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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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und wir werden uns gleicher, -- sei nun unsere
Heimat rauh und streng, oder sanft und lieb¬
lich beschaffen, gleichviel. Um so teuerer wird
uns der Gedanke, im erzählenden Kunstwerk
Menschen zu begegnen, die Zug für Zug aus
ihrer Örtlichkeit hervorwachsen, die wirklich
die zum Bewußtsein herangewachsene Seele
eines Erdenwinkels bedeuten. Dieselbe Auf¬
gabe, die Boshart in seiner Novelle "Heimat"
sich nur flüchtig gestellt, hat Fedcrer mit jugend¬
licher Leidenschaftlichkeit ergriffen. Seinen
Starrkopf von Marx Antis will er aus dem
Pilatus-Gestein heraufbauen, im Element des
Berges allein leben lassen, ihn nach seinem
Bergführer- und Wilderertod wieder in dies
Gestein, in das Urelement eingehen lassen, um
so den Pilatus-Berg selber in Marx Antis
zum menschlichen Bewußtsein zu führen. Wie
so ein Berg lebendig wird, und in seinen
sinnlos großen Dimensionen sich noch regt
und bläht, seine Brüste öffnet und Ströme
der stumpfen, schwergewichtbeherrschten Ma¬
terie von Wasser und Gestein auf das
kluge, sinnvolle Menschenleben hinabschleuden,
-- da ist der Berg Marx Antis selber.
Dieser Teil der Aufgabe ist dein leidenschaft¬
lichen Schöpferdrang eines jugendkräftigen
Talents vollauf gelungen. Nur das Gegen¬
spiel reicht nicht aus: wo Marx Antis zum
Berge werden soll, da entbehren wir in der
Menschenzeichnung der Ruhe und der Be¬
herrschtheit einer Hodlerschen Linie. Marx
Antis selber und seine menschliche Umgebung
ist zu vielfältig gesehen. So trotzig ihm die
Locke in die Stirn fällt, so griffig seine stahl¬
glatten Hände die Geiß an den Hörnern
Packen, -- ein Zusammenraffen fehlt, es zer¬
flattert allzu vieles auf den 320 Seiten.
Gestrichen muß werden, aber so, daß nichts
wegfällt, daß alles doch drinne bliebe. "Ein-
geisten" nannte Goethe das Verfahren, und
Federer wird dein sicherlich noch auf die
Schliche kommen, das fühlt man seiner Atmo¬
sphäre an. Wie käme man sonst zu einer so
ungeheuerlichen Anforderung? Er wird doch
nach seinem Pilatus niemandem mehr glauben,
daß er zum harmlosen Unterhaltungsschrift¬
steller geboren ist. Fast schade, daß er es
bisher geglaubt.

Von dem Nationalproblem und dem
Heimatproblem weg, vom Lande in die Stadt

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führt uns Paul Jlg (Die Brüder Moor, eine
Jugendgeschichte. Verlag von Gideon Karl
Sarasin, Leipzig 1912. 4 Mark) dessen wert¬
voller, im besten Sinne hochinteressanter Roman
vor allem als eine nützliche Warnung gegen allzu
schützenfestmäßige Heimatduselei gelten mag,
die in den Niederungen der schweizerischen
Literatur stark ins Kraut schießt. Es kann
nicht genug betont werden: schweizerisch bleibt
ein Dichter, der es wirklich ist, -- ohne das
Nationale stofflich, äußerlich bewußt hervor¬
zukehren.

Eine verunglückte Jugcndaufführung der
"Räuber" ist die tragende Mitte, um die sich
die Jugendgoschichte des reichen HerrensohneS
Theodor Zellweger und des armen Raben-
gäßlers Christian Knecht kunstvoll fügt und
lagert. Ersterer ist bloß der Pflegesohn seiner
angesehenen und reichen Eltern, und als er
dies neunzehnjährig erfährt, schlägt seine
schwärmerische Kinderliebe für die noch immer
jugendanmutige Mutter, die für und für seine
ganze Seele als Dreieinigkeit der Schönheit,
Reife und Güte erfüllt, in lodernde, begehr¬
liche Leidenschaft um. Die Flamme verzehrt
alles uni ihn herum, die Mutter, ihr und
sein Glück.

Christian Knecht indessen zehrt seine Mutter
auf mit der grausamen Selbstverständlichkeit
der Natur. Er soll doch ein Studierter Herr
werden und daran reibt sich die Mutter auf,
in den Tod hinein. Rankende Fülle weit¬
verzweigten Erlebens, tatkräftige, tüchtige
Alltäglichkeit, verwegene Mädchenliebelei,
blutige Glücksentsagung in vier, fünf soziale
Schichten hineinprojiziert, umfaßt in der
straffen zeitlichen Einheit der Räuberauffüh¬
rung dieses Meisterstück überlegener Kompo¬
sition. Der Vierthalbhundert Seiten starke
Roman mutet wie eine kurze Novelle an, so ge¬
bieterisch handhabt Jlg die Begebenheit und
ihre Gruppierung. Der Roman steht tat¬
sächlich an der Grenze der epischen Gattung
und es ist einem, als hielte man einen Bo¬
logneser Glastropfen in der Hand. Bricht
man dem ein Millimeterstückchen von seinem
langen Schweif, so zerfällt die große Perle
in eine Million funkelnder Kriställchen. Rührt
Jlg noch ein Jota an diesem hochgespannter
Roman, so wirft das Werk Wohl eigenwillig
seine jetzige Hülle von sich und gewaltig in

