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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Hütet Gueb zu träumen und zu dichten!

zu oft entgegenkommt, ist hier -- und zwar gerade im Hinblick auf den hohen
Wert wirklicher Wissenschaft -- am allerwenigsten am Platz . . .

Der Begriff des "Unbewußten" spielt bekanntlich nicht nur in der Philo¬
sophie, sondern auch in der neueren Psychologie eine großeRolle. Wie es Psychologen
gegeben hat und heute noch gibt, die Psychologie nur im Nahmen der Bewußt¬
seinsvorgänge gelten lassen wollen, so weisen andere dem Unbewußten eine
entscheidende Rolle zu, ja erklären es, wie Lipps, sür "die" Frage der
Psychologie. Daß unser Bewußtsein einen unbewußten oder unterbewußten
Träger hat, der es wesentlich mitbestimmt, unterliegt keinem Zweifel. Doch
diese Frage steht hier nicht zur Untersuchung. Es ist nur festzustellen, daß in
den Anschauungen von Sigmund Freud und seinen Schülern dem Unbewußten
eine ausschlaggebende Aufgabe zugesprochen wird. Freud selber definiert
folgendermaßen: "Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach
seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns
durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außen¬
welt durch die Angaben unserer Sinnesorgane." Diesem "eigentlich realen
Psychischen" sucht Freud auf dem Wege einer eigenartigen Analyse, deren
Wesen noch zu besprechen sein wird, beizukommen. Mit Breuer unterscheidet
er bewußiseinsfähige und bewußtseinsunfähige Vorstellungen. Das Unbewußte
wäre nun nach seinem wesentlichsten und tiefsten Bestandteil das Bewußtseins¬
unfähige. An einer Stelle, wo Schopenhauer über den Wahnsinn spricht, sagt
er: "In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widerliche in die Be¬
leuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der
Wahnsinn in den Intellekt einbrechen kann." Was hier für den Wahnsinn
gesagt ist, gilt bei Freud für die Neurose. Das Bewußtseinsunfähige ist das
Unterdrückte, das Alte und Peinliche -- das Verdrängte, das "auch beim
normalen Menschen fortbesteht und psychologischer Leistungen fähig bleibt".
Nach Hitschmann, der die Freudsche Neurosenlehre zusammenfassend dargestellt
hat, kennzeichnet sich das Unbewußte in seiner Grundschicht als eine Ansammlung
von verdrängten Trieben, sexuellen Betätigungen, Wunschregungen, erotischen
Phantasien, die im Laufe des Lebens weitere Schichten verdrängten Materials
ansetzt. Grundeigenschaft des Unbewußten ist Sexualität im weitesten Sinne.
Das seelisch Unterdrückte, das im wachen Leben am Ausdruck gehindert und
gleichsam eingesperrt ist, sucht und findet Mittel und Wege sich trotzdem zur
Geltung zu bringen ("abzureagieren"): im Traum. Hier wird uns die zentrale
Bedeutung klar, die das Problem des Traumes für Freud und seine Schule
gewonnen hat. Das Buch, das die ganze Lehre trägt ist die "Traum¬
deutung" (dritte Auflage 1911). Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der
vorausgegangenen Forscher, die im Traum nur ein verworrenes Gemenge von
Tagesresten, organischen Leibreizen usw. sehen wollen, erklärt Freud den
Traum für ein "sinnvolles psychisches Gebilde". Er will eine "psychologische
Technik" gefunden haben, die darüber keine Zweifel läßt. Sein Buch enthält


Hütet Gueb zu träumen und zu dichten!

zu oft entgegenkommt, ist hier — und zwar gerade im Hinblick auf den hohen
Wert wirklicher Wissenschaft — am allerwenigsten am Platz . . .

