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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes

lichen Kultur näher gebracht -- trug dazu bei, den Unterschied zwischen
Groß- und Kleinrußland zu vergrößern, der im fünfzehnten Jahrhundert bereits
zu einem offenen Gegensatze geworden war. Er äußerte sich auch hier, wie
überall im Mittelalter, in der Religion. Zwar war sowohl die Kirche von
Moskau als auch die vou Kiew orthodox; erstere sah jedoch letztere als eine
nicht im strengen Sinne rechtgläubige an -- sie verhielt sich zu ihr als zu einer
schismatischen, und Kleinrussen, die sich in Moskau ansiedelten, wurden noch
einmal getauft. -- Unter den Kleinrussen war das Bewußtsein ihrer nationalen
Eigenart nie geschwunden. Nach der Union (mit der römisch-katholischen Kirche),
die die Polen in der Hoffnung auf eine vollständige Verschmelzung des Klein-
russentums mit der polnischen Nation durchgesetzt haben (vgl. den bekannten
Ausspruch "natione polonus, xente I?utKenu8"), fand das nationale Selbst¬
bewußtsein der Kleinrussen seine letzte Zuflucht im Kosakentun,, einer Art mili¬
tärisch-kommunistischen Gemeinwesens, das sich in der "Zaporoger Sicz" am
Dujepr eine gewisse Autonomie unter eigenen Hetmanen zu bewahren wußte,
und bekannt ist der Aufstand der Kosaken unter Bostan Chmelnicki, der den
Charakter eines Nationalkampfes zwischen dem ruthenischen und polnischen, dem
orthodoxen und katholischen Elemente angenommen und die Selbständigkeit der
Ukraine zum Ziele hatte. Ein tragisches Schicksal hatte es gefügt, daß jener
ukrainische Nationalheld sich zur Erreichung dieses Zieles zuletzt an Rußland
um Hilfe wandte und dem Zaren unterwarf -- ein Schritt, der in der Folge
zur Vernichtung des letzten Restes der nationalen Unabhängigkeit der Klein¬
russen, des Kosakentums geführt hat. Das freie Kosakentum wird immer un¬
freier, die Versuche verschiedener Hetmane, zuletzt des Hetmans Mazeppa, mit
Hilfe des Schwedenkönigs Karls des Zwölften die alte Stellung wiederzugewinnen,
scheiterten, und Katharina die Zweite hob die Autonomie der Kosaken gänzlich
auf. Noch im Jahre 1791 versuchte Wassil Kapnift in einer geheimen Mission
den preußischen Minister Hertzberg für die Sache der Kosaken und der Ukraine
zu interessieren. Vergebens. Ihr Schicksal war besiegelt. Es trat eine Zeit
vollständiger nationaler Ohnmacht der Ukrainer ein. Schule und Kirche arbeiteten
dem Russifizierungswerke in die Hände, auf daß "sich das kleinrussische Volk
mit dem großrussischen eins fühle", und noch in den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts konnte ein Minister dem Zaren versichern, "es gebe und werde
auch keine ukrainische Nation geben".

Am 24. November d. I. fand in Poltawa unter Teilnahme der Intelligenz,
der Geistlichkeit, einer Bauerndeputation und eines zahlreichen Publikums eine
Feier zur Erinnerung an den fünfundsiebzigsten Todestag des ersten ukrainischen
Dichters. Iwan Kotlarewski, statt. Vor dem Denkmal des Dichters, das dreißig
Kränze, darunter sechs silberne mit ukrainischen Widmungen schmückten, setzte
der Erzpriester des Ortes in einer in russischer Sprache gehaltenen Rede den
Unterschied zwischen der ukrainischen und russischen Nationalität auseinander.
Reden in ukrainischer Sprache waren vor dem Denkmal verboten; es gab jedoch


Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes

lichen Kultur näher gebracht — trug dazu bei, den Unterschied zwischen
Groß- und Kleinrußland zu vergrößern, der im fünfzehnten Jahrhundert bereits
zu einem offenen Gegensatze geworden war. Er äußerte sich auch hier, wie
überall im Mittelalter, in der Religion. Zwar war sowohl die Kirche von
Moskau als auch die vou Kiew orthodox; erstere sah jedoch letztere als eine
nicht im strengen Sinne rechtgläubige an — sie verhielt sich zu ihr als zu einer
schismatischen, und Kleinrussen, die sich in Moskau ansiedelten, wurden noch
einmal getauft. — Unter den Kleinrussen war das Bewußtsein ihrer nationalen
Eigenart nie geschwunden. Nach der Union (mit der römisch-katholischen Kirche),
die die Polen in der Hoffnung auf eine vollständige Verschmelzung des Klein-
russentums mit der polnischen Nation durchgesetzt haben (vgl. den bekannten
Ausspruch „natione polonus, xente I?utKenu8"), fand das nationale Selbst¬
bewußtsein der Kleinrussen seine letzte Zuflucht im Kosakentun,, einer Art mili¬
tärisch-kommunistischen Gemeinwesens, das sich in der „Zaporoger Sicz" am
Dujepr eine gewisse Autonomie unter eigenen Hetmanen zu bewahren wußte,
und bekannt ist der Aufstand der Kosaken unter Bostan Chmelnicki, der den
Charakter eines Nationalkampfes zwischen dem ruthenischen und polnischen, dem
orthodoxen und katholischen Elemente angenommen und die Selbständigkeit der
Ukraine zum Ziele hatte. Ein tragisches Schicksal hatte es gefügt, daß jener
ukrainische Nationalheld sich zur Erreichung dieses Zieles zuletzt an Rußland
um Hilfe wandte und dem Zaren unterwarf — ein Schritt, der in der Folge
zur Vernichtung des letzten Restes der nationalen Unabhängigkeit der Klein¬
russen, des Kosakentums geführt hat. Das freie Kosakentum wird immer un¬
freier, die Versuche verschiedener Hetmane, zuletzt des Hetmans Mazeppa, mit
Hilfe des Schwedenkönigs Karls des Zwölften die alte Stellung wiederzugewinnen,
scheiterten, und Katharina die Zweite hob die Autonomie der Kosaken gänzlich
auf. Noch im Jahre 1791 versuchte Wassil Kapnift in einer geheimen Mission
den preußischen Minister Hertzberg für die Sache der Kosaken und der Ukraine
zu interessieren. Vergebens. Ihr Schicksal war besiegelt. Es trat eine Zeit
vollständiger nationaler Ohnmacht der Ukrainer ein. Schule und Kirche arbeiteten
dem Russifizierungswerke in die Hände, auf daß „sich das kleinrussische Volk
mit dem großrussischen eins fühle", und noch in den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts konnte ein Minister dem Zaren versichern, „es gebe und werde
auch keine ukrainische Nation geben".

