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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Wahrheit und Schönheit in der Aunst
Richard Mittler-Freienfels von

cum die ältere Ästhetik an ein Problem wie das der Wahrheit
und der Schönheit in der Kunst heranging, so kam es ihr daraus
an, eine einheitliche Formel zu finden, die für eine ihr vor¬
schwebende Jdealkunst wie angegossen paßte, die nur meist den
Fehler aufwies, auf die in der Wirklichkeit bestehenden Kunstwerke
in keiner Weise anwendbar zu sein.

Die neuere psychologische Kunstwissenschaft geht den umgekehrten Weg.
Sie will nicht Einheit um jeden Preis, sondern sucht im Gegenteil gerade in
einem psychologisch":! Verständnis der Mannigfaltigkeit der Kunstwerke ihre
Aufgabe. Das scheint zwar im Gegensatz zu der alten konstruktiven Ästhetik
und ihrer diktatorisch-metaphysischen Gesetzgebung ein beinahe kleinliches Bemühen,
hat aber immerhin den Vorzug, auch einigen Gewinn für die Praxis des
Kunstlebens zu versprechen. Denn wie man einem Menschen mir dann gerecht
wird, wenn man ihn nicht nach einem kategorischen Normalmaß beurteilt, sondern
nur, indem man auf seine individuelle Besonderheit eingeht und diese zu ver¬
stehen sucht, so ist es mit den Kunstwerken auch. Eine Psychologie der Kunst
wird also kein ästhetisches Gesetzbuch und nicht einmal ein ästhetisches Kochbuch
zu liefern vermögen, wohl aber kann sie vielleicht die Wege lehren, die richtige
Einstellung den verschiedensten Kunstwerken gegenüber zu finden, was im Sinne
der Kunst vielleicht mehr ist als abstrakte Theorien.")

Unter diesem Gesichtspunkte werden wir auch das vorliegende Problem
behandeln. Wir werden daher nicht dekretieren und mit aller Dialektik zu be¬
weisen suchen, daß Wahrheit und Schönheit überhaupt nichts miteinander zu tuu
Hütten, oder daß sie sich ausschlossen, oder daß sie ein und dasselbe wären;
alle diese Theorien sind verfochten worden. Alle sind sie sowohl richtig als auch



") Man findet die hier skizzierten Bestrebungen zusammengefnszt in meinem Werke:
"Psychologie der Kunst" (Teubners Verlag, 1912), 2 Bände.


Wahrheit und Schönheit in der Aunst
Richard Mittler-Freienfels von

cum die ältere Ästhetik an ein Problem wie das der Wahrheit
und der Schönheit in der Kunst heranging, so kam es ihr daraus
an, eine einheitliche Formel zu finden, die für eine ihr vor¬
schwebende Jdealkunst wie angegossen paßte, die nur meist den
Fehler aufwies, auf die in der Wirklichkeit bestehenden Kunstwerke
in keiner Weise anwendbar zu sein.

Die neuere psychologische Kunstwissenschaft geht den umgekehrten Weg.
Sie will nicht Einheit um jeden Preis, sondern sucht im Gegenteil gerade in
einem psychologisch«:! Verständnis der Mannigfaltigkeit der Kunstwerke ihre
Aufgabe. Das scheint zwar im Gegensatz zu der alten konstruktiven Ästhetik
und ihrer diktatorisch-metaphysischen Gesetzgebung ein beinahe kleinliches Bemühen,
hat aber immerhin den Vorzug, auch einigen Gewinn für die Praxis des
Kunstlebens zu versprechen. Denn wie man einem Menschen mir dann gerecht
wird, wenn man ihn nicht nach einem kategorischen Normalmaß beurteilt, sondern
nur, indem man auf seine individuelle Besonderheit eingeht und diese zu ver¬
stehen sucht, so ist es mit den Kunstwerken auch. Eine Psychologie der Kunst
wird also kein ästhetisches Gesetzbuch und nicht einmal ein ästhetisches Kochbuch
zu liefern vermögen, wohl aber kann sie vielleicht die Wege lehren, die richtige
Einstellung den verschiedensten Kunstwerken gegenüber zu finden, was im Sinne
der Kunst vielleicht mehr ist als abstrakte Theorien.")

Unter diesem Gesichtspunkte werden wir auch das vorliegende Problem
behandeln. Wir werden daher nicht dekretieren und mit aller Dialektik zu be¬
weisen suchen, daß Wahrheit und Schönheit überhaupt nichts miteinander zu tuu
Hütten, oder daß sie sich ausschlossen, oder daß sie ein und dasselbe wären;
alle diese Theorien sind verfochten worden. Alle sind sie sowohl richtig als auch



") Man findet die hier skizzierten Bestrebungen zusammengefnszt in meinem Werke:
„Psychologie der Kunst" (Teubners Verlag, 1912), 2 Bände.
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[0116] [Abbildung] Wahrheit und Schönheit in der Aunst Richard Mittler-Freienfels von cum die ältere Ästhetik an ein Problem wie das der Wahrheit und der Schönheit in der Kunst heranging, so kam es ihr daraus an, eine einheitliche Formel zu finden, die für eine ihr vor¬ schwebende Jdealkunst wie angegossen paßte, die nur meist den Fehler aufwies, auf die in der Wirklichkeit bestehenden Kunstwerke in keiner Weise anwendbar zu sein. Die neuere psychologische Kunstwissenschaft geht den umgekehrten Weg. Sie will nicht Einheit um jeden Preis, sondern sucht im Gegenteil gerade in einem psychologisch«:! Verständnis der Mannigfaltigkeit der Kunstwerke ihre Aufgabe. Das scheint zwar im Gegensatz zu der alten konstruktiven Ästhetik und ihrer diktatorisch-metaphysischen Gesetzgebung ein beinahe kleinliches Bemühen, hat aber immerhin den Vorzug, auch einigen Gewinn für die Praxis des Kunstlebens zu versprechen. Denn wie man einem Menschen mir dann gerecht wird, wenn man ihn nicht nach einem kategorischen Normalmaß beurteilt, sondern nur, indem man auf seine individuelle Besonderheit eingeht und diese zu ver¬ stehen sucht, so ist es mit den Kunstwerken auch. Eine Psychologie der Kunst wird also kein ästhetisches Gesetzbuch und nicht einmal ein ästhetisches Kochbuch zu liefern vermögen, wohl aber kann sie vielleicht die Wege lehren, die richtige Einstellung den verschiedensten Kunstwerken gegenüber zu finden, was im Sinne der Kunst vielleicht mehr ist als abstrakte Theorien.") Unter diesem Gesichtspunkte werden wir auch das vorliegende Problem behandeln. Wir werden daher nicht dekretieren und mit aller Dialektik zu be¬ weisen suchen, daß Wahrheit und Schönheit überhaupt nichts miteinander zu tuu Hütten, oder daß sie sich ausschlossen, oder daß sie ein und dasselbe wären; alle diese Theorien sind verfochten worden. Alle sind sie sowohl richtig als auch ") Man findet die hier skizzierten Bestrebungen zusammengefnszt in meinem Werke: „Psychologie der Kunst" (Teubners Verlag, 1912), 2 Bände.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/116>, abgerufen am 01.01.2025.