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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Politik der Rangordnung

die Gegenfrage auf: Warum bist du überzeugt? Man kann aus sehr verschiedenen
Gründen und zu sehr verschiedenen Zwecken überzeugt sein, auch wenn einem
Gründe und Zwecke nicht zum Bewußtsein kommen.

Was nun die liberale Seele betrifft, so sind ihre heimlichen Triebfedern
sehr leicht aufzudecken. Liberal ist man, wenn man weder so hoch steht, daß
man seine Position um jeden Preis behaupten will, noch so tief, daß man mit
Einsatz seines Lebens nach oben drängt. Liberal sind die Behaglichen, die
Zufriedenen, diejenigen, denen es leicht wird, liberal zu sein und den Extremen
auszuweichen; liberal sind diejenigen, die in der Mitte stehen, die Bürger.
Sagen wir ruhig: die Mittelmäßigen; denn die exzentrischen Begabungen, auch
aus der bürgerlichen Herkunft, sind nicht liberal. Oder will man Wagner,
Ibsen, Nietzsche liberal nennen? Vielleicht darf man es heute schon, da sie sich
bereits der Klassizität nähern und da ihre Gefährlichkeit in allgemeine Bildung
zu verdampfen beginnt. Es läßt sich das Naturgesetz formulieren: Jeder hat
diejenige politische Gesinnung, bei welcher seine soziale Schicht ein Maximum von
Macht erwarten darf. Analysiert man den Liberalismus, so wird man leicht
entdecken, daß er genau dasjenige politische Programm enthält, bei dessen Ver¬
wirklichung die bürgerliche Mittelschicht ihr Maximum von Macht erreicht. Denn
was ist Liberalismus?

In ihm steckt der alte Dreibund: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sobald
aus dieser Formel alles Gewaltsame, Blutdürstige, Gefährliche, kurz die Revo¬
lution sorgfältig ausgeschieden wird. Man kann ihn auch mit dem Oberlehrer¬
ideal des Wahren, Guten, Schönen umschreiben oder mit dem Glauben an den
Fortschritt der Menschheit und an die absolute Vernünftigkeit des Daseins. Was
heute im Liberalismus fortlebt, ist die alte Weltanschauung der Humanität, die
einmal sehr neu, sehr gefährlich, sehr revolutionär war. Ein so unliberaler
Mensch wie Rousseau zum Beispiel war ihr Verfechter und die französische
Revolution der Versuch, sie ins Leben umzusetzen. Auch als unsere Klassiker
dafür stritten, war dieses Ideal keineswegs klassisch im Sinne heutiger Schul-
reglements, sondern höchst unzeitgemäß und des Modernismus verdächtig.

Wie kommt nun die bürgerliche Mittelschicht dazu, ihre politische Über-
Zeugung auf diese alte Weltanschauung zu gründen? Erstens natürlich, weil sie
alt ist. aber noch nicht veraltet scheint, sogar als unsterblich gilt, indem sie die
Sanktion unserer Klassiker ein für allemal genießt. Zweitens aber, weil sie
eine sehr angenehme Konsequenz hat, die nämlich, daß zwischen Mensch und
Mensch keine natürlichen, durch Stand und soziale Schicht gesetzten Schranken
bestehen, vielmehr "alle Menschen gleichgeboren ein adelig Geschlecht" sind. Und
was hat der ehrliche Bürger von dieser Folgerung?

An diesem Punkt läßt der Liberalismus sich höchst unbefangen auf den Zahn fühlen
und verrät dabei auf das deutlichste, daß auch er nichts ist als Wille zur Macht.

Als der mittlere Bürger die Lehre von der Gleichheit der Menschen und
Menschenrechte annektierte, da meinte er natürlich zunächst keineswegs, daß er


Politik der Rangordnung

die Gegenfrage auf: Warum bist du überzeugt? Man kann aus sehr verschiedenen
Gründen und zu sehr verschiedenen Zwecken überzeugt sein, auch wenn einem
Gründe und Zwecke nicht zum Bewußtsein kommen.

Was nun die liberale Seele betrifft, so sind ihre heimlichen Triebfedern
sehr leicht aufzudecken. Liberal ist man, wenn man weder so hoch steht, daß
man seine Position um jeden Preis behaupten will, noch so tief, daß man mit
Einsatz seines Lebens nach oben drängt. Liberal sind die Behaglichen, die
Zufriedenen, diejenigen, denen es leicht wird, liberal zu sein und den Extremen
auszuweichen; liberal sind diejenigen, die in der Mitte stehen, die Bürger.
Sagen wir ruhig: die Mittelmäßigen; denn die exzentrischen Begabungen, auch
aus der bürgerlichen Herkunft, sind nicht liberal. Oder will man Wagner,
Ibsen, Nietzsche liberal nennen? Vielleicht darf man es heute schon, da sie sich
bereits der Klassizität nähern und da ihre Gefährlichkeit in allgemeine Bildung
zu verdampfen beginnt. Es läßt sich das Naturgesetz formulieren: Jeder hat
diejenige politische Gesinnung, bei welcher seine soziale Schicht ein Maximum von
Macht erwarten darf. Analysiert man den Liberalismus, so wird man leicht
entdecken, daß er genau dasjenige politische Programm enthält, bei dessen Ver¬
wirklichung die bürgerliche Mittelschicht ihr Maximum von Macht erreicht. Denn
was ist Liberalismus?

