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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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England im Mittelmeer

Nach 1815 verfolgte England die negative Politik, Änderungen in dem
Status quo des Mittelmeergebietes zu verhindern. Als die Franzosen Algier
nahmen, erhob es dagegen Einspruch, Die Vorschläge Nikolaus' des Ersten und
Napoleons des Dritten, Ägypten zu nehmen, lehnte es ab. Es bekämpfte den Bau
des Suezkanals, der aus dem Mittelmeer eine Seestraße nach dem Osten machen
sollte. Aber England brach mit seiner Mittelmeerpolitik des Status quo im Russisch-
Türkischen Kriege, als es sich von der Türkei Cypern geben ließ, um von dieser
Basis aus dem befürchteten Vordringen Rußlands in Westasien entgegentreten
zu können. Nach der Besetzung Cyperns waren weitere Veränderungen in
dem Territorialbesitz Nordafrikas nicht mehr aufzuhalten, und England verfolgte
seitdem eine Politik des Gleichgewichts. Als Kompensation für Cypern ließ es
den Franzosen freie Hand in Tunis; aber um ein Gegengewicht gegen diese
Vergrößerung des französischen Machtbereiches zu schaffen, dachte Lord Salisbury
schon damals Tripolis den Italienern zu. Dieselbe Politik des Gleichgewichts
verfolgte England in Marokko, und es hat durchgesetzt, daß die ganze marokka¬
nische Mittelmeerküste von dem französischen Protektorat ausgeschaltet wurde
und an Spanien fiel. Ägypten hat England selbst besetzt. Aber es folgte
dabei keinem vorbedachten Plan. Das Kabinett Gladstone ließ sich sehr wider
seinen Willen in das Unternehmen hineintreiben; es hatte durchaus gewünscht,
an dem englisch-französischen Kondominium festzuhalten, und als die Franzosen
infolge eines Regierungswechsels davon zurücktraten, suchte es die Unterstützung
Italiens zu gewinnen. Noch im Jahre 1887 war England zur Räumung
Ägyptens bereit, und es war im wesentlichen die feindselige Haltung Frank¬
reichs, die es daran gehindert hat.

Durch den Bau des Suezkanals gewann das Mittelmeer natürlich für
England wie für die ganze Welt eine ganz neue Bedeutung. Es ist heute die
kürzeste Seeoerbindung zwischen Europa und dem Osten; es ist für England
der Weg nach Ägypten, Indien, Australien und Ostasien. Zugleich bezieht Eng¬
land einen großen Teil seiner wichtigsten Bedarfsartikel, namentlich auch Nahrungs¬
mittel auf diesem Wege, die teils durch den Suezkanal, teils aus den Schwarz¬
meerhäfen Rußlands und Rumäniens kommen. Diese doppelte Bedeutung der
Mittelmeerroute erklärt es, wenn die öffentliche Meinung in England sich stets bei
dem Gedanken erregt, daß die Mittelmeerflotte nicht stark genug sein könnte,
den Mittelmeerhandel im Kriegsfall zu schützen. Die Konzentrierung der eng¬
lischen Seemacht in der Nordsee, die 1904 begann und seitdem immer stärker
betont wurde, hat natürlich auch eine Schwächung des englischen Mittel-
meergeschwaders zur Folge gehabt. Mr. Churchill beabsichtigte nach seiner Etats-
rede vom 18. März 1912, die Mittelmeerflotte oder wenigstens deren große
Schlachtschiffe von Malta nach Gibraltar zu verlegen. Als aber die Schiffe
tatsächlich Befehl erhielten, das Mittelmeer zu verlassen, entstand eine so leb¬
hafte Agitation dagegen, daß Mr. Churchill seinen Plan änderte. Im Juli 1912
kündigte er an, daß, wie ursprünglich beschlossen, das neue vierte Geschwader


England im Mittelmeer

Nach 1815 verfolgte England die negative Politik, Änderungen in dem
Status quo des Mittelmeergebietes zu verhindern. Als die Franzosen Algier
nahmen, erhob es dagegen Einspruch, Die Vorschläge Nikolaus' des Ersten und
Napoleons des Dritten, Ägypten zu nehmen, lehnte es ab. Es bekämpfte den Bau
des Suezkanals, der aus dem Mittelmeer eine Seestraße nach dem Osten machen
sollte. Aber England brach mit seiner Mittelmeerpolitik des Status quo im Russisch-
Türkischen Kriege, als es sich von der Türkei Cypern geben ließ, um von dieser
Basis aus dem befürchteten Vordringen Rußlands in Westasien entgegentreten
zu können. Nach der Besetzung Cyperns waren weitere Veränderungen in
dem Territorialbesitz Nordafrikas nicht mehr aufzuhalten, und England verfolgte
seitdem eine Politik des Gleichgewichts. Als Kompensation für Cypern ließ es
den Franzosen freie Hand in Tunis; aber um ein Gegengewicht gegen diese
Vergrößerung des französischen Machtbereiches zu schaffen, dachte Lord Salisbury
schon damals Tripolis den Italienern zu. Dieselbe Politik des Gleichgewichts
verfolgte England in Marokko, und es hat durchgesetzt, daß die ganze marokka¬
nische Mittelmeerküste von dem französischen Protektorat ausgeschaltet wurde
und an Spanien fiel. Ägypten hat England selbst besetzt. Aber es folgte
dabei keinem vorbedachten Plan. Das Kabinett Gladstone ließ sich sehr wider
seinen Willen in das Unternehmen hineintreiben; es hatte durchaus gewünscht,
an dem englisch-französischen Kondominium festzuhalten, und als die Franzosen
infolge eines Regierungswechsels davon zurücktraten, suchte es die Unterstützung
Italiens zu gewinnen. Noch im Jahre 1887 war England zur Räumung
Ägyptens bereit, und es war im wesentlichen die feindselige Haltung Frank¬
reichs, die es daran gehindert hat.

