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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Hexe von Mayen

"Ihr seht, Hochwürdigster, daß meiner Tochter in diesem Lande das Mund¬
werk nicht vergangen ist. Sie war auch in guter Gesellschaft," setzte er stolz
hinzu. "Einer unserer Herzöge hat sich ihrer liebreich angenommen, und ein
Vetter unseres Namens gleicherweise."

"Aber es ist doch gut, daß Vater und Tochter wieder beisammen sind!"
meinte der Abt, und Herr von Sehestedt widersprach nicht. Er war ein älterer
Mann mit klugem Diplomatengesicht und kühler Haltung. Man durfte ihm
nicht ansehen, wieviele angstvolle Stunden das Verschwinden seiner Tochter ihm
bereitet hatte. Und alles, was sie erlebt hatte, wußte er auch noch nicht. Nun
führte er sie in ein kleines Holzhäuschen, das die Benediktiner für ihn und
Heilwig dicht neben dem Kloster errichtet hatten.

"Für mich war es eigentlich nicht nötig," sagte er, als er Heilwig in den
kleinen Bau brachte, der von draußen einfach, im Innern aber ganz behaglich
war. "Der Abt würde mir schon weiter Gastfreundschaft gewährt haben, aber
es darf kein Weib über die Schwelle des Klosters, und allein kann ich dich doch
hier nicht Hausen lassen."

"Es tut mir leid, Herr Vater, Euch soviel Umstände zu machen," begann
Heilwig, aber der Staatsrat unterbrach sie.

"Wir wollen nicht darüber reden. Außerdem wohnt Herzog Hans Adolf
im Kloster, und für den einen Weisen ist auch Quartier bestellt worden. Da
ist es ganz gut. nicht allzunah bei den Herren zu sein. Man hat mehr Freiheit
und kann sich ungestört ein Urteil bilden."

"Ich muß Euch noch von meinen Schicksalen berichten," sagte Heilwig.
Schon aber klopfte es an die Tür des Hauses und Jostas stand vor ihr. Er
begrüßte seinen Oheim in aller Förmlichkeit, wandte sich dann aber gleich an Heilwig.

"Verzeiht, Base, daß ich so bei Euch eindringe, aber Seine Gnaden sagt,
daß Ihr von einem Loch in der Mauer sprächet, durch das Ihr damals aus
Mayen entwindet. Wollet kurz sagen, wo es sich ungefähr befindet -- morgen
wollen wir auf die Franzosen losgehen und sie jagen. Doch sie haben die
Tore höllisch verrammelt, und wenn dieses Loch noch da ist, so könnten wir sie
am Ende überraschen!"

Heilwig war heiß geworden und ihre Augen blitzten.

"Wollet gestatten, daß ich morgen mit euch reite! Ganz genau kann ich
es nicht sagen, woher ich aus der Stadt kam. Es war dunkel, und wenn auch
der Mond schien --"

"Ihr wollt mit?" Jostas machte große Augen. "Liebwerte Base, ich
glaube nicht, daß dies geht. Es sei denn, Ihr hieltet Euch in der Nähe von
Hans Adolf. Er ist kugelfest, wie Ihr wißt, und wer neben ihm reitet, wird
auch manchmal verschont. Aber --"

"Meine Tochter scheint hier absonderliche Gedanken empfangen zu haben!"
sagte der Staatsrat mit gerunzelter Stirn. "Sie wird bleiben, wo es sich für
ihren Stand gehört und nicht mit in das Getümmel kommen."


Die Hexe von Mayen

„Ihr seht, Hochwürdigster, daß meiner Tochter in diesem Lande das Mund¬
werk nicht vergangen ist. Sie war auch in guter Gesellschaft," setzte er stolz
hinzu. „Einer unserer Herzöge hat sich ihrer liebreich angenommen, und ein
Vetter unseres Namens gleicherweise."

„Aber es ist doch gut, daß Vater und Tochter wieder beisammen sind!"
meinte der Abt, und Herr von Sehestedt widersprach nicht. Er war ein älterer
Mann mit klugem Diplomatengesicht und kühler Haltung. Man durfte ihm
nicht ansehen, wieviele angstvolle Stunden das Verschwinden seiner Tochter ihm
bereitet hatte. Und alles, was sie erlebt hatte, wußte er auch noch nicht. Nun
führte er sie in ein kleines Holzhäuschen, das die Benediktiner für ihn und
Heilwig dicht neben dem Kloster errichtet hatten.

„Für mich war es eigentlich nicht nötig," sagte er, als er Heilwig in den
kleinen Bau brachte, der von draußen einfach, im Innern aber ganz behaglich
war. „Der Abt würde mir schon weiter Gastfreundschaft gewährt haben, aber
es darf kein Weib über die Schwelle des Klosters, und allein kann ich dich doch
hier nicht Hausen lassen."

„Es tut mir leid, Herr Vater, Euch soviel Umstände zu machen," begann
Heilwig, aber der Staatsrat unterbrach sie.

„Wir wollen nicht darüber reden. Außerdem wohnt Herzog Hans Adolf
im Kloster, und für den einen Weisen ist auch Quartier bestellt worden. Da
ist es ganz gut. nicht allzunah bei den Herren zu sein. Man hat mehr Freiheit
und kann sich ungestört ein Urteil bilden."