In ihm steckt der alte Dreibund: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sobald
aus dieser Formel alles Gewaltsame, Blutdürstige, Gefährliche, kurz die Revo¬
lution sorgfältig ausgeschieden wird. Man kann ihn auch mit dem Oberlehrer¬
ideal des Wahren, Guten, Schönen umschreiben oder mit dem Glauben an den
Fortschritt der Menschheit und an die absolute Vernünftigkeit des Daseins. Was
heute im Liberalismus fortlebt, ist die alte Weltanschauung der Humanität, die
einmal sehr neu, sehr gefährlich, sehr revolutionär war. Ein so unliberaler
Mensch wie Rousseau zum Beispiel war ihr Verfechter und die französische
Revolution der Versuch, sie ins Leben umzusetzen. Auch als unsere Klassiker
dafür stritten, war dieses Ideal keineswegs klassisch im Sinne heutiger Schul-
reglements, sondern höchst unzeitgemäß und des Modernismus verdächtig.

Wie kommt nun die bürgerliche Mittelschicht dazu, ihre politische Über-
Zeugung auf diese alte Weltanschauung zu gründen? Erstens natürlich, weil sie
alt ist. aber noch nicht veraltet scheint, sogar als unsterblich gilt, indem sie die
Sanktion unserer Klassiker ein für allemal genießt. Zweitens aber, weil sie
eine sehr angenehme Konsequenz hat, die nämlich, daß zwischen Mensch und
Mensch keine natürlichen, durch Stand und soziale Schicht gesetzten Schranken
bestehen, vielmehr „alle Menschen gleichgeboren ein adelig Geschlecht" sind. Und
was hat der ehrliche Bürger von dieser Folgerung?

An diesem Punkt läßt der Liberalismus sich höchst unbefangen auf den Zahn fühlen
und verrät dabei auf das deutlichste, daß auch er nichts ist als Wille zur Macht.

Als der mittlere Bürger die Lehre von der Gleichheit der Menschen und
Menschenrechte annektierte, da meinte er natürlich zunächst keineswegs, daß er


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[0405] Politik der Rangordnung die Gegenfrage auf: Warum bist du überzeugt? Man kann aus sehr verschiedenen Gründen und zu sehr verschiedenen Zwecken überzeugt sein, auch wenn einem Gründe und Zwecke nicht zum Bewußtsein kommen. Was nun die liberale Seele betrifft, so sind ihre heimlichen Triebfedern sehr leicht aufzudecken. Liberal ist man, wenn man weder so hoch steht, daß man seine Position um jeden Preis behaupten will, noch so tief, daß man mit Einsatz seines Lebens nach oben drängt. Liberal sind die Behaglichen, die Zufriedenen, diejenigen, denen es leicht wird, liberal zu sein und den Extremen auszuweichen; liberal sind diejenigen, die in der Mitte stehen, die Bürger. Sagen wir ruhig: die Mittelmäßigen; denn die exzentrischen Begabungen, auch aus der bürgerlichen Herkunft, sind nicht liberal. Oder will man Wagner, Ibsen, Nietzsche liberal nennen? Vielleicht darf man es heute schon, da sie sich bereits der Klassizität nähern und da ihre Gefährlichkeit in allgemeine Bildung zu verdampfen beginnt. Es läßt sich das Naturgesetz formulieren: Jeder hat diejenige politische Gesinnung, bei welcher seine soziale Schicht ein Maximum von Macht erwarten darf. Analysiert man den Liberalismus, so wird man leicht entdecken, daß er genau dasjenige politische Programm enthält, bei dessen Ver¬ wirklichung die bürgerliche Mittelschicht ihr Maximum von Macht erreicht. Denn was ist Liberalismus? In ihm steckt der alte Dreibund: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sobald aus dieser Formel alles Gewaltsame, Blutdürstige, Gefährliche, kurz die Revo¬ lution sorgfältig ausgeschieden wird. Man kann ihn auch mit dem Oberlehrer¬ ideal des Wahren, Guten, Schönen umschreiben oder mit dem Glauben an den Fortschritt der Menschheit und an die absolute Vernünftigkeit des Daseins. Was heute im Liberalismus fortlebt, ist die alte Weltanschauung der Humanität, die einmal sehr neu, sehr gefährlich, sehr revolutionär war. Ein so unliberaler Mensch wie Rousseau zum Beispiel war ihr Verfechter und die französische Revolution der Versuch, sie ins Leben umzusetzen. Auch als unsere Klassiker dafür stritten, war dieses Ideal keineswegs klassisch im Sinne heutiger Schul- reglements, sondern höchst unzeitgemäß und des Modernismus verdächtig. Wie kommt nun die bürgerliche Mittelschicht dazu, ihre politische Über- Zeugung auf diese alte Weltanschauung zu gründen? Erstens natürlich, weil sie alt ist. aber noch nicht veraltet scheint, sogar als unsterblich gilt, indem sie die Sanktion unserer Klassiker ein für allemal genießt. Zweitens aber, weil sie eine sehr angenehme Konsequenz hat, die nämlich, daß zwischen Mensch und Mensch keine natürlichen, durch Stand und soziale Schicht gesetzten Schranken bestehen, vielmehr „alle Menschen gleichgeboren ein adelig Geschlecht" sind. Und was hat der ehrliche Bürger von dieser Folgerung? An diesem Punkt läßt der Liberalismus sich höchst unbefangen auf den Zahn fühlen und verrät dabei auf das deutlichste, daß auch er nichts ist als Wille zur Macht. Als der mittlere Bürger die Lehre von der Gleichheit der Menschen und Menschenrechte annektierte, da meinte er natürlich zunächst keineswegs, daß er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/405>, abgerufen am 22.07.2024.