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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Das romantische Bedürfnis unserer Zeit

des vorurteilsfreien Verstandes und läßt die Gefühlswerte von Religion und
Kirche leichten Herzens fahren.

So bedeutet nicht nur der Siegeslauf der empirisch - naturwissenschaftlichen
Anschauungsweise an sich eine weitere Jntellektualisierung oder Rationalisierung
unserer Kultur, sondern die religious- und kirchenfeindliche Richtung der natur¬
wissenschaftlichen Weltanschauung hat zunächst durch Beseitigung der religiös¬
kirchlichen Gefühlswerte in weite.! Kreisen unseres Volkes geradezu zu einer
Verarmung unserer Kultur an solchen Gefühlswerten, an "romantischen" Werten
geführt.

Wir wollen jetzt für eine kurze Zeit die naturwissenschaftliche An¬
schauungsweise aus dem Auge lassen, um erst später noch einmal zu ihr zurück¬
zukehren.

Die Schuld an der Verarmung unserer Zeit an religiösen Gefühlswerten
darf nämlich nicht der naturwissenschaftlichen Anschauungsweise allein in die
Schuhe geschoben werden. Eine zweite große Bewegung trägt ein gleiches
Maß von Schuld hierbei. Das ist die sozialdemokratische Bewegung.

Es genügt nicht, die Feindschaft der Sozialdemokratie gegen die religiösen
Gefühlswerte, gegen die religiösen Ideale der Kirche aus ihrer politischen
Stellung zum heutigen Staate herzuleiten. Die Sozialdemokratie lehnt die
religiösen Gefühlswerte der Kirche nicht bloß deswegen ab, weil sie in der Re¬
ligion und der Kirche feste Stützen der heutigen Staatsform sieht. Der letzte
Grund für diese Feindschaft, oder sagen wir besser, für diese Gleichgültigkeit
der Sozialdemokratie gegen die Romantik der Religion liegt tiefer.

Die Sozialdemokratie hat von jeher durch die Betonung rein praktischer,
klaffen- und wirtschaftspolitischer Ziele die Massen an sich zu locken und für
sich zu gewinnen versucht und verstanden. Die Klasse der Besitzlosen in den
Kampf um politische und vor allem wirtschaftliche Vorteile zu führen, ihnen
für diesen Kampf starke und wirksame Waffen in die Hand zu geben, sie zu
praktischen Erfolgen zu führen, das versprach die Sozialdemokratie.

Die ersten beiden Teile ihres Versprechens hat die Sozialdemokratie restlos
gehalten, und auch praktische Erfolge fehlen ihr nicht. Die Art, wie sie das
zuwege gebracht hat, ist aber gerade für das, was wir beweisen wollen,
charakeristisch.

Die Sozialdemokratie hat die Massen organisiert. Aber der Zweck dieser
Organisation war lediglich ein praktischer, ein wirtschaftspolitischer. Für Ro¬
mantik ist da kein Platz. Die Sozialdemokratie hat sich ihre Kämpfer, ihre
Führer zum Teil durch eine wohldurchdachte Bildungsarbeit selbst herangezogen,
sie mit allen den Waffen an Wissen und Bildung ausgestattet, die die Wissenschaft
nur hergeben konnte. Auch die Volksbilduugsbestrebungen der Sozialdemokratie
sind hier zu erwähnen. Aber die Sozialdemokratie ging auch bei diesen kultu¬
rellen Bestrebungen stets von dem Satz aus: Wissen ist Macht! Auch ihre
Bildungsarbcit ist dem praktischen Zweck untergeordnet, wird dem Kampf um


Das romantische Bedürfnis unserer Zeit

des vorurteilsfreien Verstandes und läßt die Gefühlswerte von Religion und
Kirche leichten Herzens fahren.

So bedeutet nicht nur der Siegeslauf der empirisch - naturwissenschaftlichen
Anschauungsweise an sich eine weitere Jntellektualisierung oder Rationalisierung
unserer Kultur, sondern die religious- und kirchenfeindliche Richtung der natur¬
wissenschaftlichen Weltanschauung hat zunächst durch Beseitigung der religiös¬
kirchlichen Gefühlswerte in weite.! Kreisen unseres Volkes geradezu zu einer
Verarmung unserer Kultur an solchen Gefühlswerten, an „romantischen" Werten
geführt.

Wir wollen jetzt für eine kurze Zeit die naturwissenschaftliche An¬
schauungsweise aus dem Auge lassen, um erst später noch einmal zu ihr zurück¬
zukehren.

Die Schuld an der Verarmung unserer Zeit an religiösen Gefühlswerten
darf nämlich nicht der naturwissenschaftlichen Anschauungsweise allein in die
Schuhe geschoben werden. Eine zweite große Bewegung trägt ein gleiches
Maß von Schuld hierbei. Das ist die sozialdemokratische Bewegung.

Es genügt nicht, die Feindschaft der Sozialdemokratie gegen die religiösen
Gefühlswerte, gegen die religiösen Ideale der Kirche aus ihrer politischen
Stellung zum heutigen Staate herzuleiten. Die Sozialdemokratie lehnt die
religiösen Gefühlswerte der Kirche nicht bloß deswegen ab, weil sie in der Re¬
ligion und der Kirche feste Stützen der heutigen Staatsform sieht. Der letzte
Grund für diese Feindschaft, oder sagen wir besser, für diese Gleichgültigkeit
der Sozialdemokratie gegen die Romantik der Religion liegt tiefer.

Die Sozialdemokratie hat von jeher durch die Betonung rein praktischer,
klaffen- und wirtschaftspolitischer Ziele die Massen an sich zu locken und für
sich zu gewinnen versucht und verstanden. Die Klasse der Besitzlosen in den
Kampf um politische und vor allem wirtschaftliche Vorteile zu führen, ihnen
für diesen Kampf starke und wirksame Waffen in die Hand zu geben, sie zu
praktischen Erfolgen zu führen, das versprach die Sozialdemokratie.

Die ersten beiden Teile ihres Versprechens hat die Sozialdemokratie restlos
gehalten, und auch praktische Erfolge fehlen ihr nicht. Die Art, wie sie das
zuwege gebracht hat, ist aber gerade für das, was wir beweisen wollen,
charakeristisch.

Die Sozialdemokratie hat die Massen organisiert. Aber der Zweck dieser
Organisation war lediglich ein praktischer, ein wirtschaftspolitischer. Für Ro¬
mantik ist da kein Platz. Die Sozialdemokratie hat sich ihre Kämpfer, ihre
Führer zum Teil durch eine wohldurchdachte Bildungsarbeit selbst herangezogen,
sie mit allen den Waffen an Wissen und Bildung ausgestattet, die die Wissenschaft
nur hergeben konnte. Auch die Volksbilduugsbestrebungen der Sozialdemokratie
sind hier zu erwähnen. Aber die Sozialdemokratie ging auch bei diesen kultu¬
rellen Bestrebungen stets von dem Satz aus: Wissen ist Macht! Auch ihre
Bildungsarbcit ist dem praktischen Zweck untergeordnet, wird dem Kampf um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/218>, abgerufen am 01.01.2025.