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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Politik der Rangordnung

umsonst ihren Schiller gelesen und mühten sich voll Idealismus, seine Lehre in
die Praxis des politischen Lebens umzusetzen.

Nun ist es zwar nicht zweifelhaft, daß der heutige Liberalismus mit diesen
Kämpfern und Pionieren nicht mehr viel gemein hat; deswegen sind doch aber
jene Tapferen selbst nicht ausgestorben. Wenn man ihr Programm auf die
einfachste Formel bringt, nämlich: die Welt auf die nächsthöhere Stufe zu
stellen und nach diesem Ziel die Politik zu orientieren, so hat es Leute mit
solchem Willen gewiß immer gegeben und gibt es noch heute. Indes, wo sind
sie und zu welcher Partei gehören sie? Ich glaube, sie sind noch immer unter
den Liberalen zu suchen, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil dieser all¬
gemeine Wille zur Weltverbesserung bis zu einem gewissen Grade eine soziale
Erscheinung ist, nämlich die Abwesenheit eines Sehr-Hoch und Sehr-tief im
Lebensniveau voraussetzt; zweitens aber, weil für die, die den Fortschritt
wollen, zwar der Liberalismus längst nicht mehr den Ausdruck ihrer Gesinnung
bildet, aber die neue Gesinnung noch nicht politisch formuliert worden ist.
Allenfalls könnten sie sich zur Sozialdemokratie gesellen, und das haben die
Intellektuellen der achtziger Jahre auch getan, nicht als Notleidende, sondern
als Idealisten und Weltverbesserer. Allein inzwischen ist die Sozialdemokratie
aus einem Programm zu einer realen politischen Macht geworden, aus einem
Tummelplatz für Ideologen und spekulierende Schwärmer zum Werkzeug ziel¬
bewußter Männer der Tat, und endlich ist die theoretische Grundlage des
Sozialismus wie des Liberalismus, nämlich die ursprüngliche Gleichheit der
Menschennatur, nicht mehr der Glaube der heutigen Intelligenz.

Die Sache liegt demnach so, daß es gegenwärtig keine Partei und kein
politisches Programm gibt (von dem selbstverständlichen der allgemeinen Wohl¬
fahrt unseres Vaterlandes abgesehen), denen sich die heutigen "Fortschrittler"
oder, mit einem Worte, denen wir uns anschließen könnten. Wir sind dazu
verurteilt, Mitläufer oder Draußensteher zu sein und sehen denn ja in der
Tat dem parlamentarischen Leben, allwo sich der Kampf nackter materieller
Interessen mit einer gewissen Naivität abspielt, ziemlich verwundert und
hilflos zu.

Welches ist denn nun aber für uns die neue allgemeine Lebens' und
Menschenanschauung, aus der sich unser politisches Programm entwickeln könnte,
in derselben Weise, wie Liberalismus (und bis zu einem gewissen Grade
auch Sozialismus) aus den großen Gleichheitstheorien des achtzehnten Jahr¬
hunderts entstanden war?

Diese neue theoretische Grundlage ist, im Gegensatz zu den liberalen
Lehren, die Überzeugung von der natürlichen und kulturellen Ungleichheit der
Menschen, also auch von ihrer ursprünglichen Wertverschiedenheit, oder, mit
den Worten Nietzsches, die Lehre von der Rangordnung als der Grundlage
aller Kultur und von der Schädlichkeit der Gleichmacherei. Sie ist so sehr der
Ausdruck unserer innersten Überzeugung, ja geradezu unseres Lebensgefühls,


Politik der Rangordnung

umsonst ihren Schiller gelesen und mühten sich voll Idealismus, seine Lehre in
die Praxis des politischen Lebens umzusetzen.

Nun ist es zwar nicht zweifelhaft, daß der heutige Liberalismus mit diesen
Kämpfern und Pionieren nicht mehr viel gemein hat; deswegen sind doch aber
jene Tapferen selbst nicht ausgestorben. Wenn man ihr Programm auf die
einfachste Formel bringt, nämlich: die Welt auf die nächsthöhere Stufe zu
stellen und nach diesem Ziel die Politik zu orientieren, so hat es Leute mit
solchem Willen gewiß immer gegeben und gibt es noch heute. Indes, wo sind
sie und zu welcher Partei gehören sie? Ich glaube, sie sind noch immer unter
den Liberalen zu suchen, und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil dieser all¬
gemeine Wille zur Weltverbesserung bis zu einem gewissen Grade eine soziale
Erscheinung ist, nämlich die Abwesenheit eines Sehr-Hoch und Sehr-tief im
Lebensniveau voraussetzt; zweitens aber, weil für die, die den Fortschritt
wollen, zwar der Liberalismus längst nicht mehr den Ausdruck ihrer Gesinnung
bildet, aber die neue Gesinnung noch nicht politisch formuliert worden ist.
Allenfalls könnten sie sich zur Sozialdemokratie gesellen, und das haben die
Intellektuellen der achtziger Jahre auch getan, nicht als Notleidende, sondern
als Idealisten und Weltverbesserer. Allein inzwischen ist die Sozialdemokratie
aus einem Programm zu einer realen politischen Macht geworden, aus einem
Tummelplatz für Ideologen und spekulierende Schwärmer zum Werkzeug ziel¬
bewußter Männer der Tat, und endlich ist die theoretische Grundlage des
Sozialismus wie des Liberalismus, nämlich die ursprüngliche Gleichheit der
Menschennatur, nicht mehr der Glaube der heutigen Intelligenz.

Die Sache liegt demnach so, daß es gegenwärtig keine Partei und kein
politisches Programm gibt (von dem selbstverständlichen der allgemeinen Wohl¬
fahrt unseres Vaterlandes abgesehen), denen sich die heutigen „Fortschrittler"
oder, mit einem Worte, denen wir uns anschließen könnten. Wir sind dazu
verurteilt, Mitläufer oder Draußensteher zu sein und sehen denn ja in der
Tat dem parlamentarischen Leben, allwo sich der Kampf nackter materieller
Interessen mit einer gewissen Naivität abspielt, ziemlich verwundert und
hilflos zu.

Welches ist denn nun aber für uns die neue allgemeine Lebens' und
Menschenanschauung, aus der sich unser politisches Programm entwickeln könnte,
in derselben Weise, wie Liberalismus (und bis zu einem gewissen Grade
auch Sozialismus) aus den großen Gleichheitstheorien des achtzehnten Jahr¬
hunderts entstanden war?

Diese neue theoretische Grundlage ist, im Gegensatz zu den liberalen
Lehren, die Überzeugung von der natürlichen und kulturellen Ungleichheit der
Menschen, also auch von ihrer ursprünglichen Wertverschiedenheit, oder, mit
den Worten Nietzsches, die Lehre von der Rangordnung als der Grundlage
aller Kultur und von der Schädlichkeit der Gleichmacherei. Sie ist so sehr der
Ausdruck unserer innersten Überzeugung, ja geradezu unseres Lebensgefühls,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/407>, abgerufen am 22.07.2024.