Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.Lin Streifzug durch die neueste philosophische Literatur der Kantischen und kirchlichen Ethik; er schließt sein Werk, indem er dem Verfasser Lin Streifzug durch die neueste philosophische Literatur der Kantischen und kirchlichen Ethik; er schließt sein Werk, indem er dem Verfasser <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0457" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327923"/> <fw type="header" place="top"> Lin Streifzug durch die neueste philosophische Literatur</fw><lb/> <p xml:id="ID_2117" prev="#ID_2116"> der Kantischen und kirchlichen Ethik; er schließt sein Werk, indem er dem Verfasser<lb/> der Kritik der reinen Vernunft den „Titel" eines „Jesuiten von Königsberg" bei¬<lb/> legt. Diese Beschimpfung — denn als eine solche müssen wir den Ausdruck nach<lb/> dem ganzen Zusammenhang bezeichnen —, ist verwerflich wie jede Beschimpfung.<lb/> Inwiefern aber ein Tadel Kants im Sinne der Bundschen Ausstellungen berechtigt<lb/> ist, können wir vollständig nur erkennen, wenn wir nicht nur Kants ethische<lb/> Lehre selbst, sondern auch deren Wirkung auf die Nachwelt eingehend studieren.<lb/> Damit wird unsere Aufmerksamkeit auf die Geschichte der Ethik gelenkt, die<lb/> mit Recht als ein besonders interessantes Teilgebiet Philosophie-geschichtlicher<lb/> Forschung angesehen wird. Aus dem zweiten Bande (zweite Auflage) von<lb/> Friedrich Jodls „Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft" liegt uns ein<lb/> Sonderabdruck vor, mit dem Titel: „Ethik und Moralpädagogik gegen Ende<lb/> des neunzehnt en Jahrhunderts" (Stuttgart 1913, Cotta). Ich betrachte es als<lb/> einen besonderen Vorzug dieser Schrift, daß sie zu dem hervorragend „aktuellen"<lb/> Thema der Beziehung zwischen Entwicklungslehre, speziell Darwinismus, und Ethik<lb/> ein reiches historisches^ Material beibringt. Anfänglich brachten Evolutionismus und<lb/> Darwinismus für die Ethik eine Krisis. Darwin selbst war zwar weit davon<lb/> entfernt, einer vorbehaltlosen Übertragung der Prinzipien der natürlichen Züchtung<lb/> und der Auslese durch den Kampf ums Dasein, von der Tierwelt auf den<lb/> Menschen als sittliches und soziales Individuum, das Wort zu reden. Aber die<lb/> Feinde der eudämonistischen wie der christlichen Ethik griffen später die darwi-<lb/> nistischen Prinzipien begierig auf, um sie im Sinne einer „Herrenmoral" aus¬<lb/> zudeuten, die die Forderung der Nächstenliebe, der sozialen Fürsorge usw. zurück¬<lb/> drängt durch die Gegenforderung der Züchtung des „Herrenmenschen". Der<lb/> „Herdenmensch", der im geistigen Daseinskampf niedergeworfene Schwache, konnte<lb/> noch froh sein, wenn ihm der Nietzschejünger wenigstens den Wert als „Kultur¬<lb/> dünger" beließ, der es ermöglicht, am Baum der Menschheit den Übermenschen<lb/> zu züchten. Im Gegensatz dieser für die Ethik kritischen Ausdeutung des Darwi¬<lb/> nismus haben einige bedeutsame, neuere Publikationen den Nachweis erbracht,<lb/> daß die Grundsätze der Entwicklungslehre und des Darwinismus weithin —<lb/> namentlich auch vom Christentum — anerkannten moralischen Grundsätze nicht<lb/> nur nicht widersprechen, sondern geradezu zum Fundament einer (christlich-)<lb/> ethischen Welt- und Lebensanschauung gemacht werden können. Zur Erreichung<lb/> allgemein anerkannter, wertvoller ethischer und insbesondere sozial-ethischer Ziele<lb/> soll und kann die darwinistische Entwicklungslehre uns geeignete Mittel kennen<lb/> lehren. Die Wahl dieser Mittel gewinnt natürlich ihren eigentlich ethischen Wert<lb/> erst dadurch, daß sie nicht unter dein Zwang der Umstände, sondern als freier<lb/> Akt eines ethischen Normen gehorchenden Willens geschieht. Damit kommen wir<lb/> zu der uralten Frage nach der Freiheit des Willens. Wie stellt sich die moderne<lb/> Philosophie zu diesem ewigen Probleme? Sie vermag es gewiß ebensowenig zu<lb/> lösen, wie die vergangenen Jahrtausende. Aber sie vermag doch, auf die Problem¬<lb/> frage eine für das Zeitalter charakteristische, wenn auch uicht vollständig neue, so<lb/> doch neu gewendete Antwort zu geben. Besonders beachtenswert erscheint mir<lb/> die Antwort, die hier G. F. Lipps in seinem Schriftchen „Das Problem der<lb/> Willensfreiheit" (Leipzig 1912, Teubner; „Aus Natur und Geisteswelt"<lb/> Band 383) zu geben weiß.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0457]
Lin Streifzug durch die neueste philosophische Literatur
der Kantischen und kirchlichen Ethik; er schließt sein Werk, indem er dem Verfasser
der Kritik der reinen Vernunft den „Titel" eines „Jesuiten von Königsberg" bei¬
legt. Diese Beschimpfung — denn als eine solche müssen wir den Ausdruck nach
dem ganzen Zusammenhang bezeichnen —, ist verwerflich wie jede Beschimpfung.
