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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Imperialismus, Sozialismus und anderes

solches Hinübergreifen des modernen Staats in fremde Länder eine selbstver¬
ständliche Voraussetzung der Kolonialpolitik, aber daß Kolonialpolitik getrieben
werden soll -- organisiert, bewußt, systematisch -->, das möchte ich für den
modernen Imperialismus in Anspruch nehmen. Gewiß sind zu allen Zeiten
Kolonien erworben worden, bevor es einen modernen Imperialismus gab. Und
wenn jemand behauptet, daß Deutschland Südwestafrika und Deutschostafrika
erworben habe, bevor es einen deutschen Imperialismus gegeben habe, so hat
er damit um so mehr recht, als der deutsche Imperialismus, wie ich schon er¬
wähnte, auch heute kaum in der Theorie existiert, geschweige denn in der Praxis.

Trotzdem hat eine Wandlung in den Anschauungen der Staatsmänner
und Nationalökonomen über Wert und Zweck der Kolonien erst stattgefunden
gleichzeitig mit dem Entstehen des Imperialismus. Das Manchestertum war
kein unbedingter Freund von Kolonien, und auch wo es für den Erwerb von
Kolonien eintrat, geschah dies nur von sehr einseitigen Gesichtspunkten aus.
Maßgebend für seine Stellungnahme war lediglich der rein wirtschaftliche, gelb¬
liche Nutzen, den das Mutterland aus ihnen zog. Kolonien, die Zuschüsse
forderten, erschienen unerwünscht, und es ist häufiger vorgekommen, daß eng¬
lische Staatsmänner seinerzeit die Abstoßung so unrentabler Vermögensobjekte
erwogen. Von einer kulturellen Durchdringung solcher ausländischen Wirtschafts¬
gebiete, von ihrem näheren Anschluß an das Mutterland, von der Schaffung
von Siedlungsmöglichkeiten, von all diesen Gesichtspunkten, die heute die Er¬
schließung einer Kolonie auch materiellen Opfern zum Trotz geboten erscheinen
lassen, war in jenen Zeiten vollends nicht die Rede.

Die Folgen dieser manchesterlichen Auffassung zeigten sich denn auch darin,
daß Neuerwerbungen von Kolonien nur selten vorkamen, und die Ausbildung
und Festigung bestehender Kolonialreiche, wie des englischen, vernachlässigt
wurde. Man denke nur an Gladstone und die wahrhaft kindliche Art, in der
der Zranä via man Kolonialpolitik trieb. Es ist bekannt, daß er das Angebot,
ihm den wundervollen Hafen von Delagoa-Bay für 300 000 Pfund zu ver¬
kaufen, ausschlug! Mit welcher Ungeschicklichkeit die ägyptischen Angelegenheiten
geführt wurden, wie die damaligen englischen Staatsmänner in jeden Schritt
in dem ägyptischen Abenteuer sich von den Ereignissen hineinstoßen ließen, das
kann man in Cromers "IVWäern kZZ^pe" nachlesen. So ist die Klage mancher
Engländer, die auch in einem lesenswerten Artikel von Sidney Low in dem Juliheft
der Fortnightly Review 1913 wiederholt wird, daß das englische Weltreich
"in a lit c"f absence ok mira" -- in einem Anfall von Geistesabwesenheit
zustande gekommen sei, nicht unberechtigt.

Das alles hat sich erst in diesen letzten dreißig Jahren geändert, seit der
erste Vertreter des modernen Imperialismus, Disraeli, eine dem Manchestertum
so ganz entgegengesetzte Kolonialpolitik trieb -- eine Kolonialpolitik, die eben
aus dem Imperialismus heraus folgt und nur aus seinen politischen, wirt¬
schaftlichen, kolonialen Anschauungen heraus erklärlich ist.


Imperialismus, Sozialismus und anderes

solches Hinübergreifen des modernen Staats in fremde Länder eine selbstver¬
ständliche Voraussetzung der Kolonialpolitik, aber daß Kolonialpolitik getrieben
werden soll — organisiert, bewußt, systematisch —>, das möchte ich für den
modernen Imperialismus in Anspruch nehmen. Gewiß sind zu allen Zeiten
Kolonien erworben worden, bevor es einen modernen Imperialismus gab. Und
wenn jemand behauptet, daß Deutschland Südwestafrika und Deutschostafrika
erworben habe, bevor es einen deutschen Imperialismus gegeben habe, so hat
er damit um so mehr recht, als der deutsche Imperialismus, wie ich schon er¬
wähnte, auch heute kaum in der Theorie existiert, geschweige denn in der Praxis.

Trotzdem hat eine Wandlung in den Anschauungen der Staatsmänner
und Nationalökonomen über Wert und Zweck der Kolonien erst stattgefunden
gleichzeitig mit dem Entstehen des Imperialismus. Das Manchestertum war
kein unbedingter Freund von Kolonien, und auch wo es für den Erwerb von
Kolonien eintrat, geschah dies nur von sehr einseitigen Gesichtspunkten aus.
Maßgebend für seine Stellungnahme war lediglich der rein wirtschaftliche, gelb¬
liche Nutzen, den das Mutterland aus ihnen zog. Kolonien, die Zuschüsse
forderten, erschienen unerwünscht, und es ist häufiger vorgekommen, daß eng¬
lische Staatsmänner seinerzeit die Abstoßung so unrentabler Vermögensobjekte
erwogen. Von einer kulturellen Durchdringung solcher ausländischen Wirtschafts¬
gebiete, von ihrem näheren Anschluß an das Mutterland, von der Schaffung
von Siedlungsmöglichkeiten, von all diesen Gesichtspunkten, die heute die Er¬
schließung einer Kolonie auch materiellen Opfern zum Trotz geboten erscheinen
lassen, war in jenen Zeiten vollends nicht die Rede.

