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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Modernes Hellenentmn

wurden nicht ernstgenommen. Schließlich errang dann Christomanos mit
einigen Kochonerien den ersehnten finanziellen Erfolg, der aber den Verfall
des Ganzen eher beschleunigte als aufhielt. Das jetzige Theaterleben
besteht ausschließlich in einem lächerlichen und erbitterten Kampfe der
Epigonen beider Bühnen. Spielen die einen ein aus dem Zolaschen Roman
grob zurechtgezimmertes Theaterstück "Nana", so spielen es die anderen auch
und sogar am selben Abend. Das Theater ist verwahrlost, das geistige Leben
liegt brach.

An das Ruder der Regierung kam ein Mann, der von der Bedeutung
der nationalen Kunst und von der Notwendigkeit eines nationalen Theaters
durchdrungen war. Ich meine Venizelos, unseren großen Premierminister. Als
er mit dieser seiner Herzenssache vor das Parlament trat, da begegnete er einem
derartig wütenden Widerstande, daß er sich selbst in höchster Gefahr sah.
Wieder mußten Kunst und Geist vor dem Gespenst einer toten Überlieferung
verstummen.

Trotzdem haben wir alle, die wir nicht nur an ein totes, sondern an ein
zukunftsreiches Leben Griechenlands glauben, nie die Hoffnung aufgegeben,
daß uns gerade dieser Mann einmal die Morgenröte einer neuen besseren Zeit
herausführen wird. Er hat politisch mit so vielen alten Vorurteilen glücklich
aufgeräumt und dafür so viele neue, allen klar vor Augen liegende Fährten
geschaffen, daß er uns auch weiter helfen wird. Möge doch der ganze
geistige Ballast abgeschüttelt und die Schätzung des Altertums in jene Schranken
gewiesen werden, die durch inzwischen verflossene Jahrhunderte und Jahr¬
tausende errichtet wurdenl Luft und Raum soll werden für eine neue Geistes¬
strömung und eine neue Kunst, die der Seele der jetzt lebenden Menschheit
und den Zielen und Wünschen einer neuen Nation gemäß sind!




Modernes Hellenentmn

wurden nicht ernstgenommen. Schließlich errang dann Christomanos mit
einigen Kochonerien den ersehnten finanziellen Erfolg, der aber den Verfall
des Ganzen eher beschleunigte als aufhielt. Das jetzige Theaterleben
besteht ausschließlich in einem lächerlichen und erbitterten Kampfe der
Epigonen beider Bühnen. Spielen die einen ein aus dem Zolaschen Roman
grob zurechtgezimmertes Theaterstück „Nana", so spielen es die anderen auch
und sogar am selben Abend. Das Theater ist verwahrlost, das geistige Leben
liegt brach.

An das Ruder der Regierung kam ein Mann, der von der Bedeutung
der nationalen Kunst und von der Notwendigkeit eines nationalen Theaters
durchdrungen war. Ich meine Venizelos, unseren großen Premierminister. Als
er mit dieser seiner Herzenssache vor das Parlament trat, da begegnete er einem
derartig wütenden Widerstande, daß er sich selbst in höchster Gefahr sah.
Wieder mußten Kunst und Geist vor dem Gespenst einer toten Überlieferung
verstummen.

Trotzdem haben wir alle, die wir nicht nur an ein totes, sondern an ein
zukunftsreiches Leben Griechenlands glauben, nie die Hoffnung aufgegeben,
daß uns gerade dieser Mann einmal die Morgenröte einer neuen besseren Zeit
herausführen wird. Er hat politisch mit so vielen alten Vorurteilen glücklich
aufgeräumt und dafür so viele neue, allen klar vor Augen liegende Fährten
geschaffen, daß er uns auch weiter helfen wird. Möge doch der ganze
geistige Ballast abgeschüttelt und die Schätzung des Altertums in jene Schranken
gewiesen werden, die durch inzwischen verflossene Jahrhunderte und Jahr¬
tausende errichtet wurdenl Luft und Raum soll werden für eine neue Geistes¬
strömung und eine neue Kunst, die der Seele der jetzt lebenden Menschheit
und den Zielen und Wünschen einer neuen Nation gemäß sind!




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[0297] Modernes Hellenentmn wurden nicht ernstgenommen. Schließlich errang dann Christomanos mit einigen Kochonerien den ersehnten finanziellen Erfolg, der aber den Verfall des Ganzen eher beschleunigte als aufhielt. Das jetzige Theaterleben besteht ausschließlich in einem lächerlichen und erbitterten Kampfe der Epigonen beider Bühnen. Spielen die einen ein aus dem Zolaschen Roman grob zurechtgezimmertes Theaterstück „Nana", so spielen es die anderen auch und sogar am selben Abend. Das Theater ist verwahrlost, das geistige Leben liegt brach. An das Ruder der Regierung kam ein Mann, der von der Bedeutung der nationalen Kunst und von der Notwendigkeit eines nationalen Theaters durchdrungen war. Ich meine Venizelos, unseren großen Premierminister. Als er mit dieser seiner Herzenssache vor das Parlament trat, da begegnete er einem derartig wütenden Widerstande, daß er sich selbst in höchster Gefahr sah. Wieder mußten Kunst und Geist vor dem Gespenst einer toten Überlieferung verstummen. Trotzdem haben wir alle, die wir nicht nur an ein totes, sondern an ein zukunftsreiches Leben Griechenlands glauben, nie die Hoffnung aufgegeben, daß uns gerade dieser Mann einmal die Morgenröte einer neuen besseren Zeit herausführen wird. Er hat politisch mit so vielen alten Vorurteilen glücklich aufgeräumt und dafür so viele neue, allen klar vor Augen liegende Fährten geschaffen, daß er uns auch weiter helfen wird. Möge doch der ganze geistige Ballast abgeschüttelt und die Schätzung des Altertums in jene Schranken gewiesen werden, die durch inzwischen verflossene Jahrhunderte und Jahr¬ tausende errichtet wurdenl Luft und Raum soll werden für eine neue Geistes¬ strömung und eine neue Kunst, die der Seele der jetzt lebenden Menschheit und den Zielen und Wünschen einer neuen Nation gemäß sind!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/297>, abgerufen am 29.12.2024.