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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Mahrhcit und Schönheit in der Kunst

Wolfram von Eschenbach hat noch einen Gewährsmann "Kyot" erfinden müssen,
damit man die Schöpfungen seiner dichterischen Phantasie nicht Lügen Schelte.
Und trotzdem noch wird er von Gottfried von Straßburg darob als "vinäaeie
wiläer maers, d. h. ein Erfinder erlogener Geschichten, hart angefahren. Im
Grunde steht auch heute zuweilen das Publikum noch auf diesem Standpunkt,
wenn es bei Klingers Nietzsche z. B. die Porträtähnlichkeit verlangt, etwas,
was mit dem ästhetischen Wert der Büste gar nichts zu tun hat.

Damit kommen wir aber bereits hinüber zu jener zweiten Stufe, wo zwar
nicht mehr die Materials Wahrheit verlangt wird, wohl aber die "Wahrheit der
Möglichkeit nach", die Wahrscheinlichkeit. Das heißt, man heischt von den
Dichtungen nicht, daß sie wirklich geschehen seien, nur daß sie hätten geschehen
können. Desgleichen verlangt man von Bildern und Statuen nicht, daß sie
wirklich einem Modell aufs Haar gleichen, wohl aber, daß sie wenigstens so beschaffen
sind, daß sie einem Modell gleichen könnten. Diese Kunstanschauung tritt von
Zeit zu Zeit mit großer Entschiedenheit auf und nennt sich Realismus oder
Naturalismus. Sie verlangt möglichste Treue der Natur gegenüber, sie treibet
als schlimme Fehler an, wenn irgendwo ein Pferd nicht anatomisch getreu
gemalt ist, wenn im Roman das Milieu nicht bis auf Hausnummern und Straßen¬
namen getreu nachgebildet ist. Bei historischen Kunstwerken prüft man Doku¬
mente nach, um ihren Wert abzuschätzen. Und "Lebenswahrheit" ist das Feld¬
geschrei dieser Richtung, der wir aber trotz allem manches beträchtliche Kunst¬
werk danken. Noch heute ist ein großer Teil des Publikums ganz befangen in
dieser Anschauung. Es will im Theater vergessen, daß es im Theater ist,
rühmt die Wahrheit und Natürlichkeit der Schauspieler und ist in der Regel
völlig unfähig, einem höheren Schwung zu folgen. Es kritisiert Boecklin, weil
es keine Zentauren gäbe, und Iphigenie, weil man im Lande der Skythen
unmöglich solche Humanität habe finden können. Es ist das vielleicht nicht der
freieste und weiteste Standpunkt der Kunst gegenüber, aber immerhin einer, der
sich gehalten hat über die Jahrhunderte hin und vermutlich auch weiter sich
halten wird, und darum nicht mit verächtlichem Lächeln abzutun ist, wie man
das zuweilen versucht hat.

Denn jener Standpunkt ist viel befehdet worden, und nicht nur von solchen,
die die Wahrheit in der Kunst überhaupt verbannen wollten, nein auch gerade
im Namen der "Wahrheit" hat man ihn bekämpft. Wir kommen damit heran
an jene schwierige Streitfrage, die auch die Philosophie durchzieht, ob die
"wahre" Welt denn die durch die Sinne vermittelte sei oder eine andere,
geistigere, die sich in jener nur verschleiert zu erkennen gäbe. In diesem Sinne
stellte man die "Wahrheit" der "Wirklichkeit" entgegen, indem man die Wirk¬
lichkeit der auf ihre Sinne sich berufenden Realisten als Trug bezeichnete oder
sie doch nur als eine Wahrheit niederen Ranges gelten ließ, während die
Wahrheit im höchsten Sinne erst die Welt der Ideen sei. Plato hat diese
Anschauung als erster formuliert. Philosophisch nennen wir sie den Idealismus


Mahrhcit und Schönheit in der Kunst

Wolfram von Eschenbach hat noch einen Gewährsmann „Kyot" erfinden müssen,
damit man die Schöpfungen seiner dichterischen Phantasie nicht Lügen Schelte.
Und trotzdem noch wird er von Gottfried von Straßburg darob als „vinäaeie
wiläer maers, d. h. ein Erfinder erlogener Geschichten, hart angefahren. Im
Grunde steht auch heute zuweilen das Publikum noch auf diesem Standpunkt,
wenn es bei Klingers Nietzsche z. B. die Porträtähnlichkeit verlangt, etwas,
was mit dem ästhetischen Wert der Büste gar nichts zu tun hat.

Damit kommen wir aber bereits hinüber zu jener zweiten Stufe, wo zwar
nicht mehr die Materials Wahrheit verlangt wird, wohl aber die „Wahrheit der
Möglichkeit nach", die Wahrscheinlichkeit. Das heißt, man heischt von den
Dichtungen nicht, daß sie wirklich geschehen seien, nur daß sie hätten geschehen
können. Desgleichen verlangt man von Bildern und Statuen nicht, daß sie
wirklich einem Modell aufs Haar gleichen, wohl aber, daß sie wenigstens so beschaffen
sind, daß sie einem Modell gleichen könnten. Diese Kunstanschauung tritt von
Zeit zu Zeit mit großer Entschiedenheit auf und nennt sich Realismus oder
Naturalismus. Sie verlangt möglichste Treue der Natur gegenüber, sie treibet
als schlimme Fehler an, wenn irgendwo ein Pferd nicht anatomisch getreu
gemalt ist, wenn im Roman das Milieu nicht bis auf Hausnummern und Straßen¬
namen getreu nachgebildet ist. Bei historischen Kunstwerken prüft man Doku¬
mente nach, um ihren Wert abzuschätzen. Und „Lebenswahrheit" ist das Feld¬
geschrei dieser Richtung, der wir aber trotz allem manches beträchtliche Kunst¬
werk danken. Noch heute ist ein großer Teil des Publikums ganz befangen in
dieser Anschauung. Es will im Theater vergessen, daß es im Theater ist,
rühmt die Wahrheit und Natürlichkeit der Schauspieler und ist in der Regel
völlig unfähig, einem höheren Schwung zu folgen. Es kritisiert Boecklin, weil
es keine Zentauren gäbe, und Iphigenie, weil man im Lande der Skythen
unmöglich solche Humanität habe finden können. Es ist das vielleicht nicht der
freieste und weiteste Standpunkt der Kunst gegenüber, aber immerhin einer, der
sich gehalten hat über die Jahrhunderte hin und vermutlich auch weiter sich
halten wird, und darum nicht mit verächtlichem Lächeln abzutun ist, wie man
das zuweilen versucht hat.

