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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Vater
Dr, Mi. Rudolf Glaser von

is im Jahre 1908 in fast allen Zeitungen und Zeitschriften
Deutschlands der Mutter Goethes anläßlich ihres hundertsten
Todestages gedacht wurde, war es nicht uninteressant, in diesen
Berichten die Urteile zu vergleichen über eine Person, die im
Leben der Frau Aja von der größten Bedeutung war, über den
kaiserlichen Rat Johann Kaspar Goethe. Sie waren sich häufig widersprechend.
Die Münchener Jugend z. B. nannte ihn sympathisch, die Berliner Tägliche
Rundschau unsympathisch. Diese Widersprüche berühren um so eigentümlicher, als
in Goethes "Dichtung und Wahrheit", welches Werk fast als einzige Quelle für
die Gestalt des Vaters dient, der Charakter des Rates festgelegt ist.

Goethe schildert ihn als einen vielseitig gebildeten, ehrgeizigen, pedantisch¬
ernsten Mann von ausgeprägter Selbstzucht, die ihn dazu verleitete, die hohen
Forderungen, die er an sich selbst stellte, auch an andere zu stellen. Dadurch
natürlich mußte er in Konflikt mit seiner Umgebung kommen.

Bei aller Trockenheit hatte er eine offene Hand für Kunst und Künstler.
Außerdem wandte er alles auf, um seinen Kindern die beste Erziehung und
Ausbildung zu geben. Jedoch entschloß er sich erst zu diesen Ausgaben, wenn
er einen dauernden Gewinn für sich und die Seinen aus ihnen fließen sah.

Freilich sind die Einzelzüge, die Goethe berichtet, über die zahlreichen
Kapitel von "Dichtung und Wahrheit" zerstreut, so daß sie weniger als
Gesamtbild auf den Leser wirken und natürlich vor dem Interesse für den
Dichter in den Hintergrund treten. Vergleicht man aber mit dem aus "Dichtung
und Wahrheit" gewonnenen Eindruck die Schilderungen einiger Biographen,
z. B. Heinemanns in seinem Werke "Goethes Mutter", so findet man, daß sich
beide nicht ganz decken. Man kann Heinemann den Vorwurf nicht ersparen,
den Charakter von Goethes Vater vorurteilsvoll beschrieben zu haben. Zwar
sucht er seine guten Eigenschaften anzuerkennen, verdunkelt sie aber sofort wieder
durch Betonung seiner Schwächen und Eigenarten so sehr, daß der Leser mit
Bedauern für Gattin und Kinder erfüllt wird. So ganz unglücklich kann aber
Frau Aja nicht gewesen sein, sonst hätte sie sich ihre köstliche Frische und den




Goethes Vater
Dr, Mi. Rudolf Glaser von

is im Jahre 1908 in fast allen Zeitungen und Zeitschriften
Deutschlands der Mutter Goethes anläßlich ihres hundertsten
Todestages gedacht wurde, war es nicht uninteressant, in diesen
Berichten die Urteile zu vergleichen über eine Person, die im
Leben der Frau Aja von der größten Bedeutung war, über den
kaiserlichen Rat Johann Kaspar Goethe. Sie waren sich häufig widersprechend.
Die Münchener Jugend z. B. nannte ihn sympathisch, die Berliner Tägliche
Rundschau unsympathisch. Diese Widersprüche berühren um so eigentümlicher, als
in Goethes „Dichtung und Wahrheit", welches Werk fast als einzige Quelle für
die Gestalt des Vaters dient, der Charakter des Rates festgelegt ist.

Goethe schildert ihn als einen vielseitig gebildeten, ehrgeizigen, pedantisch¬
ernsten Mann von ausgeprägter Selbstzucht, die ihn dazu verleitete, die hohen
Forderungen, die er an sich selbst stellte, auch an andere zu stellen. Dadurch
natürlich mußte er in Konflikt mit seiner Umgebung kommen.

