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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Meute des deutschen Naturalismus

verspricht)? Oder ist der .Künstler am Ende zu allen Zeiten so vermessen ge¬
wesen, aus eigenem Erleben, aus eignem Wollen und Nichtwollen, aus dem
Verachten und Begehren der eigenen Zeit seine Stoffe zu wählen? "Die
Proletarierstuben des Naturalismus!" ist jetzt die gangbarste Phrase aller, die
das Rad zurückdrehten, wenn sie es könnten. Wieviel naturalistische Dramen atmen
denn eigentlich den Broden: ärmster Armut? Die bekannteren sind an den
Fingern einer einzigen Hand herzuzählen. Und täten sie es alle! Verlangt
man Stoffe, die vor hundert Jahren gangbar waren, so soll man gefälligst zu¬
nächst unsere Zeit mit ihrer ganzen Gefolgschaft streichen: die Welt des
Proletariers, Industrie und Kommerz, den Kapitalismus unserer Tage; soll
dekretieren, daß alles, was nach der Romantik kam, nicht existiert. Glaubt
man, daß der Künstler, der die empfänglicherer Sinne leichter an der Eisenhärte
und der Brutalität unserer Zeit verwundet, in ihr das goldene Alter der
Menschheit gekommen sieht? Der Künstler an sich war immer, er mochte
sich noch so absurd gebärden, der Aristrokrat pur 8an^. Das ist schließlich auch
heute nicht anders. Auch bei denen nicht, deren Name einst auf dem Index
deutscher Polizeipräsidien stand, denen sich manche Hoftheater noch heute an:
liebsten verschlössen. Keiner von ihnen strebte je die Proletarisierung einer
Kultur an, stellte immer den Großen und Starken über die Masse,
protestierte immer gegen das vorschriftsmäßige Normalhirn des Sozialismus,
suchte immer in den Wirnissen der eigenen Zeit, der eigenen Brust, die ihrer
voll war, d>in großen Unbekannten, ohne dessen Idee es kein großes Lieben
und Hassen gibt.

Nicht der Stoff ist das Vergängliche am Naturalismus. Nie wird ihn:
vergessen werden, daß er die äußeren Formen einer völlig neuen Zivilisation
der Kunst dienstbar machte. Die Ideen, die er ihnen gab, liegen im Sterben,
wollen durch das Fühlen einer neuen Zeit ersetzt, verjüngt werden. Was tun
wir, die Erben, dazu?

Die Keime zu froherer Fortentwicklung trug er schon damals, als
er zu uns nach Deutschland kam, in sich. Schnell überwinden seine Künder
bei uns die rohe ungefüge Starrheit, in der Zola stecken geblieben war,
finden auch leicht den Weg hinaus über Ibsens fanatische Schroffheit, und
schon zwei Jahre nach der Uraufführung des "Sonnenaufgangs" schrieb Brahm
in einer Stunde, in der er frei war von seiner frommen Starrheit: "Auch ich
halte den Naturalismus nicht für das letzte Wort der Kunst, weil in der
ungemein fruchtbaren Einseitigkeit, in der ungemein tief aus dem Bedürfnis
der Zeit geschöpften Modernität, welche den Naturalismus sieghaft gemacht
haben, auch die Bedingungen liegen müssen zur Überwindung des Naturalismus
durch ein Neues."

Wuchs nicht dieser Mann mit diesen Worten, die die ganze weitere Ent¬
wicklung von heute ahnen lassen, genial hinaus über jenen heiligen Fanatismus,
der allein die Triebfeder einer großen fortschreitenden Bewegung sein kann?


Die Meute des deutschen Naturalismus

verspricht)? Oder ist der .Künstler am Ende zu allen Zeiten so vermessen ge¬
wesen, aus eigenem Erleben, aus eignem Wollen und Nichtwollen, aus dem
Verachten und Begehren der eigenen Zeit seine Stoffe zu wählen? „Die
Proletarierstuben des Naturalismus!" ist jetzt die gangbarste Phrase aller, die
das Rad zurückdrehten, wenn sie es könnten. Wieviel naturalistische Dramen atmen
denn eigentlich den Broden: ärmster Armut? Die bekannteren sind an den
Fingern einer einzigen Hand herzuzählen. Und täten sie es alle! Verlangt
man Stoffe, die vor hundert Jahren gangbar waren, so soll man gefälligst zu¬
nächst unsere Zeit mit ihrer ganzen Gefolgschaft streichen: die Welt des
Proletariers, Industrie und Kommerz, den Kapitalismus unserer Tage; soll
dekretieren, daß alles, was nach der Romantik kam, nicht existiert. Glaubt
man, daß der Künstler, der die empfänglicherer Sinne leichter an der Eisenhärte
und der Brutalität unserer Zeit verwundet, in ihr das goldene Alter der
Menschheit gekommen sieht? Der Künstler an sich war immer, er mochte
sich noch so absurd gebärden, der Aristrokrat pur 8an^. Das ist schließlich auch
heute nicht anders. Auch bei denen nicht, deren Name einst auf dem Index
deutscher Polizeipräsidien stand, denen sich manche Hoftheater noch heute an:
liebsten verschlössen. Keiner von ihnen strebte je die Proletarisierung einer
Kultur an, stellte immer den Großen und Starken über die Masse,
protestierte immer gegen das vorschriftsmäßige Normalhirn des Sozialismus,
suchte immer in den Wirnissen der eigenen Zeit, der eigenen Brust, die ihrer
voll war, d>in großen Unbekannten, ohne dessen Idee es kein großes Lieben
und Hassen gibt.