Durch den Bau des Suezkanals gewann das Mittelmeer natürlich für
England wie für die ganze Welt eine ganz neue Bedeutung. Es ist heute die
kürzeste Seeoerbindung zwischen Europa und dem Osten; es ist für England
der Weg nach Ägypten, Indien, Australien und Ostasien. Zugleich bezieht Eng¬
land einen großen Teil seiner wichtigsten Bedarfsartikel, namentlich auch Nahrungs¬
mittel auf diesem Wege, die teils durch den Suezkanal, teils aus den Schwarz¬
meerhäfen Rußlands und Rumäniens kommen. Diese doppelte Bedeutung der
Mittelmeerroute erklärt es, wenn die öffentliche Meinung in England sich stets bei
dem Gedanken erregt, daß die Mittelmeerflotte nicht stark genug sein könnte,
den Mittelmeerhandel im Kriegsfall zu schützen. Die Konzentrierung der eng¬
lischen Seemacht in der Nordsee, die 1904 begann und seitdem immer stärker
betont wurde, hat natürlich auch eine Schwächung des englischen Mittel-
meergeschwaders zur Folge gehabt. Mr. Churchill beabsichtigte nach seiner Etats-
rede vom 18. März 1912, die Mittelmeerflotte oder wenigstens deren große
Schlachtschiffe von Malta nach Gibraltar zu verlegen. Als aber die Schiffe
tatsächlich Befehl erhielten, das Mittelmeer zu verlassen, entstand eine so leb¬
hafte Agitation dagegen, daß Mr. Churchill seinen Plan änderte. Im Juli 1912
kündigte er an, daß, wie ursprünglich beschlossen, das neue vierte Geschwader


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[0279] England im Mittelmeer Nach 1815 verfolgte England die negative Politik, Änderungen in dem Status quo des Mittelmeergebietes zu verhindern. Als die Franzosen Algier nahmen, erhob es dagegen Einspruch, Die Vorschläge Nikolaus' des Ersten und Napoleons des Dritten, Ägypten zu nehmen, lehnte es ab. Es bekämpfte den Bau des Suezkanals, der aus dem Mittelmeer eine Seestraße nach dem Osten machen sollte. Aber England brach mit seiner Mittelmeerpolitik des Status quo im Russisch- Türkischen Kriege, als es sich von der Türkei Cypern geben ließ, um von dieser Basis aus dem befürchteten Vordringen Rußlands in Westasien entgegentreten zu können. Nach der Besetzung Cyperns waren weitere Veränderungen in dem Territorialbesitz Nordafrikas nicht mehr aufzuhalten, und England verfolgte seitdem eine Politik des Gleichgewichts. Als Kompensation für Cypern ließ es den Franzosen freie Hand in Tunis; aber um ein Gegengewicht gegen diese Vergrößerung des französischen Machtbereiches zu schaffen, dachte Lord Salisbury schon damals Tripolis den Italienern zu. Dieselbe Politik des Gleichgewichts verfolgte England in Marokko, und es hat durchgesetzt, daß die ganze marokka¬ nische Mittelmeerküste von dem französischen Protektorat ausgeschaltet wurde und an Spanien fiel. Ägypten hat England selbst besetzt. Aber es folgte dabei keinem vorbedachten Plan. Das Kabinett Gladstone ließ sich sehr wider seinen Willen in das Unternehmen hineintreiben; es hatte durchaus gewünscht, an dem englisch-französischen Kondominium festzuhalten, und als die Franzosen infolge eines Regierungswechsels davon zurücktraten, suchte es die Unterstützung Italiens zu gewinnen. Noch im Jahre 1887 war England zur Räumung Ägyptens bereit, und es war im wesentlichen die feindselige Haltung Frank¬ reichs, die es daran gehindert hat. Durch den Bau des Suezkanals gewann das Mittelmeer natürlich für England wie für die ganze Welt eine ganz neue Bedeutung. Es ist heute die kürzeste Seeoerbindung zwischen Europa und dem Osten; es ist für England der Weg nach Ägypten, Indien, Australien und Ostasien. Zugleich bezieht Eng¬ land einen großen Teil seiner wichtigsten Bedarfsartikel, namentlich auch Nahrungs¬ mittel auf diesem Wege, die teils durch den Suezkanal, teils aus den Schwarz¬ meerhäfen Rußlands und Rumäniens kommen. Diese doppelte Bedeutung der Mittelmeerroute erklärt es, wenn die öffentliche Meinung in England sich stets bei dem Gedanken erregt, daß die Mittelmeerflotte nicht stark genug sein könnte, den Mittelmeerhandel im Kriegsfall zu schützen. Die Konzentrierung der eng¬ lischen Seemacht in der Nordsee, die 1904 begann und seitdem immer stärker betont wurde, hat natürlich auch eine Schwächung des englischen Mittel- meergeschwaders zur Folge gehabt. Mr. Churchill beabsichtigte nach seiner Etats- rede vom 18. März 1912, die Mittelmeerflotte oder wenigstens deren große Schlachtschiffe von Malta nach Gibraltar zu verlegen. Als aber die Schiffe tatsächlich Befehl erhielten, das Mittelmeer zu verlassen, entstand eine so leb¬ hafte Agitation dagegen, daß Mr. Churchill seinen Plan änderte. Im Juli 1912 kündigte er an, daß, wie ursprünglich beschlossen, das neue vierte Geschwader

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/279>, abgerufen am 04.01.2025.