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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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England im Mittelmeer

sich im Bunde mit Frankreich in einem Kriege mit dem Dreibund befände. In
einem solchen Falle müßte England seine gesamten Streitkräfte in der Nordsee zu¬
sammenziehen, bis dort die Entscheidung gefallen wäre. Es ist allerdings an¬
zunehmen, daß die italienische und die österreichische Flotte zusammen in ab¬
sehbarer Zeit der französischen überlegen sein werden. Aber erstlich könnten
die italienische und österreichische Flotte das Mittelmeer nicht verlassen, ehe sie
nicht die französische Flotte kampfunfähig gemacht hätten. Und in keinem Fall
wären Österreich und Italien zur See stark genug, daß sie selbst nach der
Überwindung der französischen Flotte daran denken könnten, zugleich ihre
maritime Position im Mittelmeer zu behaupten, und überdies so weit von ihrer
natürlichen Basis, im Indischen Ozean, die Verbindungslinien des britischen
Reiches zu unterbrechen. Östlich von Suez ist England gegenwärtig jeder Kom¬
bination europäischer Mächte zur See überlegen, und wenn es die allerdings
ziemlich weit verstreuten Kriegsschiffe seiner östlichen Stationen sammelte, so
wäre an eine Bedrohung seiner strategischen Verbindungen mit Indien und
Australien gar nicht zu denken. Und wenn man einen Krieg Englands mit
Rußland annehmen will und sich Rußland im Besitz einer starken Schwarzmeer¬
flotte vorstellt, so könnte ihr England den Weg nach dem Indischen Ozean
unschwer versperren. Nämlich erstens durch seine Untersee- und Torpedoboote
in Verbindung mit Seculum und einigen leichten Küstenbatterien am Eingang
des Kanals bei Alexandria; und zweitens, an seinem Ausgang im Roten Meer,
durch die Kampfschisie seiner Stationen im Osten.

Alle Seeleute stimmen darin überein, daß die wichtigste strategische Regel
die Konzentrierung aller verfügbaren Streitkräfte auf dem Hauptkriegsschauplatz
ist. Wenn dort die Entscheidung gefallen ist, kann der Sieger leicht seine See¬
herrschaft auf den Nebenschauplätzen erkämpfen. Für England liegt das ganze
Problem in der allgemeinen Überlegenheit seiner Flotte und nicht in seiner
Überlegenheit in bestimmten Gewässern. Die potentielle Allgegenwärtigkeit seiner
Flotte erlaubt England, im Kriege das Mittelmeer ganz zu räumen oder sich
dort durch verhältnismäßig geringe Streitkräfte vertreten zu lassen. Von dieser
Kriegsstrategie unterscheidet sich nun allerdings die strategische Politik, die Eng¬
land im Frieden im Mittelmeer verfolgt. Aber für eine Friedensstrategie, die
die Kriegsstrategie im Auge behält, hat gerade Gibraltar eine außerordentlich
günstige Lage. Eine Flotte, die sich auf Gibraltar stützt, kann sich je nach
Bedarf nach dem Mittelmeer und der Nordsee begeben; und man darf dabei
nicht die größere Schnelligkeit der modernen Kriegsschiffe und die Beschleunigung
des Nachrichtendienstes durch die drahtlose Telegraphie außer acht lassen.

Im Frieden denkt England gewiß nicht daran, das Mittelmeer von Kriegs¬
schiffen ganz zu entblößen. Englands Interesse, seine Kriegsflagge in Friedenszeiten
im Mittelmeer zu zeigen, ist vornehmlich ein Interesse des politischen Prestiges.
In Indien, in Ägypten und im nahen Osten würde das Verschwinden der
englischen Flagge oder eine dauernde wesentliche Verringerung der Mittelmeer-


England im Mittelmeer

sich im Bunde mit Frankreich in einem Kriege mit dem Dreibund befände. In
einem solchen Falle müßte England seine gesamten Streitkräfte in der Nordsee zu¬
sammenziehen, bis dort die Entscheidung gefallen wäre. Es ist allerdings an¬
zunehmen, daß die italienische und die österreichische Flotte zusammen in ab¬
sehbarer Zeit der französischen überlegen sein werden. Aber erstlich könnten
die italienische und österreichische Flotte das Mittelmeer nicht verlassen, ehe sie
nicht die französische Flotte kampfunfähig gemacht hätten. Und in keinem Fall
wären Österreich und Italien zur See stark genug, daß sie selbst nach der
Überwindung der französischen Flotte daran denken könnten, zugleich ihre
maritime Position im Mittelmeer zu behaupten, und überdies so weit von ihrer
natürlichen Basis, im Indischen Ozean, die Verbindungslinien des britischen
Reiches zu unterbrechen. Östlich von Suez ist England gegenwärtig jeder Kom¬
bination europäischer Mächte zur See überlegen, und wenn es die allerdings
ziemlich weit verstreuten Kriegsschiffe seiner östlichen Stationen sammelte, so
wäre an eine Bedrohung seiner strategischen Verbindungen mit Indien und
Australien gar nicht zu denken. Und wenn man einen Krieg Englands mit
Rußland annehmen will und sich Rußland im Besitz einer starken Schwarzmeer¬
flotte vorstellt, so könnte ihr England den Weg nach dem Indischen Ozean
unschwer versperren. Nämlich erstens durch seine Untersee- und Torpedoboote
in Verbindung mit Seculum und einigen leichten Küstenbatterien am Eingang
des Kanals bei Alexandria; und zweitens, an seinem Ausgang im Roten Meer,
durch die Kampfschisie seiner Stationen im Osten.

