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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Grundfragen des Kinderschuhe?

alle ergänzenden Leistungen der Fürsorge dagegen zurücktreten. Was da von
der Familie über den einfachen Unterhalt hinaus geleistet wird, fällt um so
mehr ins Gewicht. Eine höhere Leistung können die Erziehungsausgaben der
oberen Stände nicht darstellen, selbst wenn sie sich naturgemäß über einen längeren
Zeitraum erstrecken. Dafür aber gewährt die Öffentlichkeit für die jahrelange
Ausbildung der höheren Schichten weit bedeutendere Zuschüsse in der Unter¬
haltung der öffentlichen Ausbildungsanstalten als wie sie den unteren Schichten
durch Schulen und Fürsorgeeinrichtungen gewährt werden können. Wenn wir
es als Pflicht der Gesellschaft ansehen, den oberen und mittleren Ständen eine
höhere Ausbildung ihres Nachwuchses im Interesse der Gesamtheit zu ermöglichen,
wenn wir dafür mit Recht in weitem Maße öffentliche Mittel in Anspruch
nehmen, so wird man mit demselben Recht fordern müssen, daß die bessere
Ausbildung und Erziehung, die wir als Gesellschaft auch für den Nachwuchs
der unteren Stände für nötig erachten, um so mehr durch allgemeine Mittel
gesichert werde, als die eigene Leistungsfähigkeit der Familie hier verhältnismäßig
gering ist.

Man vergleicht manchmal in einem seltsamen Zahlenbilde die Kosten der
Ausbildung eines Arbeiters und eines Akademikers und deren Einnahmen bis
zu einem gewissen Zeitpunkt ihres Lebens. Da erscheinen dann nebeneinander
die Ausgaben, die bis zum 25. Jahr und länger die Ausbildung des Akademikers
ihm selber, richtiger seiner Familie verursacht hat, gegenüber den Einnahmen,
die z. B. der Maurer schon lange Jahre genossen hat. Der Wert solcher Zusammen¬
stellungen, die im wesentlichen nur ein Zahlenkunststück sind, kann dahingestellt
bleiben. Sie geben aber eine gute Anschauung, wenn wir uns fragen, was
Staat, Gemeinde und öffentliche Organe für die Ausbildung des Akademikers
und für die Ausbildung des Maurers, selbst wenn dieser ganz auf Kosten der
Fürsorge erzogen sein sollte, in derselben Zeit ausgegeben haben. Es ist gar nicht
nötig, dafür eine Einzelrechnung aufzustellen; jeder sieht ohne weiteres, daß
selbst der vollständige Unterhalt des Arbeiterkindes bis zur Selbständigkeit nicht
entfernt an das heranreicht, was die öffentlichen Schulen an öffentlichen Mitteln
verbrauchen.

Es wäre grundfalsch, hieraus die Aufwendung gleicher Mittel für beide
zu fordern; aber eines steht man daraus deutlich: das was jene größeren
Aufwendungen für die höhere Ausbildung rechtfertigt, ist das Urteil der Gesellschaft,
die diese Ausbildung im Interesse der Gesamtheit sür erforderlich hält, und
deshalb die nötigen Mittel dafür bereitstellt. Von demselben Gesichtspunkt aus
müssen die Ausgaben der Fürsorge beurteilt und in ihrem Umfange abgemessen
werden. Was diese Forderung in sich schließt, sei durch ein Beispiel aus der
tatsächlichen Entwicklung des ältesten Gebietes der Kinderfürsorge, der Armen¬
pflege für Kinder, der Versorgung von Waisenkindern erläutert. Hier sieht
man deutlich, wie die Anschauung der Gesamtheit über die Erziehung, das
Pflichtbewußtsein der Gesellschaft die Entwicklung bestimmt.


Grundfragen des Kinderschuhe?

alle ergänzenden Leistungen der Fürsorge dagegen zurücktreten. Was da von
der Familie über den einfachen Unterhalt hinaus geleistet wird, fällt um so
mehr ins Gewicht. Eine höhere Leistung können die Erziehungsausgaben der
oberen Stände nicht darstellen, selbst wenn sie sich naturgemäß über einen längeren
Zeitraum erstrecken. Dafür aber gewährt die Öffentlichkeit für die jahrelange
Ausbildung der höheren Schichten weit bedeutendere Zuschüsse in der Unter¬
haltung der öffentlichen Ausbildungsanstalten als wie sie den unteren Schichten
durch Schulen und Fürsorgeeinrichtungen gewährt werden können. Wenn wir
es als Pflicht der Gesellschaft ansehen, den oberen und mittleren Ständen eine
höhere Ausbildung ihres Nachwuchses im Interesse der Gesamtheit zu ermöglichen,
wenn wir dafür mit Recht in weitem Maße öffentliche Mittel in Anspruch
nehmen, so wird man mit demselben Recht fordern müssen, daß die bessere
Ausbildung und Erziehung, die wir als Gesellschaft auch für den Nachwuchs
der unteren Stände für nötig erachten, um so mehr durch allgemeine Mittel
gesichert werde, als die eigene Leistungsfähigkeit der Familie hier verhältnismäßig
gering ist.

Man vergleicht manchmal in einem seltsamen Zahlenbilde die Kosten der
Ausbildung eines Arbeiters und eines Akademikers und deren Einnahmen bis
zu einem gewissen Zeitpunkt ihres Lebens. Da erscheinen dann nebeneinander
die Ausgaben, die bis zum 25. Jahr und länger die Ausbildung des Akademikers
ihm selber, richtiger seiner Familie verursacht hat, gegenüber den Einnahmen,
die z. B. der Maurer schon lange Jahre genossen hat. Der Wert solcher Zusammen¬
stellungen, die im wesentlichen nur ein Zahlenkunststück sind, kann dahingestellt
bleiben. Sie geben aber eine gute Anschauung, wenn wir uns fragen, was
Staat, Gemeinde und öffentliche Organe für die Ausbildung des Akademikers
und für die Ausbildung des Maurers, selbst wenn dieser ganz auf Kosten der
Fürsorge erzogen sein sollte, in derselben Zeit ausgegeben haben. Es ist gar nicht
nötig, dafür eine Einzelrechnung aufzustellen; jeder sieht ohne weiteres, daß
selbst der vollständige Unterhalt des Arbeiterkindes bis zur Selbständigkeit nicht
entfernt an das heranreicht, was die öffentlichen Schulen an öffentlichen Mitteln
verbrauchen.

Es wäre grundfalsch, hieraus die Aufwendung gleicher Mittel für beide
zu fordern; aber eines steht man daraus deutlich: das was jene größeren
Aufwendungen für die höhere Ausbildung rechtfertigt, ist das Urteil der Gesellschaft,
die diese Ausbildung im Interesse der Gesamtheit sür erforderlich hält, und
deshalb die nötigen Mittel dafür bereitstellt. Von demselben Gesichtspunkt aus
müssen die Ausgaben der Fürsorge beurteilt und in ihrem Umfange abgemessen
werden. Was diese Forderung in sich schließt, sei durch ein Beispiel aus der
tatsächlichen Entwicklung des ältesten Gebietes der Kinderfürsorge, der Armen¬
pflege für Kinder, der Versorgung von Waisenkindern erläutert. Hier sieht
man deutlich, wie die Anschauung der Gesamtheit über die Erziehung, das
Pflichtbewußtsein der Gesellschaft die Entwicklung bestimmt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/518>, abgerufen am 04.01.2025.