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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und wir werden uns gleicher, — sei nun unsere
Heimat rauh und streng, oder sanft und lieb¬
lich beschaffen, gleichviel. Um so teuerer wird
uns der Gedanke, im erzählenden Kunstwerk
Menschen zu begegnen, die Zug für Zug aus
ihrer Örtlichkeit hervorwachsen, die wirklich
die zum Bewußtsein herangewachsene Seele
eines Erdenwinkels bedeuten. Dieselbe Auf¬
gabe, die Boshart in seiner Novelle „Heimat"
sich nur flüchtig gestellt, hat Fedcrer mit jugend¬
licher Leidenschaftlichkeit ergriffen. Seinen
Starrkopf von Marx Antis will er aus dem
Pilatus-Gestein heraufbauen, im Element des
Berges allein leben lassen, ihn nach seinem
Bergführer- und Wilderertod wieder in dies
Gestein, in das Urelement eingehen lassen, um
so den Pilatus-Berg selber in Marx Antis
zum menschlichen Bewußtsein zu führen. Wie
so ein Berg lebendig wird, und in seinen
sinnlos großen Dimensionen sich noch regt
und bläht, seine Brüste öffnet und Ströme
der stumpfen, schwergewichtbeherrschten Ma¬
terie von Wasser und Gestein auf das
kluge, sinnvolle Menschenleben hinabschleuden,
— da ist der Berg Marx Antis selber.
Dieser Teil der Aufgabe ist dein leidenschaft¬
lichen Schöpferdrang eines jugendkräftigen
Talents vollauf gelungen. Nur das Gegen¬
spiel reicht nicht aus: wo Marx Antis zum
Berge werden soll, da entbehren wir in der
Menschenzeichnung der Ruhe und der Be¬
herrschtheit einer Hodlerschen Linie. Marx
Antis selber und seine menschliche Umgebung
ist zu vielfältig gesehen. So trotzig ihm die
Locke in die Stirn fällt, so griffig seine stahl¬
glatten Hände die Geiß an den Hörnern
Packen, — ein Zusammenraffen fehlt, es zer¬
flattert allzu vieles auf den 320 Seiten.
Gestrichen muß werden, aber so, daß nichts
wegfällt, daß alles doch drinne bliebe. „Ein-
geisten" nannte Goethe das Verfahren, und
Federer wird dein sicherlich noch auf die
Schliche kommen, das fühlt man seiner Atmo¬
sphäre an. Wie käme man sonst zu einer so
ungeheuerlichen Anforderung? Er wird doch
nach seinem Pilatus niemandem mehr glauben,
daß er zum harmlosen Unterhaltungsschrift¬
steller geboren ist. Fast schade, daß er es
bisher geglaubt.

Von dem Nationalproblem und dem
Heimatproblem weg, vom Lande in die Stadt

[Spaltenumbruch]

führt uns Paul Jlg (Die Brüder Moor, eine
Jugendgeschichte. Verlag von Gideon Karl
Sarasin, Leipzig 1912. 4 Mark) dessen wert¬
voller, im besten Sinne hochinteressanter Roman
vor allem als eine nützliche Warnung gegen allzu
schützenfestmäßige Heimatduselei gelten mag,
die in den Niederungen der schweizerischen
Literatur stark ins Kraut schießt. Es kann
nicht genug betont werden: schweizerisch bleibt
ein Dichter, der es wirklich ist, — ohne das
Nationale stofflich, äußerlich bewußt hervor¬
zukehren.

Eine verunglückte Jugcndaufführung der
„Räuber" ist die tragende Mitte, um die sich
die Jugendgoschichte des reichen HerrensohneS
Theodor Zellweger und des armen Raben-
gäßlers Christian Knecht kunstvoll fügt und
lagert. Ersterer ist bloß der Pflegesohn seiner
angesehenen und reichen Eltern, und als er
dies neunzehnjährig erfährt, schlägt seine
schwärmerische Kinderliebe für die noch immer
jugendanmutige Mutter, die für und für seine
ganze Seele als Dreieinigkeit der Schönheit,
Reife und Güte erfüllt, in lodernde, begehr¬
liche Leidenschaft um. Die Flamme verzehrt
alles uni ihn herum, die Mutter, ihr und
sein Glück.

Christian Knecht indessen zehrt seine Mutter
auf mit der grausamen Selbstverständlichkeit
der Natur. Er soll doch ein Studierter Herr
werden und daran reibt sich die Mutter auf,
in den Tod hinein. Rankende Fülle weit¬
verzweigten Erlebens, tatkräftige, tüchtige
Alltäglichkeit, verwegene Mädchenliebelei,
blutige Glücksentsagung in vier, fünf soziale
Schichten hineinprojiziert, umfaßt in der
straffen zeitlichen Einheit der Räuberauffüh¬
rung dieses Meisterstück überlegener Kompo¬
sition. Der Vierthalbhundert Seiten starke
Roman mutet wie eine kurze Novelle an, so ge¬
bieterisch handhabt Jlg die Begebenheit und
ihre Gruppierung. Der Roman steht tat¬
sächlich an der Grenze der epischen Gattung
und es ist einem, als hielte man einen Bo¬
logneser Glastropfen in der Hand. Bricht
man dem ein Millimeterstückchen von seinem
langen Schweif, so zerfällt die große Perle
in eine Million funkelnder Kriställchen. Rührt
Jlg noch ein Jota an diesem hochgespannter
Roman, so wirft das Werk Wohl eigenwillig
seine jetzige Hülle von sich und gewaltig in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/203>, abgerufen am 01.01.2025.