieser
Elternkreise im Durchschnitt gebracht werden. Damit wird es ebenso wie diese
keinen Beruf erlernen können. Nun sehen wir jedoch mehr und mehr ein, daß
die ungelernten Arbeiter unendlich ungünstiger gestellt sind als die gelernten,
daß sie vor allem viel größere Anteile zur Verwahrlosung, zum Landstreicher-
tum wie zum Verbrechertum stellen. Ein Kind einen Beruf erlernen lassen,
heißt also vom Standpunkt der Gesellschaft aus, dieser später beträchtliche
Kosten ersparen, da sie dann viel weniger Landstreicher, Verbrecher und Arme
zu versorgen hat. Was an derartigen Kosten erspart wird, beträgt so viel,
daß die Kosten einer Berufsausbildung davor zurücktreten. Oder betrachten
wir die Sache umgekehrt:

Jene Eltern können nicht den nötigen Blick für diese Verhältnisse besitzen,
sie haben nicht die Möglichkeit, mehr zu tun; die Gesellschaft, die sich armer
Kinder angenommen, besitzt die Einsicht in die Gefahren dieser Verhältnisse;
sie weiß, daß sie durch ihr Verhalten einen beträchtlichen Teil jener Kinder zu¬
grunde richten kann. So erwächst ihr die selbstverständliche Pflicht, dieser
höheren Einsicht gemäß zu handeln, den Kindern eine ordentliche Berufsaus¬
bildung zu beschaffen und sie damit beträchtlich besser zu stellen als die Kinder.


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[0519] Grundfragen des Ainderschutzes Die älteste Beurteilung sagt etwa, daß man ein Waisenkind so erziehen müsse, wie es seine Eltern erzogen haben würden oder wie Eltern in denselben Schichten ihr Kind zu erziehen pflegen. Das Ziel der Erziehung muß dieser Schicht entnommen werden, und auch die Methoden der Erziehung, die Art der Verpflegung und Behandlung braucht über die Meinung und Gewohnheiten dieser Schicht nicht hinauszugehen. Faßt man diese Ansicht, die mit der Zähigkeit alter Überlieferungen sich heute noch aufrecht hält, in etwas allgemeinere Formen, so heißt es, man solle arme Kinder, die aus öffentlichen Mitteln erzogen werden, nicht besser stellen, als Kinder der untersten Volksschichten, die bei ihren Eltern ohne Armenunterstützung bleiben. Das Existenzminimum dieser Schichten genügt als Armenversorgung auch in der Erziehung und Ausbildung von Kindern. Mit anderen Worten, hier werden die Gesichtspunkte der Kinder- sürsorge vollständig durch Erwägungen der Armenpflege überdeckt, man treibt Kinderfürsorge rein im Rahmen der Armenpflege. Daher begnügt man sich, im Rahmen der Anschauungen jener unteren Gesellschaftskreise über Art und Maß der Erziehung zu bleiben. Diesen engherzigen Standpunkt kann aber die Jugendfürsorge nicht lange festhalten. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Die Kinder der ungelernten und unständigen Arbeiter können natürlich im allgemeinen keine besondere Berufsausbildung erhalten, weil den Eltern die Mittel dazu fehlen. Jedes Kind muß, wenn es die Schule verlassen hat, möglichst bald verdienen, um sich selbst zu erhalten und vielleicht noch zum Unterhalt der Familie eine Zeitlang beizutragen. Die Kinderfürsorge im engsten Nahmen der Armenpflege begnügt sich daher damit, das Kind nach der Schulentlassung in einem Arbeitsverhältnis unterzubringen, wo es seinen Unter¬ halt selbst verdient. Dann ist es eben so weit gebracht, wie Kinder dieser Elternkreise im Durchschnitt gebracht werden. Damit wird es ebenso wie diese keinen Beruf erlernen können. Nun sehen wir jedoch mehr und mehr ein, daß die ungelernten Arbeiter unendlich ungünstiger gestellt sind als die gelernten, daß sie vor allem viel größere Anteile zur Verwahrlosung, zum Landstreicher- tum wie zum Verbrechertum stellen. Ein Kind einen Beruf erlernen lassen, heißt also vom Standpunkt der Gesellschaft aus, dieser später beträchtliche Kosten ersparen, da sie dann viel weniger Landstreicher, Verbrecher und Arme zu versorgen hat. Was an derartigen Kosten erspart wird, beträgt so viel, daß die Kosten einer Berufsausbildung davor zurücktreten. Oder betrachten wir die Sache umgekehrt: Jene Eltern können nicht den nötigen Blick für diese Verhältnisse besitzen, sie haben nicht die Möglichkeit, mehr zu tun; die Gesellschaft, die sich armer Kinder angenommen, besitzt die Einsicht in die Gefahren dieser Verhältnisse; sie weiß, daß sie durch ihr Verhalten einen beträchtlichen Teil jener Kinder zu¬ grunde richten kann. So erwächst ihr die selbstverständliche Pflicht, dieser höheren Einsicht gemäß zu handeln, den Kindern eine ordentliche Berufsaus¬ bildung zu beschaffen und sie damit beträchtlich besser zu stellen als die Kinder.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/519>, abgerufen am 04.01.2025.