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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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das staatlich-nationale Bewußtsein; und mehr noch: sie macht die Steuerzahler
gefügig in der Herausgabe von Geldern für Rüstungszwecke, wodurch wieder, für
die Liberalen unmerklich, allmählich und ganz von selbst alle Resormgedanken ab¬
gedrosselt werden und der innerpolitische und kulturelle Schwerpunkt wieder zurück¬
verlegt wird in die Armee, wie zu Zeiten Nikolaus des Ersten. Unter den zuletzt
erwähnten innerpolitischen Gesichtspunkten muß vor allen Dingen die Erhöhung
des Rekrutenkontingents, die nach französischen Quellen 90 000 Mann betragen
soll, gestellt werden: bei der Heranziehung aller waffenfähigen Jugend zum Heeres¬
dienst kann sich die Regierung dem Ausbau des Volksschulwesens gegenüber um so
zögernder verhalten, je besseres die Regimentsschulen leisten; jedenfalls beschränkt
sie die Zahl und infolgedessen auch den Einfluß der meist sozialistisch gesinnten
Volksschullehrer.

Einen direkten und wirksamen Vorstoß gegen die revolutionäre Bewegung
bedeutet die Zurückhaltung der ausgebildeten Jahrgänge bis in den April hinein
(während diese bis 1911 schon zum I.Januar entlassen wurden). Gewiß bringt
diese Zurückhaltung eine Stärkung der Armee um rund 400 000 Mann, aber diese
400000 Mann werden zugleich dein Arbeitsmarkt entzogen in einer Zeit, wo
bekanntermaßen das Arbeitsangebot in ganz Rußland am geringsten ist. Die zum
1. Januar entlassenen Soldaten, die bis zum Frühjahr keinen Erwerb fanden und
infolgedessen ihren Familien auf dem Dorfe zur Zeit der teueren Butterwoche und
der großen Fasten auf der Tasche lagen, stellten ein treffliches Material für die
revolutionäre und sozialistische Bearbeitung dar. Jetzt fällt dies Material weg;
die Entlassung findet zu einer Zeit statt, wo der Russe den Platz hinterm Ofen zu
verlassen beginnt, wo selbst in den nördlichen Teilen Rußlands die Geräte für die
Ackerbestellung in Ordmmg gebracht zu werden Pflegen, wo die Holzplatze sich öffnen
und die Wasserstraßen eisfrei werden. Die Hauptarbeitszeit setzt ein, in der der
Bauer keine Neigung hat, sich von sozialistischen Wanderrednern Zukunftsträume
vormalen zu lassen, wie in der von Pessimismus geschwängerten Atmosphäre der
Fastenzeit.

Wir dürfen diese Tatsache für die Beantwortung der Frage, ob Rußland
kriegerisch gestimmt ist, nicht übersehen. Gewisse Gruppen werden überhaupt nur
von der Furcht vor dem Ausbruch einer Revolution im Zaume gehalten; fällt
diese Furcht weg, so wachsen die kriegerischen Neigungen ins ungemessene--
i G, Lleinow m übrigen sei auf den Leitartikel in diesem Hefte verwiesen.




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das staatlich-nationale Bewußtsein; und mehr noch: sie macht die Steuerzahler
gefügig in der Herausgabe von Geldern für Rüstungszwecke, wodurch wieder, für
die Liberalen unmerklich, allmählich und ganz von selbst alle Resormgedanken ab¬
gedrosselt werden und der innerpolitische und kulturelle Schwerpunkt wieder zurück¬
verlegt wird in die Armee, wie zu Zeiten Nikolaus des Ersten. Unter den zuletzt
erwähnten innerpolitischen Gesichtspunkten muß vor allen Dingen die Erhöhung
des Rekrutenkontingents, die nach französischen Quellen 90 000 Mann betragen
soll, gestellt werden: bei der Heranziehung aller waffenfähigen Jugend zum Heeres¬
dienst kann sich die Regierung dem Ausbau des Volksschulwesens gegenüber um so
zögernder verhalten, je besseres die Regimentsschulen leisten; jedenfalls beschränkt
sie die Zahl und infolgedessen auch den Einfluß der meist sozialistisch gesinnten
Volksschullehrer.

