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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Augustus

dunklen Stille mit halboffenen Augen nach dem Feuer schaute, dann kam aus
der Dunkelheit eine süße vielstimmige Musik Hervorgellungen, und wenn die
beiden ihr lange und verschwiegen zugehört hatten, dann geschah es oft,
daß unversehens die ganze Stube voll kleiner glänzender Kinder war, die
flogen mit hellen goldenen Flügeln in Kreisen hin und wieder und wie in
schönen Tänzen kunstvoll umeinander und in Paaren, und dazu sangen sie und
es klang hundertfach voll Freude und heiterer Schönheit zusammen. Das war
das Schönste, was Augustus je gehört und gesehen hatte, und wenn er später
an seine Kindheit dachte, so war es die stille finstere Stube des alten Paten
und die rote Flamme im Kamin mit der Musik und mit dem festlichen goldenen
Zauberflug der Engelwesen, die ihm in der Erinnerung wieder emporstieg und
Heimweh machte.

Indessen wurde der Knabe größer, und jetzt gab es für seine Mutter zu¬
weilen Stunden, wo sie traurig war und an jene Taufnacht zurückdenken
mußte. Augustus lief fröhlich in den Nachbargassen umher und war überall
willkommen, er bekam Nüsse und Birnen, Kuchen und Spielsachen geschenkt,
man gab ihm zu essen und zu trinken, ließ ihn auf dem Knie reiten und in
den Gärten Blumen pflücken, und oft kam er erst spät am Abend wieder heim
und schob die Suppe der Mutter widerwillig beiseite. Wenn sie dann betrübt
war und weinte, fand er es langweilig und ging mürrisch in sein Bettlein;
und wenn sie ihn einmal schalt und strafte, schrie er heftig und beklagte sich,
daß alle Leute lieb und nett mit ihm seien, bloß seine Mutter nicht. Da hatte
sie oft betrübte Stunden, und manchmal erzürnte sie sich ernstlich über ihren
Jungen, aber wenn er nachher schlafend in seinen Kissen lag und auf dem
unschuldigen Kindergesicht ihr Kerzenlicht schimmerte, dann verging alle Härte
in ihrem Herzen und sie küßte ihn vorsichtig, daß er nicht erwache. Es war
ihre eigene Schuld, daß alle Leute den Augustus gern hatten, und sie dachte
manchmal mit Trauer und beinahe mit einem Schrecken, daß es vielleicht besser
gewesen wäre, sie hätte jenen Wunsch niemals getan.

Einmal stand sie gerade beim Geranienfenster des Herrn Binßwanger und
schnitt mit einer kleinen Schere die verwelkten Blumen aus den Stöcken, da
hörte sie in dem Hof, der hinter den beiden Häusern war, die Stimme ihres
Jungen, und sie bog sich vor, um hinüberzusehen. Sie sah ihn an der Mauer
lehnen, mit seinem hübschen und ein wenig stolzen Gesicht, und vor ihm stand
ein Mädchen, größer als er, das sah ihn bittend an und sagte: "Gelt, du bist
lieb und gibst mir einen Kuß?"

"Ich mag nicht," sagte Augustus, und steckte die Hände in die Tasche".

"O doch, bitte," sagte sie wieder. "Ich will dir ja auch etwas Schönes
schenken."

"Was denn?" fragte der Junge.

"Ich habe zwei Äpfel," sagte sie schüchtern.

Aber er drehte sich um und schnitt eine Grimasse.


Augustus

dunklen Stille mit halboffenen Augen nach dem Feuer schaute, dann kam aus
der Dunkelheit eine süße vielstimmige Musik Hervorgellungen, und wenn die
beiden ihr lange und verschwiegen zugehört hatten, dann geschah es oft,
daß unversehens die ganze Stube voll kleiner glänzender Kinder war, die
flogen mit hellen goldenen Flügeln in Kreisen hin und wieder und wie in
schönen Tänzen kunstvoll umeinander und in Paaren, und dazu sangen sie und
es klang hundertfach voll Freude und heiterer Schönheit zusammen. Das war
das Schönste, was Augustus je gehört und gesehen hatte, und wenn er später
an seine Kindheit dachte, so war es die stille finstere Stube des alten Paten
und die rote Flamme im Kamin mit der Musik und mit dem festlichen goldenen
Zauberflug der Engelwesen, die ihm in der Erinnerung wieder emporstieg und
Heimweh machte.

