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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die wende des deutschen Naturalismus

kühner Einseitigkeit getan hat -- andere Möglichkeiten des Dramas, die
Keime zu einer Weiterentwicklung übersehen.

Das große Rad hat sich gedreht. Andere Menschen sind geboren. Menschen,
die längst lernten an der Philosophie der Materie, an ihren sozialen und
ethischen Folgerungen Kritik zu üben, denen die Zeit vielleicht zu erfüllen
beginnt, was vor dreißig Jahren auch nur zu hoffen das Fühlen der Besten
und Klügsten einer ganzen Generation herausfordern hieß. Manche ethischen
Thesen Ibsens waren immer die eines in die Stickluft norwegischer Fjorde
eingesperrten kühnen Philisterfeindcs, manche soziale hat die Zeit erfüllt, seit
Nora die Wände ihres PuppenheimeS einriß, andere sind uns als Probleme
blutleer, belanglos geworden, und reizen in ihrer Starrheit, ihrem Fanatismus
zum Widerspruch. Sie sind uns nicht mehr, als technische Meisterstücke eines
grandiosen Dramatikers, und der Sozialismus des "Sonnenaufgangs", die
Fragen des endenden Sodoms reizen keinen übereifriger Polizeipräsidenten zum
Verdammen der "ganzen Richtung".

Ererbte Eigenschaften sind uns nicht mehr das einzige, was menschlichem
Leben die Bahnen weist. Wir erschauern nicht mehr vor dem Antlitz der Natur,
wie das verflossene Jahrhundert es uns enthüllte. Wir wissen, daß die Re-
generation verdorrte Geschlechter aus der Nacht der Entartung wieder in das
helle Sonnenlicht gesunden Lebens führen kann, daß der I)öAön6rö nicht immer
Kramer der Jüngere oder Maler Alving werden muß, daß über die Angiftung
menschlicher Hirnsubstanz, über die Folgen von Generationssünden im einzelnen
wie in ganzen Geschlechtern oft genug der frohe und starke Menschenwille
triumphieren kann. Ruhiger und stärker lernten wir Erkenntnissen in das Auge
schauen, die uns das Jahrhundert brachte, wie wir allmählich lernen oder lernen
werden, sein technisches Ergebnis, die Maschine, die einstweilen noch mehr oder
minder unsere strenge Herscherin ist. uns dienstbar zu machen.

Im übrigen ist es heute wie vor jenen dreißig Jahren: nicht vor allein
der Idee gilt die Kritik der Gegner des Naturalismus, sondern den Stoffen,
die er wählte, den "peinlichen, grausigen Stoffen", gegen die schon, wie Brahm
seiner Kritik berichtet, das Premierenpublikum des "Sonnenaufgangs" protestierte.
Ter Philister will einmal das gewohnte Jägerhemd abstreifen und im ehernen
Schuppenhemd umherwandeln. Zu diesem Zweck soll die Kunst bemüht werden,
soll selbst möglichst im Panzer einherstolzieren und in fünffüßigen Jamben reden.
Auch soll sie ein bequemes, kostenloses Erziehungsmittel sein, sich demgemäß
loyal benehmen und im Notfall sich auch als Agitationsmittel gegen die Sozial¬
demokratie benutzen lassen, auch dann, wenn sie in der eigenen Geburtsstunde
selbst revolutionär war und zeitgenössischen Duodezsürstchen die Miniaturthrone
erschütterte.

"Die Kunst soll!" Wer, liebe Herren, kann ihr gebieten? Schöpfen wir
eigentlich aus Paradiesesträumen unsere Probleme, aus Königs goldstrotzender
Literaturgeschichte (der das Werk des Herrn Alfred Biese würdige Nachfolgerschaft


Grenzboten I liU4
Die wende des deutschen Naturalismus

kühner Einseitigkeit getan hat — andere Möglichkeiten des Dramas, die
Keime zu einer Weiterentwicklung übersehen.

Das große Rad hat sich gedreht. Andere Menschen sind geboren. Menschen,
die längst lernten an der Philosophie der Materie, an ihren sozialen und
ethischen Folgerungen Kritik zu üben, denen die Zeit vielleicht zu erfüllen
beginnt, was vor dreißig Jahren auch nur zu hoffen das Fühlen der Besten
und Klügsten einer ganzen Generation herausfordern hieß. Manche ethischen
Thesen Ibsens waren immer die eines in die Stickluft norwegischer Fjorde
eingesperrten kühnen Philisterfeindcs, manche soziale hat die Zeit erfüllt, seit
Nora die Wände ihres PuppenheimeS einriß, andere sind uns als Probleme
blutleer, belanglos geworden, und reizen in ihrer Starrheit, ihrem Fanatismus
zum Widerspruch. Sie sind uns nicht mehr, als technische Meisterstücke eines
grandiosen Dramatikers, und der Sozialismus des „Sonnenaufgangs", die
Fragen des endenden Sodoms reizen keinen übereifriger Polizeipräsidenten zum
Verdammen der „ganzen Richtung".

Ererbte Eigenschaften sind uns nicht mehr das einzige, was menschlichem
Leben die Bahnen weist. Wir erschauern nicht mehr vor dem Antlitz der Natur,
wie das verflossene Jahrhundert es uns enthüllte. Wir wissen, daß die Re-
generation verdorrte Geschlechter aus der Nacht der Entartung wieder in das
helle Sonnenlicht gesunden Lebens führen kann, daß der I)öAön6rö nicht immer
Kramer der Jüngere oder Maler Alving werden muß, daß über die Angiftung
menschlicher Hirnsubstanz, über die Folgen von Generationssünden im einzelnen
wie in ganzen Geschlechtern oft genug der frohe und starke Menschenwille
triumphieren kann. Ruhiger und stärker lernten wir Erkenntnissen in das Auge
schauen, die uns das Jahrhundert brachte, wie wir allmählich lernen oder lernen
werden, sein technisches Ergebnis, die Maschine, die einstweilen noch mehr oder
minder unsere strenge Herscherin ist. uns dienstbar zu machen.