Die Folgen dieser manchesterlichen Auffassung zeigten sich denn auch darin,
daß Neuerwerbungen von Kolonien nur selten vorkamen, und die Ausbildung
und Festigung bestehender Kolonialreiche, wie des englischen, vernachlässigt
wurde. Man denke nur an Gladstone und die wahrhaft kindliche Art, in der
der Zranä via man Kolonialpolitik trieb. Es ist bekannt, daß er das Angebot,
ihm den wundervollen Hafen von Delagoa-Bay für 300 000 Pfund zu ver¬
kaufen, ausschlug! Mit welcher Ungeschicklichkeit die ägyptischen Angelegenheiten
geführt wurden, wie die damaligen englischen Staatsmänner in jeden Schritt
in dem ägyptischen Abenteuer sich von den Ereignissen hineinstoßen ließen, das
kann man in Cromers „IVWäern kZZ^pe" nachlesen. So ist die Klage mancher
Engländer, die auch in einem lesenswerten Artikel von Sidney Low in dem Juliheft
der Fortnightly Review 1913 wiederholt wird, daß das englische Weltreich
„in a lit c»f absence ok mira" — in einem Anfall von Geistesabwesenheit
zustande gekommen sei, nicht unberechtigt.

Das alles hat sich erst in diesen letzten dreißig Jahren geändert, seit der
erste Vertreter des modernen Imperialismus, Disraeli, eine dem Manchestertum
so ganz entgegengesetzte Kolonialpolitik trieb — eine Kolonialpolitik, die eben
aus dem Imperialismus heraus folgt und nur aus seinen politischen, wirt¬
schaftlichen, kolonialen Anschauungen heraus erklärlich ist.


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[0496] Imperialismus, Sozialismus und anderes solches Hinübergreifen des modernen Staats in fremde Länder eine selbstver¬ ständliche Voraussetzung der Kolonialpolitik, aber daß Kolonialpolitik getrieben werden soll — organisiert, bewußt, systematisch —>, das möchte ich für den modernen Imperialismus in Anspruch nehmen. Gewiß sind zu allen Zeiten Kolonien erworben worden, bevor es einen modernen Imperialismus gab. Und wenn jemand behauptet, daß Deutschland Südwestafrika und Deutschostafrika erworben habe, bevor es einen deutschen Imperialismus gegeben habe, so hat er damit um so mehr recht, als der deutsche Imperialismus, wie ich schon er¬ wähnte, auch heute kaum in der Theorie existiert, geschweige denn in der Praxis. Trotzdem hat eine Wandlung in den Anschauungen der Staatsmänner und Nationalökonomen über Wert und Zweck der Kolonien erst stattgefunden gleichzeitig mit dem Entstehen des Imperialismus. Das Manchestertum war kein unbedingter Freund von Kolonien, und auch wo es für den Erwerb von Kolonien eintrat, geschah dies nur von sehr einseitigen Gesichtspunkten aus. Maßgebend für seine Stellungnahme war lediglich der rein wirtschaftliche, gelb¬ liche Nutzen, den das Mutterland aus ihnen zog. Kolonien, die Zuschüsse forderten, erschienen unerwünscht, und es ist häufiger vorgekommen, daß eng¬ lische Staatsmänner seinerzeit die Abstoßung so unrentabler Vermögensobjekte erwogen. Von einer kulturellen Durchdringung solcher ausländischen Wirtschafts¬ gebiete, von ihrem näheren Anschluß an das Mutterland, von der Schaffung von Siedlungsmöglichkeiten, von all diesen Gesichtspunkten, die heute die Er¬ schließung einer Kolonie auch materiellen Opfern zum Trotz geboten erscheinen lassen, war in jenen Zeiten vollends nicht die Rede. Die Folgen dieser manchesterlichen Auffassung zeigten sich denn auch darin, daß Neuerwerbungen von Kolonien nur selten vorkamen, und die Ausbildung und Festigung bestehender Kolonialreiche, wie des englischen, vernachlässigt wurde. Man denke nur an Gladstone und die wahrhaft kindliche Art, in der der Zranä via man Kolonialpolitik trieb. Es ist bekannt, daß er das Angebot, ihm den wundervollen Hafen von Delagoa-Bay für 300 000 Pfund zu ver¬ kaufen, ausschlug! Mit welcher Ungeschicklichkeit die ägyptischen Angelegenheiten geführt wurden, wie die damaligen englischen Staatsmänner in jeden Schritt in dem ägyptischen Abenteuer sich von den Ereignissen hineinstoßen ließen, das kann man in Cromers „IVWäern kZZ^pe" nachlesen. So ist die Klage mancher Engländer, die auch in einem lesenswerten Artikel von Sidney Low in dem Juliheft der Fortnightly Review 1913 wiederholt wird, daß das englische Weltreich „in a lit c»f absence ok mira" — in einem Anfall von Geistesabwesenheit zustande gekommen sei, nicht unberechtigt. Das alles hat sich erst in diesen letzten dreißig Jahren geändert, seit der erste Vertreter des modernen Imperialismus, Disraeli, eine dem Manchestertum so ganz entgegengesetzte Kolonialpolitik trieb — eine Kolonialpolitik, die eben aus dem Imperialismus heraus folgt und nur aus seinen politischen, wirt¬ schaftlichen, kolonialen Anschauungen heraus erklärlich ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/496>, abgerufen am 24.08.2024.