Am 24. November d. I. fand in Poltawa unter Teilnahme der Intelligenz,
der Geistlichkeit, einer Bauerndeputation und eines zahlreichen Publikums eine
Feier zur Erinnerung an den fünfundsiebzigsten Todestag des ersten ukrainischen
Dichters. Iwan Kotlarewski, statt. Vor dem Denkmal des Dichters, das dreißig
Kränze, darunter sechs silberne mit ukrainischen Widmungen schmückten, setzte
der Erzpriester des Ortes in einer in russischer Sprache gehaltenen Rede den
Unterschied zwischen der ukrainischen und russischen Nationalität auseinander.
Reden in ukrainischer Sprache waren vor dem Denkmal verboten; es gab jedoch


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[0033] Der Angelpunkt des österreichisch-russischen Gegensatzes lichen Kultur näher gebracht — trug dazu bei, den Unterschied zwischen Groß- und Kleinrußland zu vergrößern, der im fünfzehnten Jahrhundert bereits zu einem offenen Gegensatze geworden war. Er äußerte sich auch hier, wie überall im Mittelalter, in der Religion. Zwar war sowohl die Kirche von Moskau als auch die vou Kiew orthodox; erstere sah jedoch letztere als eine nicht im strengen Sinne rechtgläubige an — sie verhielt sich zu ihr als zu einer schismatischen, und Kleinrussen, die sich in Moskau ansiedelten, wurden noch einmal getauft. — Unter den Kleinrussen war das Bewußtsein ihrer nationalen Eigenart nie geschwunden. Nach der Union (mit der römisch-katholischen Kirche), die die Polen in der Hoffnung auf eine vollständige Verschmelzung des Klein- russentums mit der polnischen Nation durchgesetzt haben (vgl. den bekannten Ausspruch „natione polonus, xente I?utKenu8"), fand das nationale Selbst¬ bewußtsein der Kleinrussen seine letzte Zuflucht im Kosakentun,, einer Art mili¬ tärisch-kommunistischen Gemeinwesens, das sich in der „Zaporoger Sicz" am Dujepr eine gewisse Autonomie unter eigenen Hetmanen zu bewahren wußte, und bekannt ist der Aufstand der Kosaken unter Bostan Chmelnicki, der den Charakter eines Nationalkampfes zwischen dem ruthenischen und polnischen, dem orthodoxen und katholischen Elemente angenommen und die Selbständigkeit der Ukraine zum Ziele hatte. Ein tragisches Schicksal hatte es gefügt, daß jener ukrainische Nationalheld sich zur Erreichung dieses Zieles zuletzt an Rußland um Hilfe wandte und dem Zaren unterwarf — ein Schritt, der in der Folge zur Vernichtung des letzten Restes der nationalen Unabhängigkeit der Klein¬ russen, des Kosakentums geführt hat. Das freie Kosakentum wird immer un¬ freier, die Versuche verschiedener Hetmane, zuletzt des Hetmans Mazeppa, mit Hilfe des Schwedenkönigs Karls des Zwölften die alte Stellung wiederzugewinnen, scheiterten, und Katharina die Zweite hob die Autonomie der Kosaken gänzlich auf. Noch im Jahre 1791 versuchte Wassil Kapnift in einer geheimen Mission den preußischen Minister Hertzberg für die Sache der Kosaken und der Ukraine zu interessieren. Vergebens. Ihr Schicksal war besiegelt. Es trat eine Zeit vollständiger nationaler Ohnmacht der Ukrainer ein. Schule und Kirche arbeiteten dem Russifizierungswerke in die Hände, auf daß „sich das kleinrussische Volk mit dem großrussischen eins fühle", und noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte ein Minister dem Zaren versichern, „es gebe und werde auch keine ukrainische Nation geben". Am 24. November d. I. fand in Poltawa unter Teilnahme der Intelligenz, der Geistlichkeit, einer Bauerndeputation und eines zahlreichen Publikums eine Feier zur Erinnerung an den fünfundsiebzigsten Todestag des ersten ukrainischen Dichters. Iwan Kotlarewski, statt. Vor dem Denkmal des Dichters, das dreißig Kränze, darunter sechs silberne mit ukrainischen Widmungen schmückten, setzte der Erzpriester des Ortes in einer in russischer Sprache gehaltenen Rede den Unterschied zwischen der ukrainischen und russischen Nationalität auseinander. Reden in ukrainischer Sprache waren vor dem Denkmal verboten; es gab jedoch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/33>, abgerufen am 29.12.2024.