Denn jener Standpunkt ist viel befehdet worden, und nicht nur von solchen,
die die Wahrheit in der Kunst überhaupt verbannen wollten, nein auch gerade
im Namen der „Wahrheit" hat man ihn bekämpft. Wir kommen damit heran
an jene schwierige Streitfrage, die auch die Philosophie durchzieht, ob die
„wahre" Welt denn die durch die Sinne vermittelte sei oder eine andere,
geistigere, die sich in jener nur verschleiert zu erkennen gäbe. In diesem Sinne
stellte man die „Wahrheit" der „Wirklichkeit" entgegen, indem man die Wirk¬
lichkeit der auf ihre Sinne sich berufenden Realisten als Trug bezeichnete oder
sie doch nur als eine Wahrheit niederen Ranges gelten ließ, während die
Wahrheit im höchsten Sinne erst die Welt der Ideen sei. Plato hat diese
Anschauung als erster formuliert. Philosophisch nennen wir sie den Idealismus


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[0118] Mahrhcit und Schönheit in der Kunst Wolfram von Eschenbach hat noch einen Gewährsmann „Kyot" erfinden müssen, damit man die Schöpfungen seiner dichterischen Phantasie nicht Lügen Schelte. Und trotzdem noch wird er von Gottfried von Straßburg darob als „vinäaeie wiläer maers, d. h. ein Erfinder erlogener Geschichten, hart angefahren. Im Grunde steht auch heute zuweilen das Publikum noch auf diesem Standpunkt, wenn es bei Klingers Nietzsche z. B. die Porträtähnlichkeit verlangt, etwas, was mit dem ästhetischen Wert der Büste gar nichts zu tun hat. Damit kommen wir aber bereits hinüber zu jener zweiten Stufe, wo zwar nicht mehr die Materials Wahrheit verlangt wird, wohl aber die „Wahrheit der Möglichkeit nach", die Wahrscheinlichkeit. Das heißt, man heischt von den Dichtungen nicht, daß sie wirklich geschehen seien, nur daß sie hätten geschehen können. Desgleichen verlangt man von Bildern und Statuen nicht, daß sie wirklich einem Modell aufs Haar gleichen, wohl aber, daß sie wenigstens so beschaffen sind, daß sie einem Modell gleichen könnten. Diese Kunstanschauung tritt von Zeit zu Zeit mit großer Entschiedenheit auf und nennt sich Realismus oder Naturalismus. Sie verlangt möglichste Treue der Natur gegenüber, sie treibet als schlimme Fehler an, wenn irgendwo ein Pferd nicht anatomisch getreu gemalt ist, wenn im Roman das Milieu nicht bis auf Hausnummern und Straßen¬ namen getreu nachgebildet ist. Bei historischen Kunstwerken prüft man Doku¬ mente nach, um ihren Wert abzuschätzen. Und „Lebenswahrheit" ist das Feld¬ geschrei dieser Richtung, der wir aber trotz allem manches beträchtliche Kunst¬ werk danken. Noch heute ist ein großer Teil des Publikums ganz befangen in dieser Anschauung. Es will im Theater vergessen, daß es im Theater ist, rühmt die Wahrheit und Natürlichkeit der Schauspieler und ist in der Regel völlig unfähig, einem höheren Schwung zu folgen. Es kritisiert Boecklin, weil es keine Zentauren gäbe, und Iphigenie, weil man im Lande der Skythen unmöglich solche Humanität habe finden können. Es ist das vielleicht nicht der freieste und weiteste Standpunkt der Kunst gegenüber, aber immerhin einer, der sich gehalten hat über die Jahrhunderte hin und vermutlich auch weiter sich halten wird, und darum nicht mit verächtlichem Lächeln abzutun ist, wie man das zuweilen versucht hat. Denn jener Standpunkt ist viel befehdet worden, und nicht nur von solchen, die die Wahrheit in der Kunst überhaupt verbannen wollten, nein auch gerade im Namen der „Wahrheit" hat man ihn bekämpft. Wir kommen damit heran an jene schwierige Streitfrage, die auch die Philosophie durchzieht, ob die „wahre" Welt denn die durch die Sinne vermittelte sei oder eine andere, geistigere, die sich in jener nur verschleiert zu erkennen gäbe. In diesem Sinne stellte man die „Wahrheit" der „Wirklichkeit" entgegen, indem man die Wirk¬ lichkeit der auf ihre Sinne sich berufenden Realisten als Trug bezeichnete oder sie doch nur als eine Wahrheit niederen Ranges gelten ließ, während die Wahrheit im höchsten Sinne erst die Welt der Ideen sei. Plato hat diese Anschauung als erster formuliert. Philosophisch nennen wir sie den Idealismus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/118>, abgerufen am 01.01.2025.