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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Neue Kunstbücher

Einzelheiten, die im Material des Schriftstellers, im Worte, nimmermehr zur
Anschauung werden können.

Abbe-Bernays besitzt einen Überblick über die von ihm geschilderte Epoche,
eine Kenntnis des Bodens, dem die Erscheinung entwachsen, die nicht aä Koa,
dem einen vorliegenden Buche zuliebe erworben wurden. Die Grenzen
zwischen Kulturgeschichte, Literatur, Kunstgeschichte sind in seiner Darstellung
aufgehoben, die Papierwände der Fakultäten durchbrochen, das nackte Gefühls¬
leben der Zeiten als waltendes Lebenselement um uns verbreitet.

Aber so groß der klare Reichtum des Inhalts auch ist, nur die menschen¬
gestaltende Kraft des Verfassers konnte die Einheit zwischen Spitzwegs eigentüm¬
licher Persönlichkeit und seinem Werke sichtbar herstellen. Greifbar und doch
symbolisch steht der liebenswürdige Schöpfer der zahllosen sonnigen Biedermeier¬
bilder vor uns, ein Symbol jenes alten Münchens, ja jenes alten Deutschlands,
das unmittelbar vor der Weltmachtsperiode des Reiches dahinschwand, mit allen
seinen kleinen Torheiten und lieblichen Gefühlen, und uns Heutigen mit Recht
als ein verlorener Garten kindlichen Glückes aus der Vergangenheit entgegen¬
strahlt.

Die mitgeteilten Briefe des Meisters, die unzähligen und entzückenden
Illustrationen, die uns Spitzwegs Kunst auf allen seinen Stufen in trefflicher
Gliederung und Auswahl vor Augen führen, nicht zuletzt der schöne Druck, die
höchst geschmackvolle Ausstattung des Buches haben dazu beigetragen, hier
einmal etwas Vollkommenes entstehen zu lassen.

Wie von einem Sonntagsspaziergang ruft uns Max Raphael von Uhde-
Bernays zurück in die mühevolle Arbeit des Alltags, des geistigen Alltags.
Nichts von Genuß in seinem Werk: "Von Monet zu Picasso" (Delphin-Verlag
München 1913. 6 Mary, sondern harte Auflösungsarbeit schwerflüssig inein¬
andergeschachtelter Begriffsmengen -- mit mindestens zweifelhaftem Ergebnis.
Daß die Kantische Ästhetik vielfach dahin mißverstanden wurde: Kunst sei
Geschmacksache, kann das Bedürfnis, die Erscheinungen der Kunst auch begrifflich
einzuordnen, sicherlich nicht aus der Welt schaffen. Ohne Zweifel muß eine
philosophische Ästhetik den grundlegenden Neuerscheinungen des letzten halben
Jahrhunderts gerecht werden. Max Raphael versucht hierzu -- wenn ich nicht
irre -- einen Beitrag zu liefern, und dies vom psychologisch - erkenntnistheore¬
tischen Gesichtspunkt aus. Allein seine Gedankenoperationen vollziehen sich so
weit ab von dem mit Sinnen Erfaßbaren, daß selbst das endliche Verstehen
seiner Prinzipien nichts nutzt, weil das Resultat zum sinnlich Erfaßten nicht
mehr zurückfindet und somit jeder Kontrolle der sinnlichen Erfahrung ermangelt.
Ein Urteil ist daher unmöglich, ebenso eine Meinungsäußerung, und wenn es
ein Rezensent gestehen darf, ja wenn er es nicht darf, so gestehe ich es doch:
ich verstehe dieses Werk nicht. Auch glaube ich nicht, daß die letzten gedank-
lichen Abstraktionen sich so unmittelbar mit den materiellsten Problemen diago¬
naler oder vertikaler Linienführung, gelber oder grüner Farben verbinden lassen,


Neue Kunstbücher

Einzelheiten, die im Material des Schriftstellers, im Worte, nimmermehr zur
Anschauung werden können.

Abbe-Bernays besitzt einen Überblick über die von ihm geschilderte Epoche,
eine Kenntnis des Bodens, dem die Erscheinung entwachsen, die nicht aä Koa,
dem einen vorliegenden Buche zuliebe erworben wurden. Die Grenzen
zwischen Kulturgeschichte, Literatur, Kunstgeschichte sind in seiner Darstellung
aufgehoben, die Papierwände der Fakultäten durchbrochen, das nackte Gefühls¬
leben der Zeiten als waltendes Lebenselement um uns verbreitet.

Aber so groß der klare Reichtum des Inhalts auch ist, nur die menschen¬
gestaltende Kraft des Verfassers konnte die Einheit zwischen Spitzwegs eigentüm¬
licher Persönlichkeit und seinem Werke sichtbar herstellen. Greifbar und doch
symbolisch steht der liebenswürdige Schöpfer der zahllosen sonnigen Biedermeier¬
bilder vor uns, ein Symbol jenes alten Münchens, ja jenes alten Deutschlands,
das unmittelbar vor der Weltmachtsperiode des Reiches dahinschwand, mit allen
seinen kleinen Torheiten und lieblichen Gefühlen, und uns Heutigen mit Recht
als ein verlorener Garten kindlichen Glückes aus der Vergangenheit entgegen¬
strahlt.

Die mitgeteilten Briefe des Meisters, die unzähligen und entzückenden
Illustrationen, die uns Spitzwegs Kunst auf allen seinen Stufen in trefflicher
Gliederung und Auswahl vor Augen führen, nicht zuletzt der schöne Druck, die
höchst geschmackvolle Ausstattung des Buches haben dazu beigetragen, hier
einmal etwas Vollkommenes entstehen zu lassen.

Wie von einem Sonntagsspaziergang ruft uns Max Raphael von Uhde-
Bernays zurück in die mühevolle Arbeit des Alltags, des geistigen Alltags.
Nichts von Genuß in seinem Werk: „Von Monet zu Picasso" (Delphin-Verlag
München 1913. 6 Mary, sondern harte Auflösungsarbeit schwerflüssig inein¬
andergeschachtelter Begriffsmengen — mit mindestens zweifelhaftem Ergebnis.
Daß die Kantische Ästhetik vielfach dahin mißverstanden wurde: Kunst sei
Geschmacksache, kann das Bedürfnis, die Erscheinungen der Kunst auch begrifflich
einzuordnen, sicherlich nicht aus der Welt schaffen. Ohne Zweifel muß eine
philosophische Ästhetik den grundlegenden Neuerscheinungen des letzten halben
Jahrhunderts gerecht werden. Max Raphael versucht hierzu — wenn ich nicht
irre — einen Beitrag zu liefern, und dies vom psychologisch - erkenntnistheore¬
tischen Gesichtspunkt aus. Allein seine Gedankenoperationen vollziehen sich so
weit ab von dem mit Sinnen Erfaßbaren, daß selbst das endliche Verstehen
seiner Prinzipien nichts nutzt, weil das Resultat zum sinnlich Erfaßten nicht
mehr zurückfindet und somit jeder Kontrolle der sinnlichen Erfahrung ermangelt.
Ein Urteil ist daher unmöglich, ebenso eine Meinungsäußerung, und wenn es
ein Rezensent gestehen darf, ja wenn er es nicht darf, so gestehe ich es doch:
ich verstehe dieses Werk nicht. Auch glaube ich nicht, daß die letzten gedank-
lichen Abstraktionen sich so unmittelbar mit den materiellsten Problemen diago¬
naler oder vertikaler Linienführung, gelber oder grüner Farben verbinden lassen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/385>, abgerufen am 29.12.2024.