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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Humanisten und Germanisten

dringende Vertiefung in die antike Kultur, daß ein Voll nur mit dem, was es
als Eigenes hat, die Gesamtheit bereichern kann. Nicht Einengung, Be¬
schränkung also und Rückschritt bedeutet jene Fassung, sondern die statt der
unerträglich gewordenen Expansion und Zersplitterung bitter notwendige
Konzentration, der eine ungleich wirksamere Stoßkraft inne wohnt. Denn das
Erstarken des eigenen Volkstums macht ein Volk erst recht aufnähme- und gebe¬
fähig für die Welt. Wir haben doch wohl eingesehen, daß unsere Humanisten
gerade deswegen nach Hellas und Rom gingen, um das eigene Volk zu be¬
reichern, um durch die Erfahrung von Anklang und von Widerspruch eigene
Entwicklungsmöglichkeiten für den deutschen Geist zu finden. Wie sehr gerade
das Verständnis der ersten sogenannten Wiederbelebung des Altertums, des
Humanismus auf dem Boden Italiens, zum richtigen Verständnis für das eigene
Volkstum und zu den notwendigen Folgerungen und Forderungen für dessen
Weiterentwicklung führt, das zeigen vor allem solche Untersuchungen, wie sie
Burdach über den Ursprung des Humanismus angestellt hat. Als er darüber
auch auf der Marburger Philologenversammlung sprach und gezeigt hatte, wie
jene Wiedergeburt des eigenen Selbst aus dem Geiste des Altertums, -- etwas
wesenhaft Verschiedenes von bloßer Aufpfropfung des klassischen Bildungsideals
auf heimisches Volkstum -- eine Übertragung des christlichen Paulinischen Be¬
griffs der Wiedergeburt in das menschliche, sittliche und ästhetische Gebiet ge¬
wesen war und nachdem er die für die deutsche Kultur so bedeutsame zweite
Renaissance des achtzehnten Jahrhunderts gewürdigt hatte, schloß er mit der
Überzeugung, daß eine dritte, die in Deutschland der Zukunft folgen werde, gleich
der ersten italienischen, aber noch entschiedener, eine Wiedergeburt sein werde aus
natronalem Geiste, eine Erneuerung der angestammten Fähigkeiten unseres Selbst.

Die Forderung der Germanisten ist daher wohl zu verstehen, daß ihre
Sonderwissenschaft, eben die Germanistik, über die Erforschung von Sprache und
Literatur hinaus zu einer umfassenden Deutschkunde sich entwickeln solle, die alle
Lebensäußerungen unseres Volkes gleichermaßen würdigen möchte. Sie steht
da ganz im Einklang mit ihrem Schöpfer Jakob Grimm, der zuerst ein in¬
zwischen natürlich vielfach berichtigtes Gesamtbild unseres Wesens und unserer
geistigen Geschichte gezeichnet hatte, und sie folgt da auch durchaus dem Beispiel
der Altertumswissenschaft. Daß aber bei jeder Art der höheren Jugendbildung
die gemeinsamen Grundzüge unseres Volkstums zu einem sicheren Besitz heraus¬
gearbeitet werden, daß sie nicht nur dem Zufall überlassen, nebelhafte Vorstellungen
bleiben, vielmehr wieder zu stärkeren nationalen Instinkten uns fähig machen, ist
auch deshalb so wichtig, weil sie vielfach im Grunde verschieden geartet sind
von denen des Bildungsideals der Antike. Dieses hatte ja eben deshalb als
Norm aufgegeben werden müssen, ohne daß bis jetzt deutlich ausgesprochen
worden wäre, welches Bildungsideal denn an seine Stelle zu treten habe. Es
kann im Rahmen dieser Ausführungen hier nicht daran gedacht werden, diese
beiden in genauer Schilderung einander gegenüberzustellen, aber einiges sei doch er-


Humanisten und Germanisten

dringende Vertiefung in die antike Kultur, daß ein Voll nur mit dem, was es
als Eigenes hat, die Gesamtheit bereichern kann. Nicht Einengung, Be¬
schränkung also und Rückschritt bedeutet jene Fassung, sondern die statt der
unerträglich gewordenen Expansion und Zersplitterung bitter notwendige
Konzentration, der eine ungleich wirksamere Stoßkraft inne wohnt. Denn das
Erstarken des eigenen Volkstums macht ein Volk erst recht aufnähme- und gebe¬
fähig für die Welt. Wir haben doch wohl eingesehen, daß unsere Humanisten
gerade deswegen nach Hellas und Rom gingen, um das eigene Volk zu be¬
reichern, um durch die Erfahrung von Anklang und von Widerspruch eigene
Entwicklungsmöglichkeiten für den deutschen Geist zu finden. Wie sehr gerade
das Verständnis der ersten sogenannten Wiederbelebung des Altertums, des
Humanismus auf dem Boden Italiens, zum richtigen Verständnis für das eigene
Volkstum und zu den notwendigen Folgerungen und Forderungen für dessen
Weiterentwicklung führt, das zeigen vor allem solche Untersuchungen, wie sie
Burdach über den Ursprung des Humanismus angestellt hat. Als er darüber
auch auf der Marburger Philologenversammlung sprach und gezeigt hatte, wie
jene Wiedergeburt des eigenen Selbst aus dem Geiste des Altertums, — etwas
wesenhaft Verschiedenes von bloßer Aufpfropfung des klassischen Bildungsideals
auf heimisches Volkstum — eine Übertragung des christlichen Paulinischen Be¬
griffs der Wiedergeburt in das menschliche, sittliche und ästhetische Gebiet ge¬
wesen war und nachdem er die für die deutsche Kultur so bedeutsame zweite
Renaissance des achtzehnten Jahrhunderts gewürdigt hatte, schloß er mit der
Überzeugung, daß eine dritte, die in Deutschland der Zukunft folgen werde, gleich
der ersten italienischen, aber noch entschiedener, eine Wiedergeburt sein werde aus
natronalem Geiste, eine Erneuerung der angestammten Fähigkeiten unseres Selbst.

Die Forderung der Germanisten ist daher wohl zu verstehen, daß ihre
Sonderwissenschaft, eben die Germanistik, über die Erforschung von Sprache und
Literatur hinaus zu einer umfassenden Deutschkunde sich entwickeln solle, die alle
Lebensäußerungen unseres Volkes gleichermaßen würdigen möchte. Sie steht
da ganz im Einklang mit ihrem Schöpfer Jakob Grimm, der zuerst ein in¬
zwischen natürlich vielfach berichtigtes Gesamtbild unseres Wesens und unserer
geistigen Geschichte gezeichnet hatte, und sie folgt da auch durchaus dem Beispiel
der Altertumswissenschaft. Daß aber bei jeder Art der höheren Jugendbildung
die gemeinsamen Grundzüge unseres Volkstums zu einem sicheren Besitz heraus¬
gearbeitet werden, daß sie nicht nur dem Zufall überlassen, nebelhafte Vorstellungen
bleiben, vielmehr wieder zu stärkeren nationalen Instinkten uns fähig machen, ist
auch deshalb so wichtig, weil sie vielfach im Grunde verschieden geartet sind
von denen des Bildungsideals der Antike. Dieses hatte ja eben deshalb als
Norm aufgegeben werden müssen, ohne daß bis jetzt deutlich ausgesprochen
worden wäre, welches Bildungsideal denn an seine Stelle zu treten habe. Es
kann im Rahmen dieser Ausführungen hier nicht daran gedacht werden, diese
beiden in genauer Schilderung einander gegenüberzustellen, aber einiges sei doch er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/607>, abgerufen am 28.07.2024.