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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Denis Diderot

gehalten. Unmittelbar vorher hatte er die I^ettrs 8ur les avsuZIe8 ver¬
öffentlicht. Diese Schrift beschäftigt sich mit dem Einfluß der Blindheit auf die
Gedankenwelt; sie war nicht eigentlich religiösen Inhalts, aber ihre naturwissen¬
schaftlichen Anschauungen, so der später von Darwin ausgeführte Gedanke über
die Bildung und Erhaltung der Arten, beruhten auf Skeptizismus und Natura¬
lismus und erschienen dem starren Bibelglauben als ketzerisch.

Das ungesetzliche Verfahren, wie es gegen Diderot stattfand, erklärt sich
aus den Zuständen des damaligen Frankreichs. Eine sterbende Gesellschaft war
am Ruder. Sie suchte sich zu erhalten mit allen Mitteln der Unduldsamkeit,
der Willkür und Gewaltherrschaft. Eine unheilvolle Verwirrung der Begriffe
von Recht und Sitte, ausgehend von einem unsittlichen Hofe, hatte Platz ge¬
griffen. Man bekämpfte die Aufklärer, die Philosophen; anderseits hatten diese
wieder Freunde und Anhänger gerade in den maßgebenden Kreisen und im
Volke, in dem Unzufriedenheit und Erbitterung herrschten. Diese Zustände legten
es Diderot nahe, fernerhin die größte Vorsicht zu beobachten. Viele seiner
Schriften behielt er zurück, andere ließ er im Ausland drucken; ein Teil seiner
Werke ist erst geraume Zeit nach seinem Tode erschienen.

Diderots Philosophie mündete im Materialismus und Atheismus aus; seine
späteren Schriften, wie das "Gespräch mit DÄlembert", lassen darüber keinen
Zweifel. Aber er zog nicht die Folgerungen aus dem Materialismus, welche
Helvetius und La Mettrie gezogen haben, die in der sinnlichen Lust den Grund
aller Moral sehen. Diderot ist in bezug auf Moral Idealist. Er schwärmt
für das Wahre, Gute, Schöne, für die Tugend, für die Bekämpfung des
Egoismus. "I^a unent'L nous a kalts pour la vertu." La Mettrie greift er
heftig an als apoloZiste an vice et cketractsur ac la vertu.

Von größter Bedeutung wurde Diderots Beteiligung an der Enzyklopädie,
dem berühmten Sammelwerke, das in der Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts
eine so hervorragende Rolle spielt. Die Enzyklopädie sollte das gesamte Wissen
der Zeit, und zwar nicht blos das theoretische, sondern auch das praktisch an¬
gewendete, die Technik und das Gewerbe, übersichtlich zusammenfassen. Schon
früher hatte es kleinere Enzyklopädien dieser Art gegeben; am erfolgreichsten
war die von' dem Engländer Chambers um 1727 herausgegebene. Der Pariser
Buchhändler Le Breton erkannte, daß ein solches Werk für Frankreich ein Be¬
dürfnis war, und forderte Diderot auf, die Chamberssche Enzyklopädie zu
bearbeiten. Er hätte keine bessere Wahl treffen können. Diderot war durch
eine seltene Vereinigung vielseitiger Kenntnisse mit großem praktischem Geschick
und durch einen nimmer verzagenden Mut für dieses Riesenwerk, das weit über
das Chamberssche hinauswuchs, wie geschaffen. Er ging mit Feuereifer an die
Sache und verband sich zunächst mit dem ausgezeichneten Mathematiker
DÄlembert. Einen trefflichen Genossen fanden sie in dem Ritter Louis Jaucourt,
einem Polyhistor, wie sie das achtzehnte Jahrhundert öfters hervorbrachte.
Weitere hervorragende Mitarbeiter schlössen sich an, darunter Voltaire, Montesquieu,


Denis Diderot

gehalten. Unmittelbar vorher hatte er die I^ettrs 8ur les avsuZIe8 ver¬
öffentlicht. Diese Schrift beschäftigt sich mit dem Einfluß der Blindheit auf die
Gedankenwelt; sie war nicht eigentlich religiösen Inhalts, aber ihre naturwissen¬
schaftlichen Anschauungen, so der später von Darwin ausgeführte Gedanke über
die Bildung und Erhaltung der Arten, beruhten auf Skeptizismus und Natura¬
lismus und erschienen dem starren Bibelglauben als ketzerisch.

Das ungesetzliche Verfahren, wie es gegen Diderot stattfand, erklärt sich
aus den Zuständen des damaligen Frankreichs. Eine sterbende Gesellschaft war
am Ruder. Sie suchte sich zu erhalten mit allen Mitteln der Unduldsamkeit,
der Willkür und Gewaltherrschaft. Eine unheilvolle Verwirrung der Begriffe
von Recht und Sitte, ausgehend von einem unsittlichen Hofe, hatte Platz ge¬
griffen. Man bekämpfte die Aufklärer, die Philosophen; anderseits hatten diese
wieder Freunde und Anhänger gerade in den maßgebenden Kreisen und im
Volke, in dem Unzufriedenheit und Erbitterung herrschten. Diese Zustände legten
es Diderot nahe, fernerhin die größte Vorsicht zu beobachten. Viele seiner
Schriften behielt er zurück, andere ließ er im Ausland drucken; ein Teil seiner
Werke ist erst geraume Zeit nach seinem Tode erschienen.

Diderots Philosophie mündete im Materialismus und Atheismus aus; seine
späteren Schriften, wie das „Gespräch mit DÄlembert", lassen darüber keinen
Zweifel. Aber er zog nicht die Folgerungen aus dem Materialismus, welche
Helvetius und La Mettrie gezogen haben, die in der sinnlichen Lust den Grund
aller Moral sehen. Diderot ist in bezug auf Moral Idealist. Er schwärmt
für das Wahre, Gute, Schöne, für die Tugend, für die Bekämpfung des
Egoismus. „I^a unent'L nous a kalts pour la vertu." La Mettrie greift er
heftig an als apoloZiste an vice et cketractsur ac la vertu.

Von größter Bedeutung wurde Diderots Beteiligung an der Enzyklopädie,
dem berühmten Sammelwerke, das in der Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts
eine so hervorragende Rolle spielt. Die Enzyklopädie sollte das gesamte Wissen
der Zeit, und zwar nicht blos das theoretische, sondern auch das praktisch an¬
gewendete, die Technik und das Gewerbe, übersichtlich zusammenfassen. Schon
früher hatte es kleinere Enzyklopädien dieser Art gegeben; am erfolgreichsten
war die von' dem Engländer Chambers um 1727 herausgegebene. Der Pariser
Buchhändler Le Breton erkannte, daß ein solches Werk für Frankreich ein Be¬
dürfnis war, und forderte Diderot auf, die Chamberssche Enzyklopädie zu
bearbeiten. Er hätte keine bessere Wahl treffen können. Diderot war durch
eine seltene Vereinigung vielseitiger Kenntnisse mit großem praktischem Geschick
und durch einen nimmer verzagenden Mut für dieses Riesenwerk, das weit über
das Chamberssche hinauswuchs, wie geschaffen. Er ging mit Feuereifer an die
Sache und verband sich zunächst mit dem ausgezeichneten Mathematiker
DÄlembert. Einen trefflichen Genossen fanden sie in dem Ritter Louis Jaucourt,
einem Polyhistor, wie sie das achtzehnte Jahrhundert öfters hervorbrachte.
Weitere hervorragende Mitarbeiter schlössen sich an, darunter Voltaire, Montesquieu,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/52>, abgerufen am 24.08.2024.