Nicht der Stoff ist das Vergängliche am Naturalismus. Nie wird ihn:
vergessen werden, daß er die äußeren Formen einer völlig neuen Zivilisation
der Kunst dienstbar machte. Die Ideen, die er ihnen gab, liegen im Sterben,
wollen durch das Fühlen einer neuen Zeit ersetzt, verjüngt werden. Was tun
wir, die Erben, dazu?

Die Keime zu froherer Fortentwicklung trug er schon damals, als
er zu uns nach Deutschland kam, in sich. Schnell überwinden seine Künder
bei uns die rohe ungefüge Starrheit, in der Zola stecken geblieben war,
finden auch leicht den Weg hinaus über Ibsens fanatische Schroffheit, und
schon zwei Jahre nach der Uraufführung des „Sonnenaufgangs" schrieb Brahm
in einer Stunde, in der er frei war von seiner frommen Starrheit: „Auch ich
halte den Naturalismus nicht für das letzte Wort der Kunst, weil in der
ungemein fruchtbaren Einseitigkeit, in der ungemein tief aus dem Bedürfnis
der Zeit geschöpften Modernität, welche den Naturalismus sieghaft gemacht
haben, auch die Bedingungen liegen müssen zur Überwindung des Naturalismus
durch ein Neues."

Wuchs nicht dieser Mann mit diesen Worten, die die ganze weitere Ent¬
wicklung von heute ahnen lassen, genial hinaus über jenen heiligen Fanatismus,
der allein die Triebfeder einer großen fortschreitenden Bewegung sein kann?


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[0478] Die Meute des deutschen Naturalismus verspricht)? Oder ist der .Künstler am Ende zu allen Zeiten so vermessen ge¬ wesen, aus eigenem Erleben, aus eignem Wollen und Nichtwollen, aus dem Verachten und Begehren der eigenen Zeit seine Stoffe zu wählen? „Die Proletarierstuben des Naturalismus!" ist jetzt die gangbarste Phrase aller, die das Rad zurückdrehten, wenn sie es könnten. Wieviel naturalistische Dramen atmen denn eigentlich den Broden: ärmster Armut? Die bekannteren sind an den Fingern einer einzigen Hand herzuzählen. Und täten sie es alle! Verlangt man Stoffe, die vor hundert Jahren gangbar waren, so soll man gefälligst zu¬ nächst unsere Zeit mit ihrer ganzen Gefolgschaft streichen: die Welt des Proletariers, Industrie und Kommerz, den Kapitalismus unserer Tage; soll dekretieren, daß alles, was nach der Romantik kam, nicht existiert. Glaubt man, daß der Künstler, der die empfänglicherer Sinne leichter an der Eisenhärte und der Brutalität unserer Zeit verwundet, in ihr das goldene Alter der Menschheit gekommen sieht? Der Künstler an sich war immer, er mochte sich noch so absurd gebärden, der Aristrokrat pur 8an^. Das ist schließlich auch heute nicht anders. Auch bei denen nicht, deren Name einst auf dem Index deutscher Polizeipräsidien stand, denen sich manche Hoftheater noch heute an: liebsten verschlössen. Keiner von ihnen strebte je die Proletarisierung einer Kultur an, stellte immer den Großen und Starken über die Masse, protestierte immer gegen das vorschriftsmäßige Normalhirn des Sozialismus, suchte immer in den Wirnissen der eigenen Zeit, der eigenen Brust, die ihrer voll war, d>in großen Unbekannten, ohne dessen Idee es kein großes Lieben und Hassen gibt. Nicht der Stoff ist das Vergängliche am Naturalismus. Nie wird ihn: vergessen werden, daß er die äußeren Formen einer völlig neuen Zivilisation der Kunst dienstbar machte. Die Ideen, die er ihnen gab, liegen im Sterben, wollen durch das Fühlen einer neuen Zeit ersetzt, verjüngt werden. Was tun wir, die Erben, dazu? Die Keime zu froherer Fortentwicklung trug er schon damals, als er zu uns nach Deutschland kam, in sich. Schnell überwinden seine Künder bei uns die rohe ungefüge Starrheit, in der Zola stecken geblieben war, finden auch leicht den Weg hinaus über Ibsens fanatische Schroffheit, und schon zwei Jahre nach der Uraufführung des „Sonnenaufgangs" schrieb Brahm in einer Stunde, in der er frei war von seiner frommen Starrheit: „Auch ich halte den Naturalismus nicht für das letzte Wort der Kunst, weil in der ungemein fruchtbaren Einseitigkeit, in der ungemein tief aus dem Bedürfnis der Zeit geschöpften Modernität, welche den Naturalismus sieghaft gemacht haben, auch die Bedingungen liegen müssen zur Überwindung des Naturalismus durch ein Neues." Wuchs nicht dieser Mann mit diesen Worten, die die ganze weitere Ent¬ wicklung von heute ahnen lassen, genial hinaus über jenen heiligen Fanatismus, der allein die Triebfeder einer großen fortschreitenden Bewegung sein kann?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/478>, abgerufen am 04.01.2025.