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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes

deren kein Ende im Theater, wo das Schauspiel des Dichters "Natalka Pol-
tawka" gegeben wurde, und hier erreichte die Begeisterung den Höhepunkt, als
die Bauerndeputation auf der Szene erschienen war. Iwan Kotlarewski ist der
Vater der modernen ukrainischen Literatur, und mit ihm beginnen die Bestre¬
bungen der kleinrussischen Intelligenz nach einer nationalen Wiedergeburt des
Ukrainertums. Dichter und Kritiker, wie Kwitka, Hrebinka und Taras Schein-
tschenko, vertraten die Idee eines ukrainischen Volkstums, sie waren sich jedoch
nicht ganz klar über Tendenzen und Ziele der von ihnen ins Leben gerufenen
Bewegung und schrieben auch russisch. Die russische Regierung war jedoch nicht
gewillt, diese ursprünglich rein kulturelle Strömung zu dulden, und Ukase vom
Jahre 18K3 und 1876 verpöntem die Verbreitung von Schriften in ukrainischer
Sprache. Aus dem öffentlichen Leben, aus Kirche und Schule, Literatur und
Wissenschaft schwand das volkstümliche ukrainische Wort, und die gebildeten
Schichten kehrten reuig in den Schoß des Russentums zurück oder -- wanderten
nach Galizien aus, wo sie ihre Tätigkeit frei entfalten durften. Die Polen
hatten nämlich in der ukrainischen Bewegung ein vorzügliches Mittel erkannt,
sowohl Rußland als auch die ruthenische Nationalpartei, die mit ihnen in
heftigem Kampfe stand und die die literarische und kulturelle Einheit der
Ruthenen mit den Russen verkündete, zu schwächen, und begünstigten
die Fraktion der Jung - Ruthenen oder Ukrainer, die von Rußland nichts
wissen wollten und einem Ausgleiche mit den Polen geneigt waren. Es
beginnen die Träume von einer dreißig Millionen zählenden Ukraine von
den Karpathen bis zum Ural, allmählich bildet sich eine wissenschaftliche
ruthenische Literatur, und in den neunziger Jahren wird eine phonetische Recht¬
schreibung eingeführt. Mit der Zeit gewann die ukrainische Strömung die
Oberhand und wurde auch von den Polen unabhängig. Heute führt sie den
nationalen Kampf nach zwei Fronten, sowohl gegen das Polentum als auch
gegen Rußland.

Das ist in Kürze die Genesis der ukrainischen Frage. In ihr kommt der
alte Gegensatz zwischen Noroen und Süden, zwischen Moskau und Kiew, zum
Ausdruck und sie zeigt, daß er noch nicht endgültig zugunsten des ersteren
entschieden ist. Dank dem konstitionellen Leben in Österreich konnte die
ukrainische Bewegung in Galizien einen politischen Charakter annehmen, in
Nußland sich höchstens als kulturelle Strömung behaupten. Diesen kulturellen
Separatismus der Kleinrussen empfindet aber Rußland als eine Gefahr. Es
befürchtet, daß er zu einem politischen werden und in der Folge zu einer Ab¬
lösung der Ukraine von Nußland und zur Bildung eines "Königreiches Kiew"
mit 30 Millionen Kleinrussen oder zu einem Anschluß dieses Gebietes an Öster¬
reich führen könnte. Diese Befürchtung teilen sowohl die offiziellen als auch
die oppositionellen Kreise in Rußland, und alle geben Österreich die Schuld an
dem Entstehen dieser Frage, die die kulturelle und politische Einheit Rußlands
zu zerreißen drohe. "Nicht bei uns," führte der konstitionelle Demokrat


Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes

deren kein Ende im Theater, wo das Schauspiel des Dichters „Natalka Pol-
tawka" gegeben wurde, und hier erreichte die Begeisterung den Höhepunkt, als
die Bauerndeputation auf der Szene erschienen war. Iwan Kotlarewski ist der
Vater der modernen ukrainischen Literatur, und mit ihm beginnen die Bestre¬
bungen der kleinrussischen Intelligenz nach einer nationalen Wiedergeburt des
Ukrainertums. Dichter und Kritiker, wie Kwitka, Hrebinka und Taras Schein-
tschenko, vertraten die Idee eines ukrainischen Volkstums, sie waren sich jedoch
nicht ganz klar über Tendenzen und Ziele der von ihnen ins Leben gerufenen
Bewegung und schrieben auch russisch. Die russische Regierung war jedoch nicht
gewillt, diese ursprünglich rein kulturelle Strömung zu dulden, und Ukase vom
Jahre 18K3 und 1876 verpöntem die Verbreitung von Schriften in ukrainischer
Sprache. Aus dem öffentlichen Leben, aus Kirche und Schule, Literatur und
Wissenschaft schwand das volkstümliche ukrainische Wort, und die gebildeten
Schichten kehrten reuig in den Schoß des Russentums zurück oder — wanderten
nach Galizien aus, wo sie ihre Tätigkeit frei entfalten durften. Die Polen
hatten nämlich in der ukrainischen Bewegung ein vorzügliches Mittel erkannt,
sowohl Rußland als auch die ruthenische Nationalpartei, die mit ihnen in
heftigem Kampfe stand und die die literarische und kulturelle Einheit der
Ruthenen mit den Russen verkündete, zu schwächen, und begünstigten
die Fraktion der Jung - Ruthenen oder Ukrainer, die von Rußland nichts
wissen wollten und einem Ausgleiche mit den Polen geneigt waren. Es
beginnen die Träume von einer dreißig Millionen zählenden Ukraine von
den Karpathen bis zum Ural, allmählich bildet sich eine wissenschaftliche
ruthenische Literatur, und in den neunziger Jahren wird eine phonetische Recht¬
schreibung eingeführt. Mit der Zeit gewann die ukrainische Strömung die
Oberhand und wurde auch von den Polen unabhängig. Heute führt sie den
nationalen Kampf nach zwei Fronten, sowohl gegen das Polentum als auch
gegen Rußland.