Der Begriff des „Unbewußten" spielt bekanntlich nicht nur in der Philo¬
sophie, sondern auch in der neueren Psychologie eine großeRolle. Wie es Psychologen
gegeben hat und heute noch gibt, die Psychologie nur im Nahmen der Bewußt¬
seinsvorgänge gelten lassen wollen, so weisen andere dem Unbewußten eine
entscheidende Rolle zu, ja erklären es, wie Lipps, sür „die" Frage der
Psychologie. Daß unser Bewußtsein einen unbewußten oder unterbewußten
Träger hat, der es wesentlich mitbestimmt, unterliegt keinem Zweifel. Doch
diese Frage steht hier nicht zur Untersuchung. Es ist nur festzustellen, daß in
den Anschauungen von Sigmund Freud und seinen Schülern dem Unbewußten
eine ausschlaggebende Aufgabe zugesprochen wird. Freud selber definiert
folgendermaßen: „Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach
seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns
durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außen¬
welt durch die Angaben unserer Sinnesorgane." Diesem „eigentlich realen
Psychischen" sucht Freud auf dem Wege einer eigenartigen Analyse, deren
Wesen noch zu besprechen sein wird, beizukommen. Mit Breuer unterscheidet
er bewußiseinsfähige und bewußtseinsunfähige Vorstellungen. Das Unbewußte
wäre nun nach seinem wesentlichsten und tiefsten Bestandteil das Bewußtseins¬
unfähige. An einer Stelle, wo Schopenhauer über den Wahnsinn spricht, sagt
er: „In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widerliche in die Be¬
leuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der
Wahnsinn in den Intellekt einbrechen kann." Was hier für den Wahnsinn
gesagt ist, gilt bei Freud für die Neurose. Das Bewußtseinsunfähige ist das
Unterdrückte, das Alte und Peinliche — das Verdrängte, das „auch beim
normalen Menschen fortbesteht und psychologischer Leistungen fähig bleibt".
Nach Hitschmann, der die Freudsche Neurosenlehre zusammenfassend dargestellt
hat, kennzeichnet sich das Unbewußte in seiner Grundschicht als eine Ansammlung
von verdrängten Trieben, sexuellen Betätigungen, Wunschregungen, erotischen
Phantasien, die im Laufe des Lebens weitere Schichten verdrängten Materials
ansetzt. Grundeigenschaft des Unbewußten ist Sexualität im weitesten Sinne.
Das seelisch Unterdrückte, das im wachen Leben am Ausdruck gehindert und
gleichsam eingesperrt ist, sucht und findet Mittel und Wege sich trotzdem zur
Geltung zu bringen („abzureagieren"): im Traum. Hier wird uns die zentrale
Bedeutung klar, die das Problem des Traumes für Freud und seine Schule
gewonnen hat. Das Buch, das die ganze Lehre trägt ist die „Traum¬
deutung" (dritte Auflage 1911). Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der
vorausgegangenen Forscher, die im Traum nur ein verworrenes Gemenge von
Tagesresten, organischen Leibreizen usw. sehen wollen, erklärt Freud den
Traum für ein „sinnvolles psychisches Gebilde". Er will eine „psychologische
Technik" gefunden haben, die darüber keine Zweifel läßt. Sein Buch enthält


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[0310] Hütet Gueb zu träumen und zu dichten! zu oft entgegenkommt, ist hier — und zwar gerade im Hinblick auf den hohen Wert wirklicher Wissenschaft — am allerwenigsten am Platz . . . Der Begriff des „Unbewußten" spielt bekanntlich nicht nur in der Philo¬ sophie, sondern auch in der neueren Psychologie eine großeRolle. Wie es Psychologen gegeben hat und heute noch gibt, die Psychologie nur im Nahmen der Bewußt¬ seinsvorgänge gelten lassen wollen, so weisen andere dem Unbewußten eine entscheidende Rolle zu, ja erklären es, wie Lipps, sür „die" Frage der Psychologie. Daß unser Bewußtsein einen unbewußten oder unterbewußten Träger hat, der es wesentlich mitbestimmt, unterliegt keinem Zweifel. Doch diese Frage steht hier nicht zur Untersuchung. Es ist nur festzustellen, daß in den Anschauungen von Sigmund Freud und seinen Schülern dem Unbewußten eine ausschlaggebende Aufgabe zugesprochen wird. Freud selber definiert folgendermaßen: „Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außen¬ welt durch die Angaben unserer Sinnesorgane." Diesem „eigentlich realen Psychischen" sucht Freud auf dem Wege einer eigenartigen Analyse, deren Wesen noch zu besprechen sein wird, beizukommen. Mit Breuer unterscheidet er bewußiseinsfähige und bewußtseinsunfähige Vorstellungen. Das Unbewußte wäre nun nach seinem wesentlichsten und tiefsten Bestandteil das Bewußtseins¬ unfähige. An einer Stelle, wo Schopenhauer über den Wahnsinn spricht, sagt er: „In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widerliche in die Be¬ leuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn in den Intellekt einbrechen kann." Was hier für den Wahnsinn gesagt ist, gilt bei Freud für die Neurose. Das Bewußtseinsunfähige ist das Unterdrückte, das Alte und Peinliche — das Verdrängte, das „auch beim normalen Menschen fortbesteht und psychologischer Leistungen fähig bleibt". Nach Hitschmann, der die Freudsche Neurosenlehre zusammenfassend dargestellt hat, kennzeichnet sich das Unbewußte in seiner Grundschicht als eine Ansammlung von verdrängten Trieben, sexuellen Betätigungen, Wunschregungen, erotischen Phantasien, die im Laufe des Lebens weitere Schichten verdrängten Materials ansetzt. Grundeigenschaft des Unbewußten ist Sexualität im weitesten Sinne. Das seelisch Unterdrückte, das im wachen Leben am Ausdruck gehindert und gleichsam eingesperrt ist, sucht und findet Mittel und Wege sich trotzdem zur Geltung zu bringen („abzureagieren"): im Traum. Hier wird uns die zentrale Bedeutung klar, die das Problem des Traumes für Freud und seine Schule gewonnen hat. Das Buch, das die ganze Lehre trägt ist die „Traum¬ deutung" (dritte Auflage 1911). Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der vorausgegangenen Forscher, die im Traum nur ein verworrenes Gemenge von Tagesresten, organischen Leibreizen usw. sehen wollen, erklärt Freud den Traum für ein „sinnvolles psychisches Gebilde". Er will eine „psychologische Technik" gefunden haben, die darüber keine Zweifel läßt. Sein Buch enthält

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/310>, abgerufen am 29.12.2024.