Alle Seeleute stimmen darin überein, daß die wichtigste strategische Regel
die Konzentrierung aller verfügbaren Streitkräfte auf dem Hauptkriegsschauplatz
ist. Wenn dort die Entscheidung gefallen ist, kann der Sieger leicht seine See¬
herrschaft auf den Nebenschauplätzen erkämpfen. Für England liegt das ganze
Problem in der allgemeinen Überlegenheit seiner Flotte und nicht in seiner
Überlegenheit in bestimmten Gewässern. Die potentielle Allgegenwärtigkeit seiner
Flotte erlaubt England, im Kriege das Mittelmeer ganz zu räumen oder sich
dort durch verhältnismäßig geringe Streitkräfte vertreten zu lassen. Von dieser
Kriegsstrategie unterscheidet sich nun allerdings die strategische Politik, die Eng¬
land im Frieden im Mittelmeer verfolgt. Aber für eine Friedensstrategie, die
die Kriegsstrategie im Auge behält, hat gerade Gibraltar eine außerordentlich
günstige Lage. Eine Flotte, die sich auf Gibraltar stützt, kann sich je nach
Bedarf nach dem Mittelmeer und der Nordsee begeben; und man darf dabei
nicht die größere Schnelligkeit der modernen Kriegsschiffe und die Beschleunigung
des Nachrichtendienstes durch die drahtlose Telegraphie außer acht lassen.

Im Frieden denkt England gewiß nicht daran, das Mittelmeer von Kriegs¬
schiffen ganz zu entblößen. Englands Interesse, seine Kriegsflagge in Friedenszeiten
im Mittelmeer zu zeigen, ist vornehmlich ein Interesse des politischen Prestiges.
In Indien, in Ägypten und im nahen Osten würde das Verschwinden der
englischen Flagge oder eine dauernde wesentliche Verringerung der Mittelmeer-


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[0282] England im Mittelmeer sich im Bunde mit Frankreich in einem Kriege mit dem Dreibund befände. In einem solchen Falle müßte England seine gesamten Streitkräfte in der Nordsee zu¬ sammenziehen, bis dort die Entscheidung gefallen wäre. Es ist allerdings an¬ zunehmen, daß die italienische und die österreichische Flotte zusammen in ab¬ sehbarer Zeit der französischen überlegen sein werden. Aber erstlich könnten die italienische und österreichische Flotte das Mittelmeer nicht verlassen, ehe sie nicht die französische Flotte kampfunfähig gemacht hätten. Und in keinem Fall wären Österreich und Italien zur See stark genug, daß sie selbst nach der Überwindung der französischen Flotte daran denken könnten, zugleich ihre maritime Position im Mittelmeer zu behaupten, und überdies so weit von ihrer natürlichen Basis, im Indischen Ozean, die Verbindungslinien des britischen Reiches zu unterbrechen. Östlich von Suez ist England gegenwärtig jeder Kom¬ bination europäischer Mächte zur See überlegen, und wenn es die allerdings ziemlich weit verstreuten Kriegsschiffe seiner östlichen Stationen sammelte, so wäre an eine Bedrohung seiner strategischen Verbindungen mit Indien und Australien gar nicht zu denken. Und wenn man einen Krieg Englands mit Rußland annehmen will und sich Rußland im Besitz einer starken Schwarzmeer¬ flotte vorstellt, so könnte ihr England den Weg nach dem Indischen Ozean unschwer versperren. Nämlich erstens durch seine Untersee- und Torpedoboote in Verbindung mit Seculum und einigen leichten Küstenbatterien am Eingang des Kanals bei Alexandria; und zweitens, an seinem Ausgang im Roten Meer, durch die Kampfschisie seiner Stationen im Osten. Alle Seeleute stimmen darin überein, daß die wichtigste strategische Regel die Konzentrierung aller verfügbaren Streitkräfte auf dem Hauptkriegsschauplatz ist. Wenn dort die Entscheidung gefallen ist, kann der Sieger leicht seine See¬ herrschaft auf den Nebenschauplätzen erkämpfen. Für England liegt das ganze Problem in der allgemeinen Überlegenheit seiner Flotte und nicht in seiner Überlegenheit in bestimmten Gewässern. Die potentielle Allgegenwärtigkeit seiner Flotte erlaubt England, im Kriege das Mittelmeer ganz zu räumen oder sich dort durch verhältnismäßig geringe Streitkräfte vertreten zu lassen. Von dieser Kriegsstrategie unterscheidet sich nun allerdings die strategische Politik, die Eng¬ land im Frieden im Mittelmeer verfolgt. Aber für eine Friedensstrategie, die die Kriegsstrategie im Auge behält, hat gerade Gibraltar eine außerordentlich günstige Lage. Eine Flotte, die sich auf Gibraltar stützt, kann sich je nach Bedarf nach dem Mittelmeer und der Nordsee begeben; und man darf dabei nicht die größere Schnelligkeit der modernen Kriegsschiffe und die Beschleunigung des Nachrichtendienstes durch die drahtlose Telegraphie außer acht lassen. Im Frieden denkt England gewiß nicht daran, das Mittelmeer von Kriegs¬ schiffen ganz zu entblößen. Englands Interesse, seine Kriegsflagge in Friedenszeiten im Mittelmeer zu zeigen, ist vornehmlich ein Interesse des politischen Prestiges. In Indien, in Ägypten und im nahen Osten würde das Verschwinden der englischen Flagge oder eine dauernde wesentliche Verringerung der Mittelmeer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/282>, abgerufen am 04.01.2025.