Das ist in Kürze die Genesis der ukrainischen Frage. In ihr kommt der
alte Gegensatz zwischen Noroen und Süden, zwischen Moskau und Kiew, zum
Ausdruck und sie zeigt, daß er noch nicht endgültig zugunsten des ersteren
entschieden ist. Dank dem konstitionellen Leben in Österreich konnte die
ukrainische Bewegung in Galizien einen politischen Charakter annehmen, in
Nußland sich höchstens als kulturelle Strömung behaupten. Diesen kulturellen
Separatismus der Kleinrussen empfindet aber Rußland als eine Gefahr. Es
befürchtet, daß er zu einem politischen werden und in der Folge zu einer Ab¬
lösung der Ukraine von Nußland und zur Bildung eines „Königreiches Kiew"
mit 30 Millionen Kleinrussen oder zu einem Anschluß dieses Gebietes an Öster¬
reich führen könnte. Diese Befürchtung teilen sowohl die offiziellen als auch
die oppositionellen Kreise in Rußland, und alle geben Österreich die Schuld an
dem Entstehen dieser Frage, die die kulturelle und politische Einheit Rußlands
zu zerreißen drohe. „Nicht bei uns," führte der konstitionelle Demokrat


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[0034] Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes deren kein Ende im Theater, wo das Schauspiel des Dichters „Natalka Pol- tawka" gegeben wurde, und hier erreichte die Begeisterung den Höhepunkt, als die Bauerndeputation auf der Szene erschienen war. Iwan Kotlarewski ist der Vater der modernen ukrainischen Literatur, und mit ihm beginnen die Bestre¬ bungen der kleinrussischen Intelligenz nach einer nationalen Wiedergeburt des Ukrainertums. Dichter und Kritiker, wie Kwitka, Hrebinka und Taras Schein- tschenko, vertraten die Idee eines ukrainischen Volkstums, sie waren sich jedoch nicht ganz klar über Tendenzen und Ziele der von ihnen ins Leben gerufenen Bewegung und schrieben auch russisch. Die russische Regierung war jedoch nicht gewillt, diese ursprünglich rein kulturelle Strömung zu dulden, und Ukase vom Jahre 18K3 und 1876 verpöntem die Verbreitung von Schriften in ukrainischer Sprache. Aus dem öffentlichen Leben, aus Kirche und Schule, Literatur und Wissenschaft schwand das volkstümliche ukrainische Wort, und die gebildeten Schichten kehrten reuig in den Schoß des Russentums zurück oder — wanderten nach Galizien aus, wo sie ihre Tätigkeit frei entfalten durften. Die Polen hatten nämlich in der ukrainischen Bewegung ein vorzügliches Mittel erkannt, sowohl Rußland als auch die ruthenische Nationalpartei, die mit ihnen in heftigem Kampfe stand und die die literarische und kulturelle Einheit der Ruthenen mit den Russen verkündete, zu schwächen, und begünstigten die Fraktion der Jung - Ruthenen oder Ukrainer, die von Rußland nichts wissen wollten und einem Ausgleiche mit den Polen geneigt waren. Es beginnen die Träume von einer dreißig Millionen zählenden Ukraine von den Karpathen bis zum Ural, allmählich bildet sich eine wissenschaftliche ruthenische Literatur, und in den neunziger Jahren wird eine phonetische Recht¬ schreibung eingeführt. Mit der Zeit gewann die ukrainische Strömung die Oberhand und wurde auch von den Polen unabhängig. Heute führt sie den nationalen Kampf nach zwei Fronten, sowohl gegen das Polentum als auch gegen Rußland. Das ist in Kürze die Genesis der ukrainischen Frage. In ihr kommt der alte Gegensatz zwischen Noroen und Süden, zwischen Moskau und Kiew, zum Ausdruck und sie zeigt, daß er noch nicht endgültig zugunsten des ersteren entschieden ist. Dank dem konstitionellen Leben in Österreich konnte die ukrainische Bewegung in Galizien einen politischen Charakter annehmen, in Nußland sich höchstens als kulturelle Strömung behaupten. Diesen kulturellen Separatismus der Kleinrussen empfindet aber Rußland als eine Gefahr. Es befürchtet, daß er zu einem politischen werden und in der Folge zu einer Ab¬ lösung der Ukraine von Nußland und zur Bildung eines „Königreiches Kiew" mit 30 Millionen Kleinrussen oder zu einem Anschluß dieses Gebietes an Öster¬ reich führen könnte. Diese Befürchtung teilen sowohl die offiziellen als auch die oppositionellen Kreise in Rußland, und alle geben Österreich die Schuld an dem Entstehen dieser Frage, die die kulturelle und politische Einheit Rußlands zu zerreißen drohe. „Nicht bei uns," führte der konstitionelle Demokrat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/34>, abgerufen am 29.12.2024.