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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Politik der Rangordnung

Man empfindet es wohl als letzten Sinn einer Rangordnung und als tiefste
Gerechtigkeit, daß die Gesellschaft nach dem Können und der angeborenen Be¬
gabung sich aufbaue und daß die Spitze dieser Pyramide das Genie einnehme.
Allein die Abschätzung des Könnens ist eine Aufgabe, die ein für allemal jen¬
seits des Menschlichen liegt. Schon die rechte Beurteilung der Leistung gelingt
uns nicht; wir schätzen nur gewisse, herkömmliche, nach ihrem Werte leicht
begreifbare Leistungen, während das Außergewöhnliche, das eigentlich Geniale
erst spät erkannt wird. Alle wohlgemeinten Institute mit den Aufgaben des
Mäzens, alle mit so rührendem Vertrauen gegründeten Kleiststiftungen werden
nicht verhindern, daß schließlich -- wenn so und so viele Talente unterstützt,
ermutigt, erhoben worden sind -- das eigentliche Genie sich entweder selbst seine
Bahn gebrochen hat oder im stillen verhungert istl Und dabei ist die Beurteilung
eines Menschen nach seiner Leistung schon an sich eine Ungerechtigkeit und
kommt einer Schätzung nach dem Erfolg durchaus gleich; denn daß das an¬
geborene Können nicht genügt, daß es nur ein Keim ist, der, wenn er aufgehen
soll, des fruchtbaren Bodens, guten Wetters und sorgfältiger Pflege bedarf, das
ist zwar oft erlebt, als ein geistesgeschichtliches Gesetz aber wohl noch nicht
genügend erkannt. Angenommen aber, man fände das Metroskop, das die
Genialität anzeigt, so ist die Rangordnung des Könnens noch nicht gegründet.
Dem Genie gebührt der Rang der Könige in der Welt des Nachruhms, darum
aber nicht auch in der wirklichen Welt. Man ist Genie vermöge einer geistigen
Exzentrizität, einer Hypertrophie, einer fast krankhaften Einseitigkeit des Inter¬
esses. Das sind keine Eigenschaften, um diese Welt zu lenken, als welche Aus¬
geglichenheit, Allgegenwart des Interesses fordert oder, wie Schopenhauer sich
ausdrückt, einen Intellekt, der ganz im Dienste des Willens steht. So gewiß
wir also das Genie als die Spitze der menschlichen Pyramide ansehen, nach
Nietzsche sogar als Ziel und Sinn alles Seins und Lebens, so gewiß ist es
nicht zugleich auch imstande, von einer Realpolitik der Rangordnung aus den
ersten Platz gestellt zu werden.

Allein auch mit Wissen und Können und etwa noch der körperlichen Wohl¬
gestalt und Leistungsfähigkeit ist der Wert des Menschen noch nicht bestimmt;
denn jetzt kämen die ethischen Qualitäten und jene Imponderabilien, die von
der Umgebung und der Kinderstube herstammen. Bei sonst gleichen Qualitäten
ist der Sproß eines guten Hauses eben wertvoller als der des Proletariers;
darüber hilft alle Humanität nicht hinweg. Das von Kindheit auf gesehene
Beispiel, die anerzogene und vielleicht auch ererbte Disziplinierung und tausend
andere Dinge wirken dahin, daß jener diesem von vornherein überlegen ist. Es
wird also, bei sonst gleicher Beanlagung, etwa in der militärischen Karriere der
Sohn eines Offiziers vor dem Sohn des Kaufmanns den Vorzug nicht nur
zu verdienen scheinen, sondern wirklich verdienen. So hat auch im Gelehrten¬
berufe der Abkömmling einer Professorenfamilie einen Vorsprung vor dem, der
neu in den Kreis eintritt, und es ist kein Zufall, daß es immer wieder Pastoren-


Politik der Rangordnung

Man empfindet es wohl als letzten Sinn einer Rangordnung und als tiefste
Gerechtigkeit, daß die Gesellschaft nach dem Können und der angeborenen Be¬
gabung sich aufbaue und daß die Spitze dieser Pyramide das Genie einnehme.
Allein die Abschätzung des Könnens ist eine Aufgabe, die ein für allemal jen¬
seits des Menschlichen liegt. Schon die rechte Beurteilung der Leistung gelingt
uns nicht; wir schätzen nur gewisse, herkömmliche, nach ihrem Werte leicht
begreifbare Leistungen, während das Außergewöhnliche, das eigentlich Geniale
erst spät erkannt wird. Alle wohlgemeinten Institute mit den Aufgaben des
Mäzens, alle mit so rührendem Vertrauen gegründeten Kleiststiftungen werden
nicht verhindern, daß schließlich — wenn so und so viele Talente unterstützt,
ermutigt, erhoben worden sind — das eigentliche Genie sich entweder selbst seine
Bahn gebrochen hat oder im stillen verhungert istl Und dabei ist die Beurteilung
eines Menschen nach seiner Leistung schon an sich eine Ungerechtigkeit und
kommt einer Schätzung nach dem Erfolg durchaus gleich; denn daß das an¬
geborene Können nicht genügt, daß es nur ein Keim ist, der, wenn er aufgehen
soll, des fruchtbaren Bodens, guten Wetters und sorgfältiger Pflege bedarf, das
ist zwar oft erlebt, als ein geistesgeschichtliches Gesetz aber wohl noch nicht
genügend erkannt. Angenommen aber, man fände das Metroskop, das die
Genialität anzeigt, so ist die Rangordnung des Könnens noch nicht gegründet.
Dem Genie gebührt der Rang der Könige in der Welt des Nachruhms, darum
aber nicht auch in der wirklichen Welt. Man ist Genie vermöge einer geistigen
Exzentrizität, einer Hypertrophie, einer fast krankhaften Einseitigkeit des Inter¬
esses. Das sind keine Eigenschaften, um diese Welt zu lenken, als welche Aus¬
geglichenheit, Allgegenwart des Interesses fordert oder, wie Schopenhauer sich
ausdrückt, einen Intellekt, der ganz im Dienste des Willens steht. So gewiß
wir also das Genie als die Spitze der menschlichen Pyramide ansehen, nach
Nietzsche sogar als Ziel und Sinn alles Seins und Lebens, so gewiß ist es
nicht zugleich auch imstande, von einer Realpolitik der Rangordnung aus den
ersten Platz gestellt zu werden.