„Ich muß Euch noch von meinen Schicksalen berichten," sagte Heilwig.
Schon aber klopfte es an die Tür des Hauses und Jostas stand vor ihr. Er
begrüßte seinen Oheim in aller Förmlichkeit, wandte sich dann aber gleich an Heilwig.

„Verzeiht, Base, daß ich so bei Euch eindringe, aber Seine Gnaden sagt,
daß Ihr von einem Loch in der Mauer sprächet, durch das Ihr damals aus
Mayen entwindet. Wollet kurz sagen, wo es sich ungefähr befindet — morgen
wollen wir auf die Franzosen losgehen und sie jagen. Doch sie haben die
Tore höllisch verrammelt, und wenn dieses Loch noch da ist, so könnten wir sie
am Ende überraschen!"

Heilwig war heiß geworden und ihre Augen blitzten.

„Wollet gestatten, daß ich morgen mit euch reite! Ganz genau kann ich
es nicht sagen, woher ich aus der Stadt kam. Es war dunkel, und wenn auch
der Mond schien —"

„Ihr wollt mit?" Jostas machte große Augen. „Liebwerte Base, ich
glaube nicht, daß dies geht. Es sei denn, Ihr hieltet Euch in der Nähe von
Hans Adolf. Er ist kugelfest, wie Ihr wißt, und wer neben ihm reitet, wird
auch manchmal verschont. Aber —"

„Meine Tochter scheint hier absonderliche Gedanken empfangen zu haben!"
sagte der Staatsrat mit gerunzelter Stirn. „Sie wird bleiben, wo es sich für
ihren Stand gehört und nicht mit in das Getümmel kommen."


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[0469] Die Hexe von Mayen „Ihr seht, Hochwürdigster, daß meiner Tochter in diesem Lande das Mund¬ werk nicht vergangen ist. Sie war auch in guter Gesellschaft," setzte er stolz hinzu. „Einer unserer Herzöge hat sich ihrer liebreich angenommen, und ein Vetter unseres Namens gleicherweise." „Aber es ist doch gut, daß Vater und Tochter wieder beisammen sind!" meinte der Abt, und Herr von Sehestedt widersprach nicht. Er war ein älterer Mann mit klugem Diplomatengesicht und kühler Haltung. Man durfte ihm nicht ansehen, wieviele angstvolle Stunden das Verschwinden seiner Tochter ihm bereitet hatte. Und alles, was sie erlebt hatte, wußte er auch noch nicht. Nun führte er sie in ein kleines Holzhäuschen, das die Benediktiner für ihn und Heilwig dicht neben dem Kloster errichtet hatten. „Für mich war es eigentlich nicht nötig," sagte er, als er Heilwig in den kleinen Bau brachte, der von draußen einfach, im Innern aber ganz behaglich war. „Der Abt würde mir schon weiter Gastfreundschaft gewährt haben, aber es darf kein Weib über die Schwelle des Klosters, und allein kann ich dich doch hier nicht Hausen lassen." „Es tut mir leid, Herr Vater, Euch soviel Umstände zu machen," begann Heilwig, aber der Staatsrat unterbrach sie. „Wir wollen nicht darüber reden. Außerdem wohnt Herzog Hans Adolf im Kloster, und für den einen Weisen ist auch Quartier bestellt worden. Da ist es ganz gut. nicht allzunah bei den Herren zu sein. Man hat mehr Freiheit und kann sich ungestört ein Urteil bilden." „Ich muß Euch noch von meinen Schicksalen berichten," sagte Heilwig. Schon aber klopfte es an die Tür des Hauses und Jostas stand vor ihr. Er begrüßte seinen Oheim in aller Förmlichkeit, wandte sich dann aber gleich an Heilwig. „Verzeiht, Base, daß ich so bei Euch eindringe, aber Seine Gnaden sagt, daß Ihr von einem Loch in der Mauer sprächet, durch das Ihr damals aus Mayen entwindet. Wollet kurz sagen, wo es sich ungefähr befindet — morgen wollen wir auf die Franzosen losgehen und sie jagen. Doch sie haben die Tore höllisch verrammelt, und wenn dieses Loch noch da ist, so könnten wir sie am Ende überraschen!" Heilwig war heiß geworden und ihre Augen blitzten. „Wollet gestatten, daß ich morgen mit euch reite! Ganz genau kann ich es nicht sagen, woher ich aus der Stadt kam. Es war dunkel, und wenn auch der Mond schien —" „Ihr wollt mit?" Jostas machte große Augen. „Liebwerte Base, ich glaube nicht, daß dies geht. Es sei denn, Ihr hieltet Euch in der Nähe von Hans Adolf. Er ist kugelfest, wie Ihr wißt, und wer neben ihm reitet, wird auch manchmal verschont. Aber —" „Meine Tochter scheint hier absonderliche Gedanken empfangen zu haben!" sagte der Staatsrat mit gerunzelter Stirn. „Sie wird bleiben, wo es sich für ihren Stand gehört und nicht mit in das Getümmel kommen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/469>, abgerufen am 04.01.2025.