Einen direkten und wirksamen Vorstoß gegen die revolutionäre Bewegung
bedeutet die Zurückhaltung der ausgebildeten Jahrgänge bis in den April hinein
(während diese bis 1911 schon zum I.Januar entlassen wurden). Gewiß bringt
diese Zurückhaltung eine Stärkung der Armee um rund 400 000 Mann, aber diese
400000 Mann werden zugleich dein Arbeitsmarkt entzogen in einer Zeit, wo
bekanntermaßen das Arbeitsangebot in ganz Rußland am geringsten ist. Die zum
1. Januar entlassenen Soldaten, die bis zum Frühjahr keinen Erwerb fanden und
infolgedessen ihren Familien auf dem Dorfe zur Zeit der teueren Butterwoche und
der großen Fasten auf der Tasche lagen, stellten ein treffliches Material für die
revolutionäre und sozialistische Bearbeitung dar. Jetzt fällt dies Material weg;
die Entlassung findet zu einer Zeit statt, wo der Russe den Platz hinterm Ofen zu
verlassen beginnt, wo selbst in den nördlichen Teilen Rußlands die Geräte für die
Ackerbestellung in Ordmmg gebracht zu werden Pflegen, wo die Holzplatze sich öffnen
und die Wasserstraßen eisfrei werden. Die Hauptarbeitszeit setzt ein, in der der
Bauer keine Neigung hat, sich von sozialistischen Wanderrednern Zukunftsträume
vormalen zu lassen, wie in der von Pessimismus geschwängerten Atmosphäre der
Fastenzeit.

Wir dürfen diese Tatsache für die Beantwortung der Frage, ob Rußland
kriegerisch gestimmt ist, nicht übersehen. Gewisse Gruppen werden überhaupt nur
von der Furcht vor dem Ausbruch einer Revolution im Zaume gehalten; fällt
diese Furcht weg, so wachsen die kriegerischen Neigungen ins ungemessene--
i G, Lleinow m übrigen sei auf den Leitartikel in diesem Hefte verwiesen.




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[0482] Rcichsspicgel das staatlich-nationale Bewußtsein; und mehr noch: sie macht die Steuerzahler gefügig in der Herausgabe von Geldern für Rüstungszwecke, wodurch wieder, für die Liberalen unmerklich, allmählich und ganz von selbst alle Resormgedanken ab¬ gedrosselt werden und der innerpolitische und kulturelle Schwerpunkt wieder zurück¬ verlegt wird in die Armee, wie zu Zeiten Nikolaus des Ersten. Unter den zuletzt erwähnten innerpolitischen Gesichtspunkten muß vor allen Dingen die Erhöhung des Rekrutenkontingents, die nach französischen Quellen 90 000 Mann betragen soll, gestellt werden: bei der Heranziehung aller waffenfähigen Jugend zum Heeres¬ dienst kann sich die Regierung dem Ausbau des Volksschulwesens gegenüber um so zögernder verhalten, je besseres die Regimentsschulen leisten; jedenfalls beschränkt sie die Zahl und infolgedessen auch den Einfluß der meist sozialistisch gesinnten Volksschullehrer. Einen direkten und wirksamen Vorstoß gegen die revolutionäre Bewegung bedeutet die Zurückhaltung der ausgebildeten Jahrgänge bis in den April hinein (während diese bis 1911 schon zum I.Januar entlassen wurden). Gewiß bringt diese Zurückhaltung eine Stärkung der Armee um rund 400 000 Mann, aber diese 400000 Mann werden zugleich dein Arbeitsmarkt entzogen in einer Zeit, wo bekanntermaßen das Arbeitsangebot in ganz Rußland am geringsten ist. Die zum 1. Januar entlassenen Soldaten, die bis zum Frühjahr keinen Erwerb fanden und infolgedessen ihren Familien auf dem Dorfe zur Zeit der teueren Butterwoche und der großen Fasten auf der Tasche lagen, stellten ein treffliches Material für die revolutionäre und sozialistische Bearbeitung dar. Jetzt fällt dies Material weg; die Entlassung findet zu einer Zeit statt, wo der Russe den Platz hinterm Ofen zu verlassen beginnt, wo selbst in den nördlichen Teilen Rußlands die Geräte für die Ackerbestellung in Ordmmg gebracht zu werden Pflegen, wo die Holzplatze sich öffnen und die Wasserstraßen eisfrei werden. Die Hauptarbeitszeit setzt ein, in der der Bauer keine Neigung hat, sich von sozialistischen Wanderrednern Zukunftsträume vormalen zu lassen, wie in der von Pessimismus geschwängerten Atmosphäre der Fastenzeit. Wir dürfen diese Tatsache für die Beantwortung der Frage, ob Rußland kriegerisch gestimmt ist, nicht übersehen. Gewisse Gruppen werden überhaupt nur von der Furcht vor dem Ausbruch einer Revolution im Zaume gehalten; fällt diese Furcht weg, so wachsen die kriegerischen Neigungen ins ungemessene-- i G, Lleinow m übrigen sei auf den Leitartikel in diesem Hefte verwiesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/482>, abgerufen am 01.01.2025.