Allein auch mit Wissen und Können und etwa noch der körperlichen Wohl¬
gestalt und Leistungsfähigkeit ist der Wert des Menschen noch nicht bestimmt;
denn jetzt kämen die ethischen Qualitäten und jene Imponderabilien, die von
der Umgebung und der Kinderstube herstammen. Bei sonst gleichen Qualitäten
ist der Sproß eines guten Hauses eben wertvoller als der des Proletariers;
darüber hilft alle Humanität nicht hinweg. Das von Kindheit auf gesehene
Beispiel, die anerzogene und vielleicht auch ererbte Disziplinierung und tausend
andere Dinge wirken dahin, daß jener diesem von vornherein überlegen ist. Es
wird also, bei sonst gleicher Beanlagung, etwa in der militärischen Karriere der
Sohn eines Offiziers vor dem Sohn des Kaufmanns den Vorzug nicht nur
zu verdienen scheinen, sondern wirklich verdienen. So hat auch im Gelehrten¬
berufe der Abkömmling einer Professorenfamilie einen Vorsprung vor dem, der
neu in den Kreis eintritt, und es ist kein Zufall, daß es immer wieder Pastoren-


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[0410] Politik der Rangordnung Man empfindet es wohl als letzten Sinn einer Rangordnung und als tiefste Gerechtigkeit, daß die Gesellschaft nach dem Können und der angeborenen Be¬ gabung sich aufbaue und daß die Spitze dieser Pyramide das Genie einnehme. Allein die Abschätzung des Könnens ist eine Aufgabe, die ein für allemal jen¬ seits des Menschlichen liegt. Schon die rechte Beurteilung der Leistung gelingt uns nicht; wir schätzen nur gewisse, herkömmliche, nach ihrem Werte leicht begreifbare Leistungen, während das Außergewöhnliche, das eigentlich Geniale erst spät erkannt wird. Alle wohlgemeinten Institute mit den Aufgaben des Mäzens, alle mit so rührendem Vertrauen gegründeten Kleiststiftungen werden nicht verhindern, daß schließlich — wenn so und so viele Talente unterstützt, ermutigt, erhoben worden sind — das eigentliche Genie sich entweder selbst seine Bahn gebrochen hat oder im stillen verhungert istl Und dabei ist die Beurteilung eines Menschen nach seiner Leistung schon an sich eine Ungerechtigkeit und kommt einer Schätzung nach dem Erfolg durchaus gleich; denn daß das an¬ geborene Können nicht genügt, daß es nur ein Keim ist, der, wenn er aufgehen soll, des fruchtbaren Bodens, guten Wetters und sorgfältiger Pflege bedarf, das ist zwar oft erlebt, als ein geistesgeschichtliches Gesetz aber wohl noch nicht genügend erkannt. Angenommen aber, man fände das Metroskop, das die Genialität anzeigt, so ist die Rangordnung des Könnens noch nicht gegründet. Dem Genie gebührt der Rang der Könige in der Welt des Nachruhms, darum aber nicht auch in der wirklichen Welt. Man ist Genie vermöge einer geistigen Exzentrizität, einer Hypertrophie, einer fast krankhaften Einseitigkeit des Inter¬ esses. Das sind keine Eigenschaften, um diese Welt zu lenken, als welche Aus¬ geglichenheit, Allgegenwart des Interesses fordert oder, wie Schopenhauer sich ausdrückt, einen Intellekt, der ganz im Dienste des Willens steht. So gewiß wir also das Genie als die Spitze der menschlichen Pyramide ansehen, nach Nietzsche sogar als Ziel und Sinn alles Seins und Lebens, so gewiß ist es nicht zugleich auch imstande, von einer Realpolitik der Rangordnung aus den ersten Platz gestellt zu werden. Allein auch mit Wissen und Können und etwa noch der körperlichen Wohl¬ gestalt und Leistungsfähigkeit ist der Wert des Menschen noch nicht bestimmt; denn jetzt kämen die ethischen Qualitäten und jene Imponderabilien, die von der Umgebung und der Kinderstube herstammen. Bei sonst gleichen Qualitäten ist der Sproß eines guten Hauses eben wertvoller als der des Proletariers; darüber hilft alle Humanität nicht hinweg. Das von Kindheit auf gesehene Beispiel, die anerzogene und vielleicht auch ererbte Disziplinierung und tausend andere Dinge wirken dahin, daß jener diesem von vornherein überlegen ist. Es wird also, bei sonst gleicher Beanlagung, etwa in der militärischen Karriere der Sohn eines Offiziers vor dem Sohn des Kaufmanns den Vorzug nicht nur zu verdienen scheinen, sondern wirklich verdienen. So hat auch im Gelehrten¬ berufe der Abkömmling einer Professorenfamilie einen Vorsprung vor dem, der neu in den Kreis eintritt, und es ist kein Zufall, daß es immer wieder Pastoren-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/410>, abgerufen am 22.07.2024.