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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Für Indien den PreisI

Instinkten, Empfindungen, halbwachen Gefühlen und Gedanken tritt erst im
Lauf einer längeren Entwicklung als Religion und Philosophie, als Ethik, Kunst
und Wissenschaft auseinander. Von der unbewußten und ungeschiedenen Einheit
des Elementarmenschen führt der Weg über die Entfaltung zu geschiedenen
Geistesbereichen einer neuen bewußten Einheit entgegen, in der eben jene Mächte
zu reifem, hohem Leben frei gebunden sind. Nur diese letzte Stufe der Ent¬
wicklung ist es, die mit voller Berechtigung "Kultur" genannt werden darf. Sie
ist, bedingt wie alles Menschliche, ein Ideal. Es muß genügen, jede Kultur
nach der größten Annäherung an das Ideal zu messen, und nach solchem Ma߬
stab kennt die uns bisher erschlossene Geschichte nur zwei Kulturen ersten Grades:
die hellenische und die altindische.

Will die altindische Kultur recht verstanden und gewürdigt sein, so nutz
von vornherein die bezeichnete reifste Einheit als ihr Grundcharakter festgehalten
werden. Von nicht bestimmbarer Vorzeit bis etwa auf das Jahr 500 v. Chr. ist die
einzige Quelle, aus der wir die Kenntnis dieser Kultur schöpfen, der Veda --
bekanntlich kein einzelnes Buch, sondern ein großer Schriftenkomplex, der, an
Umfang wohl mehr als sechsmal die Bibel übertreffend, das gesamte Wissen
(-^ Veda) jener Vergangenheit umfaßt. Der orthodoxe Inder schreibt dieser
Sammlung übermenschlichen Ursprung und göttliche Autorität zu; ihre Form
ist vorwiegend poetisch und sie zerfällt in vier Abteilungen, die zunächst als
Handbücher der brahmanischen Priester zu denken sind, "welche diesen das zum
Opferkultus erforderliche Material an Hymnen und Sprüchen an die Hand geben,
sowie den rechten Gebrauch desselben lehren sollen". Bei jedem der vier Veden
sind drei verschiedene Untergattungen zu unterscheiden, je nachdem ihr Inhalt
eine Sammlung von Versen, Gesängen, Opfersprüchcn (Samhita), ferner deren
Erklärung und Deutung (Brahmanam), endlich einen kurzen Leitfaden, die
gedrängte Zusammenfassung des Brahmanam (Sutram) darstellt. Für die
Kenntnis der indischen Philosophie sind begreiflicherweise die der Erklärung
und Deutung dienenden Brahmanas am wichtigsten, und von ihnen wiederum
am bedeutsamsten sind ihre Nachträge, da sich in ihnen vielfach eine "wunder¬
same Vergeistigung des Opferkults" findet: "an die Stelle der praktischen
Ausführung der Zeremonie tritt die Meditation über dieselbe und mit ihr
eine symbolische Umdeutung, welche dann weiter zu den erhabensten Gedanken
hinüberleitet." Die wertvollsten Stücke der Nachträge wurden später unter
dem Namen Upanishad Geheimsinn. Geheimlehre) aus ihnen herausgehoben
und zu einem Ganzen zusammengefaßt. Die Upanishads bilden somit die
reifste Frucht des Vedabaumes. Es ist das unvergängliche Verdienst von
Paul Deussen. daß uns Entwicklung und Gehalt der Upanishadphilosophie
erschlossen wurde, sowohl durch seine für alle Zukunft grundlegende Darstellung
^in seiner "Allgemeinen Geschichte der Philosophie", als durch die monumentale
Übertragung von "Sechzig Upanishads des Veda". Das Wort Geheimlehre
deutet schon an, daß es sich in den Upanishads um einen Kern handelt, eine


Für Indien den PreisI

Instinkten, Empfindungen, halbwachen Gefühlen und Gedanken tritt erst im
Lauf einer längeren Entwicklung als Religion und Philosophie, als Ethik, Kunst
und Wissenschaft auseinander. Von der unbewußten und ungeschiedenen Einheit
des Elementarmenschen führt der Weg über die Entfaltung zu geschiedenen
Geistesbereichen einer neuen bewußten Einheit entgegen, in der eben jene Mächte
zu reifem, hohem Leben frei gebunden sind. Nur diese letzte Stufe der Ent¬
wicklung ist es, die mit voller Berechtigung „Kultur" genannt werden darf. Sie
ist, bedingt wie alles Menschliche, ein Ideal. Es muß genügen, jede Kultur
nach der größten Annäherung an das Ideal zu messen, und nach solchem Ma߬
stab kennt die uns bisher erschlossene Geschichte nur zwei Kulturen ersten Grades:
die hellenische und die altindische.