Im übrigen ist es heute wie vor jenen dreißig Jahren: nicht vor allein
der Idee gilt die Kritik der Gegner des Naturalismus, sondern den Stoffen,
die er wählte, den „peinlichen, grausigen Stoffen", gegen die schon, wie Brahm
seiner Kritik berichtet, das Premierenpublikum des „Sonnenaufgangs" protestierte.
Ter Philister will einmal das gewohnte Jägerhemd abstreifen und im ehernen
Schuppenhemd umherwandeln. Zu diesem Zweck soll die Kunst bemüht werden,
soll selbst möglichst im Panzer einherstolzieren und in fünffüßigen Jamben reden.
Auch soll sie ein bequemes, kostenloses Erziehungsmittel sein, sich demgemäß
loyal benehmen und im Notfall sich auch als Agitationsmittel gegen die Sozial¬
demokratie benutzen lassen, auch dann, wenn sie in der eigenen Geburtsstunde
selbst revolutionär war und zeitgenössischen Duodezsürstchen die Miniaturthrone
erschütterte.

„Die Kunst soll!" Wer, liebe Herren, kann ihr gebieten? Schöpfen wir
eigentlich aus Paradiesesträumen unsere Probleme, aus Königs goldstrotzender
Literaturgeschichte (der das Werk des Herrn Alfred Biese würdige Nachfolgerschaft


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[0477] Die wende des deutschen Naturalismus kühner Einseitigkeit getan hat — andere Möglichkeiten des Dramas, die Keime zu einer Weiterentwicklung übersehen. Das große Rad hat sich gedreht. Andere Menschen sind geboren. Menschen, die längst lernten an der Philosophie der Materie, an ihren sozialen und ethischen Folgerungen Kritik zu üben, denen die Zeit vielleicht zu erfüllen beginnt, was vor dreißig Jahren auch nur zu hoffen das Fühlen der Besten und Klügsten einer ganzen Generation herausfordern hieß. Manche ethischen Thesen Ibsens waren immer die eines in die Stickluft norwegischer Fjorde eingesperrten kühnen Philisterfeindcs, manche soziale hat die Zeit erfüllt, seit Nora die Wände ihres PuppenheimeS einriß, andere sind uns als Probleme blutleer, belanglos geworden, und reizen in ihrer Starrheit, ihrem Fanatismus zum Widerspruch. Sie sind uns nicht mehr, als technische Meisterstücke eines grandiosen Dramatikers, und der Sozialismus des „Sonnenaufgangs", die Fragen des endenden Sodoms reizen keinen übereifriger Polizeipräsidenten zum Verdammen der „ganzen Richtung". Ererbte Eigenschaften sind uns nicht mehr das einzige, was menschlichem Leben die Bahnen weist. Wir erschauern nicht mehr vor dem Antlitz der Natur, wie das verflossene Jahrhundert es uns enthüllte. Wir wissen, daß die Re- generation verdorrte Geschlechter aus der Nacht der Entartung wieder in das helle Sonnenlicht gesunden Lebens führen kann, daß der I)öAön6rö nicht immer Kramer der Jüngere oder Maler Alving werden muß, daß über die Angiftung menschlicher Hirnsubstanz, über die Folgen von Generationssünden im einzelnen wie in ganzen Geschlechtern oft genug der frohe und starke Menschenwille triumphieren kann. Ruhiger und stärker lernten wir Erkenntnissen in das Auge schauen, die uns das Jahrhundert brachte, wie wir allmählich lernen oder lernen werden, sein technisches Ergebnis, die Maschine, die einstweilen noch mehr oder minder unsere strenge Herscherin ist. uns dienstbar zu machen. Im übrigen ist es heute wie vor jenen dreißig Jahren: nicht vor allein der Idee gilt die Kritik der Gegner des Naturalismus, sondern den Stoffen, die er wählte, den „peinlichen, grausigen Stoffen", gegen die schon, wie Brahm seiner Kritik berichtet, das Premierenpublikum des „Sonnenaufgangs" protestierte. Ter Philister will einmal das gewohnte Jägerhemd abstreifen und im ehernen Schuppenhemd umherwandeln. Zu diesem Zweck soll die Kunst bemüht werden, soll selbst möglichst im Panzer einherstolzieren und in fünffüßigen Jamben reden. Auch soll sie ein bequemes, kostenloses Erziehungsmittel sein, sich demgemäß loyal benehmen und im Notfall sich auch als Agitationsmittel gegen die Sozial¬ demokratie benutzen lassen, auch dann, wenn sie in der eigenen Geburtsstunde selbst revolutionär war und zeitgenössischen Duodezsürstchen die Miniaturthrone erschütterte. „Die Kunst soll!" Wer, liebe Herren, kann ihr gebieten? Schöpfen wir eigentlich aus Paradiesesträumen unsere Probleme, aus Königs goldstrotzender Literaturgeschichte (der das Werk des Herrn Alfred Biese würdige Nachfolgerschaft Grenzboten I liU4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/477>, abgerufen am 04.01.2025.