Indessen wurde der Knabe größer, und jetzt gab es für seine Mutter zu¬
weilen Stunden, wo sie traurig war und an jene Taufnacht zurückdenken
mußte. Augustus lief fröhlich in den Nachbargassen umher und war überall
willkommen, er bekam Nüsse und Birnen, Kuchen und Spielsachen geschenkt,
man gab ihm zu essen und zu trinken, ließ ihn auf dem Knie reiten und in
den Gärten Blumen pflücken, und oft kam er erst spät am Abend wieder heim
und schob die Suppe der Mutter widerwillig beiseite. Wenn sie dann betrübt
war und weinte, fand er es langweilig und ging mürrisch in sein Bettlein;
und wenn sie ihn einmal schalt und strafte, schrie er heftig und beklagte sich,
daß alle Leute lieb und nett mit ihm seien, bloß seine Mutter nicht. Da hatte
sie oft betrübte Stunden, und manchmal erzürnte sie sich ernstlich über ihren
Jungen, aber wenn er nachher schlafend in seinen Kissen lag und auf dem
unschuldigen Kindergesicht ihr Kerzenlicht schimmerte, dann verging alle Härte
in ihrem Herzen und sie küßte ihn vorsichtig, daß er nicht erwache. Es war
ihre eigene Schuld, daß alle Leute den Augustus gern hatten, und sie dachte
manchmal mit Trauer und beinahe mit einem Schrecken, daß es vielleicht besser
gewesen wäre, sie hätte jenen Wunsch niemals getan.

Einmal stand sie gerade beim Geranienfenster des Herrn Binßwanger und
schnitt mit einer kleinen Schere die verwelkten Blumen aus den Stöcken, da
hörte sie in dem Hof, der hinter den beiden Häusern war, die Stimme ihres
Jungen, und sie bog sich vor, um hinüberzusehen. Sie sah ihn an der Mauer
lehnen, mit seinem hübschen und ein wenig stolzen Gesicht, und vor ihm stand
ein Mädchen, größer als er, das sah ihn bittend an und sagte: „Gelt, du bist
lieb und gibst mir einen Kuß?"

„Ich mag nicht," sagte Augustus, und steckte die Hände in die Tasche«.

„O doch, bitte," sagte sie wieder. „Ich will dir ja auch etwas Schönes
schenken."

„Was denn?" fragte der Junge.

„Ich habe zwei Äpfel," sagte sie schüchtern.

Aber er drehte sich um und schnitt eine Grimasse.


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[0522] Augustus dunklen Stille mit halboffenen Augen nach dem Feuer schaute, dann kam aus der Dunkelheit eine süße vielstimmige Musik Hervorgellungen, und wenn die beiden ihr lange und verschwiegen zugehört hatten, dann geschah es oft, daß unversehens die ganze Stube voll kleiner glänzender Kinder war, die flogen mit hellen goldenen Flügeln in Kreisen hin und wieder und wie in schönen Tänzen kunstvoll umeinander und in Paaren, und dazu sangen sie und es klang hundertfach voll Freude und heiterer Schönheit zusammen. Das war das Schönste, was Augustus je gehört und gesehen hatte, und wenn er später an seine Kindheit dachte, so war es die stille finstere Stube des alten Paten und die rote Flamme im Kamin mit der Musik und mit dem festlichen goldenen Zauberflug der Engelwesen, die ihm in der Erinnerung wieder emporstieg und Heimweh machte. Indessen wurde der Knabe größer, und jetzt gab es für seine Mutter zu¬ weilen Stunden, wo sie traurig war und an jene Taufnacht zurückdenken mußte. Augustus lief fröhlich in den Nachbargassen umher und war überall willkommen, er bekam Nüsse und Birnen, Kuchen und Spielsachen geschenkt, man gab ihm zu essen und zu trinken, ließ ihn auf dem Knie reiten und in den Gärten Blumen pflücken, und oft kam er erst spät am Abend wieder heim und schob die Suppe der Mutter widerwillig beiseite. Wenn sie dann betrübt war und weinte, fand er es langweilig und ging mürrisch in sein Bettlein; und wenn sie ihn einmal schalt und strafte, schrie er heftig und beklagte sich, daß alle Leute lieb und nett mit ihm seien, bloß seine Mutter nicht. Da hatte sie oft betrübte Stunden, und manchmal erzürnte sie sich ernstlich über ihren Jungen, aber wenn er nachher schlafend in seinen Kissen lag und auf dem unschuldigen Kindergesicht ihr Kerzenlicht schimmerte, dann verging alle Härte in ihrem Herzen und sie küßte ihn vorsichtig, daß er nicht erwache. Es war ihre eigene Schuld, daß alle Leute den Augustus gern hatten, und sie dachte manchmal mit Trauer und beinahe mit einem Schrecken, daß es vielleicht besser gewesen wäre, sie hätte jenen Wunsch niemals getan. Einmal stand sie gerade beim Geranienfenster des Herrn Binßwanger und schnitt mit einer kleinen Schere die verwelkten Blumen aus den Stöcken, da hörte sie in dem Hof, der hinter den beiden Häusern war, die Stimme ihres Jungen, und sie bog sich vor, um hinüberzusehen. Sie sah ihn an der Mauer lehnen, mit seinem hübschen und ein wenig stolzen Gesicht, und vor ihm stand ein Mädchen, größer als er, das sah ihn bittend an und sagte: „Gelt, du bist lieb und gibst mir einen Kuß?" „Ich mag nicht," sagte Augustus, und steckte die Hände in die Tasche«. „O doch, bitte," sagte sie wieder. „Ich will dir ja auch etwas Schönes schenken." „Was denn?" fragte der Junge. „Ich habe zwei Äpfel," sagte sie schüchtern. Aber er drehte sich um und schnitt eine Grimasse.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/522>, abgerufen am 02.10.2024.