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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Humanisten und Germanisten

gebildet" sind nur scheinbar widerspruchsvoll, sie hat vielmehr einen geschichtlich
sehr wohl begründeten Sinn. Aber es hätte sich doch eben nichts entwickeln
können, wenn nicht der Keim der Eigenart vorhanden gewesen wäre. Und diese
deutsche Eigenart hat sich, bei so mancher Verwandtschaft namentlich mit
hellenischem Geist in Art und Unart, doch auch als recht anders geartet heraus¬
gestellt. Zuweilen aber scheint es, als ob deutsche Eigenart, wo sie von antiker
abweicht, als fehlerhaft gelten müsse: da spukt denn doch noch die dogmatische
Geltung des antiken Bildungsideals nach.

Die Forderung, die die Germanisten heute stellen, eben aufGrund der bisherigen
Entwicklung unserer deutschen Verhältnisse, die nicht selten arge Verkümmerungen
unserer Volkseigenart aufweisen, stellen sich naturgemäß nicht an eine bestimmte
Schulgattung, sondern an alle gleichmäßig. Und es wäre in der Tat ein sehr
empfindlicher Nachteil, wenn etwa nur diejenigen unter unseren Gebideten, die
aus den realen Schulen hervorgehen, ein vertieftes Verständnis für Einheitlich¬
keit, Eigenart und Wert unseres Volkstums beim Eintritt in das Leben mit¬
brächten. Denn für die aus den humanistischen Anstalten Kommenden kann
doch unmöglich eine vertiefte Kenntnis der im Altertum liegenden Wurzeln
der heutigen Kultur, auch der deutschen, ein Ersatz dafür sein. Da es
sich um Heranbildung der künftig führenden Schichten von Deutschen handelt
-- wieviele von diesen etwa an das Ausland abgegeben werden, darauf
darf keine Rücksicht genommen werden --, so müssen diese doch alle gleicher¬
maßen damit Bescheid wissen, welche Seiten unserer deutschen Volksart der
Weiterbildung und Vertiefung bedürfen, welche Einflüsse als hindernd zu be¬
kämpfen, welche als fördernd aufzusuchen und in der Aussicht auf organische
Verschmelzung zu pflegen sind. Und daraus muß sich dann eben das gemein¬
same Ziel für unsere drei Gattungen höherer Schulen ergeben. Es kann,
kurz zusammengefaßt, nur lauten: Wissenschaftlich begründetes Ver¬
ständnis für die deutsche Gegenwart. Man mag hinzufügen: und Entwicklung
der Fähigkeit zur Weiterführung im Sinne unseres Volksgeistes. Man
sieht, der Gesichtspunkt für die Aufstellung des gemeinsamen Zieles mußte, was
ja auch in der Natur der Sache lag, zweien von den drei allen höheren Schulen
auch nach dem Maß der Forderungen gemeinsamen Fächern, dem Deutschen
und der Geschichte, entnommen werden. Leider find wir heut noch nicht so
weit, um auch das dritte gemeinsame Fach, die Religion, mit Aussicht auf
Erfolg unter dem Gesichtspunkt eines nationalen Kulturfachs behandeln zu können.
Klingt nun jene Aufstellung des Zieles zu enge? Klingt sie zu bescheiden? Ich
meine: nein! Denn das Ziel, Weltbürger heranzubilden, wollen wir uns doch
nicht mehr stellen, und Verständnis für die heutige Weltkultur braucht als Ziel
der höheren Jugendbildung jedenfalls nicht ausgesprochen zu^werden. Einmal
ist es gar nicht möglich, die deutsche Gegenwart zu verstehen, ohne sie den
übrigen für uns bedeutsamen Ausprägungen von Weltkultur gegenüberzustellen,
und dann haben wir doch wohl endlich gelernt, ganz besonders auch durch ein-


Humanisten und Germanisten

gebildet" sind nur scheinbar widerspruchsvoll, sie hat vielmehr einen geschichtlich
sehr wohl begründeten Sinn. Aber es hätte sich doch eben nichts entwickeln
können, wenn nicht der Keim der Eigenart vorhanden gewesen wäre. Und diese
deutsche Eigenart hat sich, bei so mancher Verwandtschaft namentlich mit
hellenischem Geist in Art und Unart, doch auch als recht anders geartet heraus¬
gestellt. Zuweilen aber scheint es, als ob deutsche Eigenart, wo sie von antiker
abweicht, als fehlerhaft gelten müsse: da spukt denn doch noch die dogmatische
Geltung des antiken Bildungsideals nach.

Die Forderung, die die Germanisten heute stellen, eben aufGrund der bisherigen
Entwicklung unserer deutschen Verhältnisse, die nicht selten arge Verkümmerungen
unserer Volkseigenart aufweisen, stellen sich naturgemäß nicht an eine bestimmte
Schulgattung, sondern an alle gleichmäßig. Und es wäre in der Tat ein sehr
empfindlicher Nachteil, wenn etwa nur diejenigen unter unseren Gebideten, die
aus den realen Schulen hervorgehen, ein vertieftes Verständnis für Einheitlich¬
keit, Eigenart und Wert unseres Volkstums beim Eintritt in das Leben mit¬
brächten. Denn für die aus den humanistischen Anstalten Kommenden kann
doch unmöglich eine vertiefte Kenntnis der im Altertum liegenden Wurzeln
der heutigen Kultur, auch der deutschen, ein Ersatz dafür sein. Da es
sich um Heranbildung der künftig führenden Schichten von Deutschen handelt
— wieviele von diesen etwa an das Ausland abgegeben werden, darauf
darf keine Rücksicht genommen werden —, so müssen diese doch alle gleicher¬
maßen damit Bescheid wissen, welche Seiten unserer deutschen Volksart der
Weiterbildung und Vertiefung bedürfen, welche Einflüsse als hindernd zu be¬
kämpfen, welche als fördernd aufzusuchen und in der Aussicht auf organische
Verschmelzung zu pflegen sind. Und daraus muß sich dann eben das gemein¬
same Ziel für unsere drei Gattungen höherer Schulen ergeben. Es kann,
kurz zusammengefaßt, nur lauten: Wissenschaftlich begründetes Ver¬
ständnis für die deutsche Gegenwart. Man mag hinzufügen: und Entwicklung
der Fähigkeit zur Weiterführung im Sinne unseres Volksgeistes. Man
sieht, der Gesichtspunkt für die Aufstellung des gemeinsamen Zieles mußte, was
ja auch in der Natur der Sache lag, zweien von den drei allen höheren Schulen
auch nach dem Maß der Forderungen gemeinsamen Fächern, dem Deutschen
und der Geschichte, entnommen werden. Leider find wir heut noch nicht so
weit, um auch das dritte gemeinsame Fach, die Religion, mit Aussicht auf
Erfolg unter dem Gesichtspunkt eines nationalen Kulturfachs behandeln zu können.
Klingt nun jene Aufstellung des Zieles zu enge? Klingt sie zu bescheiden? Ich
meine: nein! Denn das Ziel, Weltbürger heranzubilden, wollen wir uns doch
nicht mehr stellen, und Verständnis für die heutige Weltkultur braucht als Ziel
der höheren Jugendbildung jedenfalls nicht ausgesprochen zu^werden. Einmal
ist es gar nicht möglich, die deutsche Gegenwart zu verstehen, ohne sie den
übrigen für uns bedeutsamen Ausprägungen von Weltkultur gegenüberzustellen,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/606>, abgerufen am 28.07.2024.