Inwiefern aber ein Tadel Kants im Sinne der Bundschen Ausstellungen berechtigt
ist, können wir vollständig nur erkennen, wenn wir nicht nur Kants ethische
Lehre selbst, sondern auch deren Wirkung auf die Nachwelt eingehend studieren.
Damit wird unsere Aufmerksamkeit auf die Geschichte der Ethik gelenkt, die
mit Recht als ein besonders interessantes Teilgebiet Philosophie-geschichtlicher
Forschung angesehen wird. Aus dem zweiten Bande (zweite Auflage) von
Friedrich Jodls „Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft" liegt uns ein
Sonderabdruck vor, mit dem Titel: „Ethik und Moralpädagogik gegen Ende
des neunzehnt en Jahrhunderts" (Stuttgart 1913, Cotta). Ich betrachte es als
einen besonderen Vorzug dieser Schrift, daß sie zu dem hervorragend „aktuellen"
Thema der Beziehung zwischen Entwicklungslehre, speziell Darwinismus, und Ethik
ein reiches historisches^ Material beibringt. Anfänglich brachten Evolutionismus und
Darwinismus für die Ethik eine Krisis. Darwin selbst war zwar weit davon
entfernt, einer vorbehaltlosen Übertragung der Prinzipien der natürlichen Züchtung
und der Auslese durch den Kampf ums Dasein, von der Tierwelt auf den
Menschen als sittliches und soziales Individuum, das Wort zu reden. Aber die
Feinde der eudämonistischen wie der christlichen Ethik griffen später die darwi-
nistischen Prinzipien begierig auf, um sie im Sinne einer „Herrenmoral" aus¬
zudeuten, die die Forderung der Nächstenliebe, der sozialen Fürsorge usw. zurück¬
drängt durch die Gegenforderung der Züchtung des „Herrenmenschen". Der
„Herdenmensch", der im geistigen Daseinskampf niedergeworfene Schwache, konnte
noch froh sein, wenn ihm der Nietzschejünger wenigstens den Wert als „Kultur¬
dünger" beließ, der es ermöglicht, am Baum der Menschheit den Übermenschen
zu züchten. Im Gegensatz dieser für die Ethik kritischen Ausdeutung des Darwi¬
nismus haben einige bedeutsame, neuere Publikationen den Nachweis erbracht,
daß die Grundsätze der Entwicklungslehre und des Darwinismus weithin —
namentlich auch vom Christentum — anerkannten moralischen Grundsätze nicht
nur nicht widersprechen, sondern geradezu zum Fundament einer (christlich-)
ethischen Welt- und Lebensanschauung gemacht werden können. Zur Erreichung
allgemein anerkannter, wertvoller ethischer und insbesondere sozial-ethischer Ziele
soll und kann die darwinistische Entwicklungslehre uns geeignete Mittel kennen
lehren. Die Wahl dieser Mittel gewinnt natürlich ihren eigentlich ethischen Wert
erst dadurch, daß sie nicht unter dein Zwang der Umstände, sondern als freier
Akt eines ethischen Normen gehorchenden Willens geschieht. Damit kommen wir
zu der uralten Frage nach der Freiheit des Willens. Wie stellt sich die moderne
Philosophie zu diesem ewigen Probleme? Sie vermag es gewiß ebensowenig zu
lösen, wie die vergangenen Jahrtausende. Aber sie vermag doch, auf die Problem¬
frage eine für das Zeitalter charakteristische, wenn auch uicht vollständig neue, so
doch neu gewendete Antwort zu geben. Besonders beachtenswert erscheint mir
die Antwort, die hier G. F. Lipps in seinem Schriftchen „Das Problem der
Willensfreiheit" (Leipzig 1912, Teubner; „Aus Natur und Geisteswelt"
Band 383) zu geben weiß.
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