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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

getan ist. Die Frage ist nun. ob auch die Landwirtschaft Anschluß an das sich
anbahnende Kartell finden wird.

Es scheint fast, als sollte es nicht der Fall sein. Denn beide, Schwer-
und Fertigindustrie, fordern von den nächsten Handelsverträgen einen modifizierten
Zolltarif, der eine Erleichterung weltwirtschaftlicher Betätigung für Industrie
und Handel im Gefolge hätte. Dem aber stehen die Zölle auf Agrarprodukte
im Wege. Sie niedriger zu gestalten und dafür bessere Bedingungen für die
Ausfuhr von Jndustrieerzeugnissen einzuhandeln, das dürfte das eine einigende
Ziel im gewerblichen Bürgertum sein.

Bei der Vertretung, die die Landwirtschaft gegenwärtig im Reichstage hat, --
und dieser Reichstag soll die neuen Handelsverträge genehmigen -- wird es sehr
auf die Festigkeit der Negierung ankommen, wie weit die Industrie in ihren
Forderungen auf Kosten der Landwirtschaft unterstützt werden wird oder nicht.
Bei der sogenannten imperialistischen Tendenz, von der die gebildeten Schichten
ergriffen sind, ist eher zu befürchten, daß man bei den Handelsverträgen die
Interessen der Landwirtschaft zurücktreten läßt, als umgekehrt, und davor könnte
nicht früh und energisch genug gewarnt werden. Industrie und Landwirtschaft
sollten versuchen, sich so bald als möglich zu verständigen, noch ehe die Ent¬
scheidung über die Höhe der künftigen Zölle der Regierung des Herrn von
Bethmann und dem heutigen Reichstag überlassen wird. Freilich wird es in
erster Linie an der Haltung der Vertreter der Landwirtschaft im preußischen
Landtage und im Reichstage liegen, ob nun solche Verständigung möglich wird.
Die Art, wie Herr von Kardorff kürzlich mit den Nationalliberalen, insonderheit
mit Herrn Schiffer umgegangen ist, dürfte einer Annäherung der liberalen und
k G. Lleinow onservativen Parteien im gedachtem Sinne kaum dienen.


Russische Dinge

Ohne Zweifel von weitesttragender Bedeutung für die Weltpolitik in ihrer
Gesamtheit und deren Rückwirkungen auf das Deutsche Reich ist der Minister¬
wechsel in Rußland. Was er wirklich bedeutet, läßt sich heute allerdings
noch nicht sagen. Was dahinter steckt, welche Richtung tatsächlich gesiegt hat,
welche unterlegen ist. ob der französische Einfluß in Rußland noch stärker den
deutschen verdrängen soll, ob eine weitere Sammlung der russisch-orthodoxen
Kräfte im Innern stattfindet, das sind Fragen, die sich aus der zweiten Be-
rufung des sünfundsiebzigjährigen Goremykin auf den Posten eines Minister¬
präsidenten nicht ohne weiteres beantworten lassen. GoremrM gehört zwar zur
konservativ-agrarischen Gruppe des Neichsrates, war ein Freund des altrussischen
Aristokraten und Bärenjägers Ssnpjagin, der 1902 von Mörderhand fiel, -- aber
Goremykin als solcher bedeutet noch kein politisches Programm. AIs er im
April vor nunmehr acht Jahren den Einführer des Oktobermanifestes, den
Grafen Witte, ablöste, bildete Goremykin zusammen mit Schwanebach lediglich


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getan ist. Die Frage ist nun. ob auch die Landwirtschaft Anschluß an das sich
anbahnende Kartell finden wird.

Es scheint fast, als sollte es nicht der Fall sein. Denn beide, Schwer-
und Fertigindustrie, fordern von den nächsten Handelsverträgen einen modifizierten
Zolltarif, der eine Erleichterung weltwirtschaftlicher Betätigung für Industrie
und Handel im Gefolge hätte. Dem aber stehen die Zölle auf Agrarprodukte
im Wege. Sie niedriger zu gestalten und dafür bessere Bedingungen für die
Ausfuhr von Jndustrieerzeugnissen einzuhandeln, das dürfte das eine einigende
Ziel im gewerblichen Bürgertum sein.

Bei der Vertretung, die die Landwirtschaft gegenwärtig im Reichstage hat, —
und dieser Reichstag soll die neuen Handelsverträge genehmigen — wird es sehr
auf die Festigkeit der Negierung ankommen, wie weit die Industrie in ihren
Forderungen auf Kosten der Landwirtschaft unterstützt werden wird oder nicht.
Bei der sogenannten imperialistischen Tendenz, von der die gebildeten Schichten
ergriffen sind, ist eher zu befürchten, daß man bei den Handelsverträgen die
Interessen der Landwirtschaft zurücktreten läßt, als umgekehrt, und davor könnte
nicht früh und energisch genug gewarnt werden. Industrie und Landwirtschaft
sollten versuchen, sich so bald als möglich zu verständigen, noch ehe die Ent¬
scheidung über die Höhe der künftigen Zölle der Regierung des Herrn von
Bethmann und dem heutigen Reichstag überlassen wird. Freilich wird es in
erster Linie an der Haltung der Vertreter der Landwirtschaft im preußischen
Landtage und im Reichstage liegen, ob nun solche Verständigung möglich wird.
Die Art, wie Herr von Kardorff kürzlich mit den Nationalliberalen, insonderheit
mit Herrn Schiffer umgegangen ist, dürfte einer Annäherung der liberalen und
k G. Lleinow onservativen Parteien im gedachtem Sinne kaum dienen.


Russische Dinge

Ohne Zweifel von weitesttragender Bedeutung für die Weltpolitik in ihrer
Gesamtheit und deren Rückwirkungen auf das Deutsche Reich ist der Minister¬
wechsel in Rußland. Was er wirklich bedeutet, läßt sich heute allerdings
noch nicht sagen. Was dahinter steckt, welche Richtung tatsächlich gesiegt hat,
welche unterlegen ist. ob der französische Einfluß in Rußland noch stärker den
deutschen verdrängen soll, ob eine weitere Sammlung der russisch-orthodoxen
Kräfte im Innern stattfindet, das sind Fragen, die sich aus der zweiten Be-
rufung des sünfundsiebzigjährigen Goremykin auf den Posten eines Minister¬
präsidenten nicht ohne weiteres beantworten lassen. GoremrM gehört zwar zur
konservativ-agrarischen Gruppe des Neichsrates, war ein Freund des altrussischen
Aristokraten und Bärenjägers Ssnpjagin, der 1902 von Mörderhand fiel, — aber
Goremykin als solcher bedeutet noch kein politisches Programm. AIs er im
April vor nunmehr acht Jahren den Einführer des Oktobermanifestes, den
Grafen Witte, ablöste, bildete Goremykin zusammen mit Schwanebach lediglich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/341>, abgerufen am 29.12.2024.