Will die altindische Kultur recht verstanden und gewürdigt sein, so nutz
von vornherein die bezeichnete reifste Einheit als ihr Grundcharakter festgehalten
werden. Von nicht bestimmbarer Vorzeit bis etwa auf das Jahr 500 v. Chr. ist die
einzige Quelle, aus der wir die Kenntnis dieser Kultur schöpfen, der Veda —
bekanntlich kein einzelnes Buch, sondern ein großer Schriftenkomplex, der, an
Umfang wohl mehr als sechsmal die Bibel übertreffend, das gesamte Wissen
(-^ Veda) jener Vergangenheit umfaßt. Der orthodoxe Inder schreibt dieser
Sammlung übermenschlichen Ursprung und göttliche Autorität zu; ihre Form
ist vorwiegend poetisch und sie zerfällt in vier Abteilungen, die zunächst als
Handbücher der brahmanischen Priester zu denken sind, „welche diesen das zum
Opferkultus erforderliche Material an Hymnen und Sprüchen an die Hand geben,
sowie den rechten Gebrauch desselben lehren sollen". Bei jedem der vier Veden
sind drei verschiedene Untergattungen zu unterscheiden, je nachdem ihr Inhalt
eine Sammlung von Versen, Gesängen, Opfersprüchcn (Samhita), ferner deren
Erklärung und Deutung (Brahmanam), endlich einen kurzen Leitfaden, die
gedrängte Zusammenfassung des Brahmanam (Sutram) darstellt. Für die
Kenntnis der indischen Philosophie sind begreiflicherweise die der Erklärung
und Deutung dienenden Brahmanas am wichtigsten, und von ihnen wiederum
am bedeutsamsten sind ihre Nachträge, da sich in ihnen vielfach eine „wunder¬
same Vergeistigung des Opferkults" findet: „an die Stelle der praktischen
Ausführung der Zeremonie tritt die Meditation über dieselbe und mit ihr
eine symbolische Umdeutung, welche dann weiter zu den erhabensten Gedanken
hinüberleitet." Die wertvollsten Stücke der Nachträge wurden später unter
dem Namen Upanishad Geheimsinn. Geheimlehre) aus ihnen herausgehoben
und zu einem Ganzen zusammengefaßt. Die Upanishads bilden somit die
reifste Frucht des Vedabaumes. Es ist das unvergängliche Verdienst von
Paul Deussen. daß uns Entwicklung und Gehalt der Upanishadphilosophie
erschlossen wurde, sowohl durch seine für alle Zukunft grundlegende Darstellung
^in seiner „Allgemeinen Geschichte der Philosophie", als durch die monumentale
Übertragung von „Sechzig Upanishads des Veda". Das Wort Geheimlehre
deutet schon an, daß es sich in den Upanishads um einen Kern handelt, eine


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[0023] Für Indien den PreisI Instinkten, Empfindungen, halbwachen Gefühlen und Gedanken tritt erst im Lauf einer längeren Entwicklung als Religion und Philosophie, als Ethik, Kunst und Wissenschaft auseinander. Von der unbewußten und ungeschiedenen Einheit des Elementarmenschen führt der Weg über die Entfaltung zu geschiedenen Geistesbereichen einer neuen bewußten Einheit entgegen, in der eben jene Mächte zu reifem, hohem Leben frei gebunden sind. Nur diese letzte Stufe der Ent¬ wicklung ist es, die mit voller Berechtigung „Kultur" genannt werden darf. Sie ist, bedingt wie alles Menschliche, ein Ideal. Es muß genügen, jede Kultur nach der größten Annäherung an das Ideal zu messen, und nach solchem Ma߬ stab kennt die uns bisher erschlossene Geschichte nur zwei Kulturen ersten Grades: die hellenische und die altindische. Will die altindische Kultur recht verstanden und gewürdigt sein, so nutz von vornherein die bezeichnete reifste Einheit als ihr Grundcharakter festgehalten werden. Von nicht bestimmbarer Vorzeit bis etwa auf das Jahr 500 v. Chr. ist die einzige Quelle, aus der wir die Kenntnis dieser Kultur schöpfen, der Veda — bekanntlich kein einzelnes Buch, sondern ein großer Schriftenkomplex, der, an Umfang wohl mehr als sechsmal die Bibel übertreffend, das gesamte Wissen (-^ Veda) jener Vergangenheit umfaßt. Der orthodoxe Inder schreibt dieser Sammlung übermenschlichen Ursprung und göttliche Autorität zu; ihre Form ist vorwiegend poetisch und sie zerfällt in vier Abteilungen, die zunächst als Handbücher der brahmanischen Priester zu denken sind, „welche diesen das zum Opferkultus erforderliche Material an Hymnen und Sprüchen an die Hand geben, sowie den rechten Gebrauch desselben lehren sollen". Bei jedem der vier Veden sind drei verschiedene Untergattungen zu unterscheiden, je nachdem ihr Inhalt eine Sammlung von Versen, Gesängen, Opfersprüchcn (Samhita), ferner deren Erklärung und Deutung (Brahmanam), endlich einen kurzen Leitfaden, die gedrängte Zusammenfassung des Brahmanam (Sutram) darstellt. Für die Kenntnis der indischen Philosophie sind begreiflicherweise die der Erklärung und Deutung dienenden Brahmanas am wichtigsten, und von ihnen wiederum am bedeutsamsten sind ihre Nachträge, da sich in ihnen vielfach eine „wunder¬ same Vergeistigung des Opferkults" findet: „an die Stelle der praktischen Ausführung der Zeremonie tritt die Meditation über dieselbe und mit ihr eine symbolische Umdeutung, welche dann weiter zu den erhabensten Gedanken hinüberleitet." Die wertvollsten Stücke der Nachträge wurden später unter dem Namen Upanishad Geheimsinn. Geheimlehre) aus ihnen herausgehoben und zu einem Ganzen zusammengefaßt. Die Upanishads bilden somit die reifste Frucht des Vedabaumes. Es ist das unvergängliche Verdienst von Paul Deussen. daß uns Entwicklung und Gehalt der Upanishadphilosophie erschlossen wurde, sowohl durch seine für alle Zukunft grundlegende Darstellung ^in seiner „Allgemeinen Geschichte der Philosophie", als durch die monumentale Übertragung von „Sechzig Upanishads des Veda". Das Wort Geheimlehre deutet schon an, daß es sich in den Upanishads um einen Kern handelt, eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/23>, abgerufen am 29.12.2024.