Bei aller Trockenheit hatte er eine offene Hand für Kunst und Künstler.
Außerdem wandte er alles auf, um seinen Kindern die beste Erziehung und
Ausbildung zu geben. Jedoch entschloß er sich erst zu diesen Ausgaben, wenn
er einen dauernden Gewinn für sich und die Seinen aus ihnen fließen sah.

Freilich sind die Einzelzüge, die Goethe berichtet, über die zahlreichen
Kapitel von „Dichtung und Wahrheit" zerstreut, so daß sie weniger als
Gesamtbild auf den Leser wirken und natürlich vor dem Interesse für den
Dichter in den Hintergrund treten. Vergleicht man aber mit dem aus „Dichtung
und Wahrheit" gewonnenen Eindruck die Schilderungen einiger Biographen,
z. B. Heinemanns in seinem Werke „Goethes Mutter", so findet man, daß sich
beide nicht ganz decken. Man kann Heinemann den Vorwurf nicht ersparen,
den Charakter von Goethes Vater vorurteilsvoll beschrieben zu haben. Zwar
sucht er seine guten Eigenschaften anzuerkennen, verdunkelt sie aber sofort wieder
durch Betonung seiner Schwächen und Eigenarten so sehr, daß der Leser mit
Bedauern für Gattin und Kinder erfüllt wird. So ganz unglücklich kann aber
Frau Aja nicht gewesen sein, sonst hätte sie sich ihre köstliche Frische und den


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[0259] [Abbildung] Goethes Vater Dr, Mi. Rudolf Glaser von is im Jahre 1908 in fast allen Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands der Mutter Goethes anläßlich ihres hundertsten Todestages gedacht wurde, war es nicht uninteressant, in diesen Berichten die Urteile zu vergleichen über eine Person, die im Leben der Frau Aja von der größten Bedeutung war, über den kaiserlichen Rat Johann Kaspar Goethe. Sie waren sich häufig widersprechend. Die Münchener Jugend z. B. nannte ihn sympathisch, die Berliner Tägliche Rundschau unsympathisch. Diese Widersprüche berühren um so eigentümlicher, als in Goethes „Dichtung und Wahrheit", welches Werk fast als einzige Quelle für die Gestalt des Vaters dient, der Charakter des Rates festgelegt ist. Goethe schildert ihn als einen vielseitig gebildeten, ehrgeizigen, pedantisch¬ ernsten Mann von ausgeprägter Selbstzucht, die ihn dazu verleitete, die hohen Forderungen, die er an sich selbst stellte, auch an andere zu stellen. Dadurch natürlich mußte er in Konflikt mit seiner Umgebung kommen. Bei aller Trockenheit hatte er eine offene Hand für Kunst und Künstler. Außerdem wandte er alles auf, um seinen Kindern die beste Erziehung und Ausbildung zu geben. Jedoch entschloß er sich erst zu diesen Ausgaben, wenn er einen dauernden Gewinn für sich und die Seinen aus ihnen fließen sah. Freilich sind die Einzelzüge, die Goethe berichtet, über die zahlreichen Kapitel von „Dichtung und Wahrheit" zerstreut, so daß sie weniger als Gesamtbild auf den Leser wirken und natürlich vor dem Interesse für den Dichter in den Hintergrund treten. Vergleicht man aber mit dem aus „Dichtung und Wahrheit" gewonnenen Eindruck die Schilderungen einiger Biographen, z. B. Heinemanns in seinem Werke „Goethes Mutter", so findet man, daß sich beide nicht ganz decken. Man kann Heinemann den Vorwurf nicht ersparen, den Charakter von Goethes Vater vorurteilsvoll beschrieben zu haben. Zwar sucht er seine guten Eigenschaften anzuerkennen, verdunkelt sie aber sofort wieder durch Betonung seiner Schwächen und Eigenarten so sehr, daß der Leser mit Bedauern für Gattin und Kinder erfüllt wird. So ganz unglücklich kann aber Frau Aja nicht gewesen sein, sonst hätte sie sich ihre köstliche Frische und den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/259>, abgerufen am 29.12.2024.